Die Kleinstadt Nordhausen im Südharz zeigt sich an diesem Donnerstagmorgen von ihrer malerischen Seite, mit ihren geschäftigen Straßen, welche durch die Altstadt führen und stadtauswärts in Richtung Norden in eine herbstlich anmutende Hügellandschaft münden. Ein friedliches Idyll, das jedoch abrupt mit dem Passieren des Schilds "KZ-Gedenkstätte Mittelbau Dora" und dem Geräusch der gepflasterten ehemaligen Lagerstraße an Arglosigkeit verliert – denn die Geschichte lastet schwer auf diesem Ort: Vor nicht einmal 80 Jahren mussten mehr als 60.000 Menschen hier, in der "Hölle von Dora", Zwangsarbeit für die deutsche Rüstungsindustrie leisten, deren Bedingungen ein Drittel von ihnen nicht überlebte. Als ein zentraler Ort der mitteldeutschen Erinnerungskultur bietet die Gedenkstätte heute ein Fundament für aktives Entstehen und Entwickeln von unabdingbarem Geschichtsbewusstsein.
Auf diesen, emotional nicht einfachen, Weg der Vergangenheitsbearbeitung begeben sich erstmalig 19 Studierende der Hochschule der Sächsischen Polizei (FH). In Kooperation mit der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) und der KZ-Gedenkstätte Mittelbau-Dora fand dort am 3. und 4. September 2020 ein Seminar statt, in dem sich die angehenden Kommissarinnen und Kommissare intensiv mit der Geschichte des Konzentrations- und Arbeitslagers, speziell mit Blick auf die Rolle der Polizei im Machtgefüge des Nationalsozialismus beschäftigten. Inhaltlich begleitet wurde der Besuch von den Mitarbeitern der Gedenkstätte – einer von ihnen ist Felix Roth, der sowohl Jugendliche als auch bereits Thüringer Polizistinnen und Polizisten durch das Seminar führte. Zum Einstieg fragte er, welche Gründe die Anwesenden zur Teilnahme bewegt hatten. Neben allgemeinem Interesse an Gedenkkultur und Geschichte war besonders die Rolle der Polizei im Nationalsozialismus und die kritische Reflexion ihrer Tätigkeit ein Thema, das die Studierenden bewegte. Eine der ersten Gruppenarbeiten befasste sich mit fotografischen Dokumentationen polizeilicher Arbeit von 1933 bis 1945. Es irritierten vor allem die Fotos von Deportationen und Exekutionen durch die Polizei – insbesondere da jeder der Anwesenden die heutige Polizeiarbeit mit vollkommen gegensätzlichen Zielen verbindet: Grundrechte gewährleisten, Sicherheit vermitteln, jedes Leben schützen.
Als sich die Studierenden mittels zeithistorischer kriminalpolizeilicher Dokumente auf die Spurensuche zweier Kriegsgefangener begaben, wurde das Ausmaß der polizeilichen Zuarbeit für das NS-Regime vollends deutlich: "Jeder, der in einem Konzentrationslager landete, ging vorher durch die Hände der Polizei" – ein Satz Felix Roths, der während der gemeinsamen Begehung des KZ-Geländes Mittelbau-Dora und darüber hinaus in den Köpfen nachhallte. Im Zuge des Seminars waren gemeinsame Diskussionen auf Augenhöhe ein wichtiger Bestandteil bei der Verarbeitung des Erfahrenen – für den mitgereisten Hochschulrektor Carsten Kaempf und Prof. Tom Thieme (Gesellschaftspolitische Bildung) ebenso wie für die Studierenden. Wie konnte es zu Verbrechen in dieser Größenordnung kommen? Warum war die Polizei in diesem Maße involviert? Hätten Beamte damals Optionen gehabt, anders zu handeln? Grundsatzfragen, die dabei stetige Begleiter waren. Der Grund, warum Bürgerinnen und Bürger heute überhaupt die Möglichkeit haben, diese Fragen zu stellen, zu besprechen und kritisch zu reflektieren, liegt in den Werten der Demokratie. Der Blick zurück, das Anerkennen der Opfer und das Lernen aus der Vergangenheit ist insbesondere für die Polizei als Inhaber des Gewaltmonopols ein essenzieller Prozess, der für gefährlichen Geschichtsrevisionismus keinen Platz bietet. Zum Abschluss des Seminars mahnte darum Rektor Carsten Kaempf: "Die Gedenkkultur und Auseinandersetzung mit der Polizei im Nationalsozialismus stellt eine wesentliche Voraussetzung dar, um den ethisch-moralischen Kompass unserer Beamten auszurichten und als Staatsbürger für die freiheitliche Demokratie einzustehen".