„Sechsmal Tschechien“ – ein Podcast, sechs Folgen, sechs Themen

Viele Menschen aus Sachsen waren schon mal in Tschechien, mögen Prag und die tschechische Küche. Aber was wissen wir über die politische und gesellschaftliche Lage im Nachbarland? 2022 stand Tschechien Dank der EU-Ratspräsidentschaft international im Rampenlicht. Sonst wird - außer bei Wahlen - in den deutschen Medien eher selten über den östlichen Nachbarn berichtet. Wer regiert aktuell in Tschechien, wie sieht die tschechische Medienlandschaft aus, wie ist es um die Rechtsstaatlichkeit bestellt? Wie diskutiert die Gesellschaft Themen wie Ehe für Alle, Klimawandel und Gleichstellung? Welchen Bezug zu Europa haben die Bürgerinnen und Bürger? Diese und weitere Fragen beantworten wir in unserer Podcastsreihe „Sechsmal Tschechien“. Hören Sie gern rein!

Der Podcast „Sechsmal Tschechien“ ist ein Kooperationsprojekt mit Radio Prague International.

Staffel 2

Folge 1: Frauenrechte und Gleichstellung

Tschechien ist der einzige aller vier Visegrád-Staaten, der bisher weder eine Premierministerin noch eine Staatspräsidentin hatte. Damit sind Polen, Ungarn und die Slowakei dem Land zumindest in dieser Hinsicht in puncto Gleichstellung voraus. Zudem gibt es hierzulande noch kein Gleichstellungsgesetz. Und als einziger der vier Visegrád-Partner hat bisher nur Polen die Istanbul-Konvention ratifiziert. Ist es in Tschechien also schlecht bestellt um die Gendergerechtigkeit? Diese Frage lässt sich auch für den hiesigen Arbeitsmarkt stellen, der Hürden für Frauen und besonders für Mütter bereithält. Wie wird in Tschechien also über Gender Pay Gap, Elternzeit, Genderquote oder auch einen besseren Schutz vor sexualisierter Gewalt diskutiert? Darum geht es in der ersten Folge der zweiten Staffel von „Sechsmal Tschechien“ zum Thema Gleichstellung und Frauenrechte, die Daniela Honigmann in Zusammenarbeit mit Ivo Vacík vorbereitet hat.

Der tschechische Arbeitsmarkt weist ein hohes Maß an geschlechtsspezifischer Segregation auf, und zwar sowohl in horizontaler (Aufteilung in „Männerberufe“ und „Frauenberufe“) als auch in vertikaler Richtung (geringer Anteil von Frauen in höheren Positionen). Hinsichtlich der Repräsentation von Frauen in Macht- und Entscheidungspositionen (nicht nur in der Wirtschaft) nimmt die Tschechische Republik nach dem Europäischen Gleichstellungsindex EIGE einen der letzten Plätze ein. Gründe dafür sind z.B. die stark geschlechtssegregierte Ausbildung (Schulen für Gesundheitsberufe haben einen hohen Frauenanteil, technische Schulen einen hohen Männeranteil) oder auch die extrem langen Mutterschutz- und Elternzeiten. Dadurch scheiden Frauen in der Regel für mehrere Jahre aus dem Erwerbsleben aus. Formal gibt es zwar die Möglichkeit einer kürzeren Elternzeit, aber aufgrund des niedrigen Lohnniveaus und der Tatsache, dass Betreuungsplätze für Kleinkinder zu teuer oder nicht in ausreichender Zahl vorhanden sind, können viele Mütter erst wieder in den Beruf einsteigen, wenn das jüngste Kind drei Jahre alt ist. Diese Tatsache benachteiligt Frauen bereits vor der Geburt von Kindern, vor allem in Bezug auf die Entlohnung (Gender Pay Gap), und sie können dies in der Regel bis zum Ende ihrer wirtschaftlich aktiven Zeit nicht mehr ausgleichen. Vor dem Eintritt in den Ruhestand kommt für die so genannte Sandwich-Generation noch die Pflege alternder Angehöriger hinzu. Aufgrund der fehlenden gesetzlichen Verankerung von Betreuungsleistungen und des Mangels an sozialen Dienstleistern führt dies in der Regel ebenfalls zu Prekarisierung, häufig zu Arbeitslosigkeit und Frühverrentung. Auf den Gender Pay Gap folgt also der Gender Pension Gap, und so ist es nicht verwunderlich, dass Seniorinnen eine der am stärksten von Armut bedrohten Gruppen in Tschechien sind.

Das Wahlrecht

Frauen haben in der heutigen Tschechischen Republik seit ihren Anfängen das Wahlrecht. Bereits in Österreich-Ungarn schlossen sich tschechische Frauen der Frauenwahlrechtsbewegung an. In der Tschechoslowakei erhielten die Frauen das Wahlrecht 1920 mit der Verabschiedung der Verfassung durch die tschechoslowakische Nationalversammlung. Dieses Recht war bereits 1918 in der Washingtoner Erklärung des ersten tschechoslowakischen Präsidenten Tomáš Garrigue Masaryk garantiert worden. Diese Entscheidung folgte der Wahlrechtsbewegung in Österreich-Ungarn, an der prominente tschechische Suffragetten wie Františka Plamínková, Marie Tůmová und Charlotta Garrigue Masaryk beteiligt waren.

Die tschechische Wahlrechtsbewegung war eng mit der nationalistischen Unabhängigkeitsbewegung verbunden. Obwohl das Wahlrecht erst in der Verfassung von 1920 gesetzlich verankert wurde, kandidierten Frauen bereits Anfang der 1920er Jahre bei tschechischen Wahlen. Božena Viková-Kunětická war 1912 die erste Frau, die ein gewähltes Amt errang.

Reproduktive Rechte und Familienleben

Abtreibung ist in der Tschechischen Republik bis zur 12. Schwangerschaftswoche legal. In diesem Zeitraum können tschechische Frauen auf Antrag abtreiben, und bis zur 24. Schwangerschaftswoche kann eine Abtreibung vorgenommen werden, um das Leben der Mutter zu retten oder in Fällen von Vergewaltigung oder Inzest. Die Mehrheit der tschechischen Bürgerinnen und Bürger (68 % im Mai 2019) ist der Ansicht, dass ein Schwangerschaftsabbruch auf Wunsch der Frau erlaubt sein sollte. Da das Recht auf Schwangerschaftsabbruch im benachbarten Polen ab 2021 stark eingeschränkt wird, haben tschechische Aktivistinnen die Organisation Ciocia Czesia gegründet, die polnischen Frauen hilft, in die Tschechische Republik zu reisen, um dort einen sicheren Schwangerschaftsabbruch vornehmen zu lassen.

Geburten in der Tschechischen Republik sind relativ sicher, die Mütter- und Säuglingssterblichkeit sind niedrig. Die Müttersterblichkeitsrate in der Tschechischen Republik liegt bei 3 Todesfällen/100.000 Lebendgeburten (Stand 2017) und die Säuglingssterblichkeitsrate bei 2,42 Todesfällen/1.000 Lebendgeburten, eine der niedrigsten der Welt. Die Gesamtfruchtbarkeitsrate (TFR) liegt bei 1,49 Lebendgeburten/Frau (Schätzung für 2021). Wie in vielen anderen europäischen Ländern ist die Familiengründung liberaler geworden. In den letzten Jahrzehnten hat die Zahl der nichtehelichen Lebensgemeinschaften zugenommen und der Zusammenhang zwischen Fertilität und Eheschließung abgenommen. 2017 wurden 49 % der Kinder in der Tschechischen Republik von unverheirateten Frauen geboren.

Gewalt gegen Frauen, Istanbul-Konvention

Die Liga für Menschenrechte und die Tschechische Frauenlobby setzen sich gemeinsam mit ihren Mitgliedsorganisationen (ProFem, Tschechische Frauenunion, Rosa) seit langem für die Annahme der Konvention ein. Auch der ehemalige Minister für Menschenrechte, Chancengleichheit und Gesetzgebung, Jiří Dienstbier, der im Januar 2016 die Petition von Amnesty International zur Annahme des Übereinkommens im Namen der Regierung annahm, unterstützt die Annahme des Übereinkommens seit langem. Die Tschechische Republik unterzeichnete den Vertrag schließlich (als eines der letzten EU-Länder) am 12. Mai 2016.

Die Ratifizierung des Vertrags sollte bis Mitte 2018 erfolgen, aber weder die erste noch die zweite Regierung von Andrej Babiš haben über die Ratifizierung verhandelt. Auch die Regierung von Petr Fiala verschob die Verhandlungen über die Ratifizierung des Übereinkommens laut Justizminister Pavel Blažek bis Ende Januar 2023. Im Mai 2023 forderte auch Präsident Petr Pavel die Ratifizierung des Übereinkommens. Im Juni 2023 stimmte die Regierung dann zu, den Prozess der Annahme der Konvention fortzusetzen. Die Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Klára Šimáčková Laurenčíková, erklärte, dass das Kabinett der Ratifizierung des Übereinkommens zugestimmt habe. Eine Abstimmung in der Abgeordnetenkammer wird für den Herbst 2023 erwartet, der Senat soll sich jedoch schon früher mit der Konvention befassen.

Bis Ende Juli 2023 gab der Verfassungsausschuss des Senats der Tschechischen Republik eine negative Empfehlung für die Ratifizierung ab, und die Empfehlungen des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und des Ausschusses für Angelegenheiten der Europäischen Union wurden noch nicht einmal entgegengenommen. Im September 2023 beriet der Verfassungsausschuss des Senats der Tschechischen Republik über das Übereinkommen, konnte jedoch nicht über die Empfehlung zur Ratifizierung abstimmen, da die Gegner, die in der Minderheit waren, den Sitzungssaal verließen. Im Januar 2024 scheiterte die Ratifizierung der Konvention im Plenum des Senats nur knapp, da zwei Stimmen fehlten. Die Mehrheit der Senatoren der Fraktion KDU-ČSL und der Unabhängigen stimmte gegen den Vertrag, während die Mitglieder der Fraktionen ANO und SOCDEM sowie der Fraktionen ODS und TOP 09 teils für die Ablehnung, teils für den Vertrag stimmten, während die Mehrheit der Senatoren der Fraktionen der Bürgermeisterpartei und SEN21 sowie der Piraten für den Vertrag stimmten. Neun Senatoren enthielten sich, zehn waren abwesend.

Eine neue Definition von Vergewaltigung - „Nein heißt Nein“ - wurde im Frühjahr 2024 vom Parlament verabschiedet.

Fast drei Fünftel der Frauen in der Tschechischen Republik sind in ihrem Leben Opfer irgendeiner Form von sexueller Gewalt geworden. Das geht aus einer repräsentativen Studie von proFem zu Häufigkeit und Folgen sexueller Gewalt hervor. Quelle

Teilnahme am Arbeitsmarkt

Viele tschechische Frauen gehen einer Vollzeitbeschäftigung nach und arbeiten gleichzeitig im privaten Sektor. Die Weltbank schätzt, dass die Beschäftigungsquote von Frauen ab 15 Jahren in der Tschechischen Republik im Jahr 2019 bei 52,81 % liegen wird. Die Tschechische Republik liegt bei der allgemeinen Gleichstellung der Geschlechter am Arbeitsplatz hinter anderen europäischen Ländern zurück. Die Geschlechtersegregation ist in der Tschechischen Republik nach wie vor weit verbreitet, und Frauen üben Berufe aus, die mit traditionellen Geschlechterrollen verbunden sind. Etwa 25 % der Frauen arbeiten im Bildungs-, Gesundheits- und Sozialwesen, gegenüber 5 % der Männer. Darüber hinaus ist die Vollzeitbeschäftigungsquote der Frauen mit 49 % deutlich niedriger als die der Männer mit 67 %.

Gender Pay Gap

In der Tschechischen Republik besteht ein erhebliches geschlechtsspezifisches Lohngefälle. Frauen verdienen in der Tschechischen Republik rund 18,9 % weniger als ihre männlichen Kollegen, womit die Tschechische Republik unter dem EU-Durchschnitt von 14,1 % liegt. Männer sind häufiger als Frauen in Führungspositionen am Arbeitsplatz vertreten, und in den Vorständen staatlicher Unternehmen sitzen etwa fünfmal so viele Männer wie Frauen. Elternschaft wird als Hauptursache für das geschlechtsspezifische Lohngefälle in der Tschechischen Republik angesehen. In der Tschechischen Republik müssen Mütter nach der Geburt eines Kindes mindestens 28 Wochen bezahlten Elternurlaub nehmen. Bei Zwillingen oder Mehrlingen verlängert sich dieser Zeitraum auf 37 Wochen. Frauen sind verpflichtet, den Mutterschaftsurlaub 6, höchstens jedoch 8 Wochen vor dem errechneten Geburtstermin zu nehmen. Bezahlter Erziehungsurlaub für Väter wird in der Tschechischen Republik angeboten, ist aber mit 10 Tagen deutlich kürzer als der normale Erziehungsurlaub. Das Abgeordnetenhaus hat beschlossen, die bezahlte Elternzeit für Väter bis 2021 auf 2 Wochen nach der Geburt eines Kindes zu verlängern.

Politische Beteiligung und Vertretung von Frauen in Führungspositionen

Obwohl Frauen von Anfang an in der tschechischen Politik mitgewirkt haben, sind sie sowohl auf regionaler als auch auf nationaler Ebene unterrepräsentiert. Seit ihrer Gründung hatte die Tschechische Republik weder eine Präsidentin noch eine Premierministerin. Das einzige weibliche Staatsoberhaupt in der Geschichte bleibt die Kaiserin und Königin von Böhmen Maria Theresia im Jahr 2024. Seit Dezember 2021 arbeiten drei Frauen in der Regierung von Petr Fiala - Jana Černochová (Verteidigungsministerin), Anna Hubáčková (Umweltministerin) und Helena Langšádlová (Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Innovation). Nach der Entlassung von Helena Langšádlová gibt es in der tschechischen Regierung nur noch zwei Ministerinnen unter den 18 Regierungsmitgliedern.

Derzeit sind 25 % der Sitze im Parlament und 21 % der Sitze in den Regionalräten mit Politikerinnen besetzt. Markéta Pekarová Adamová ist seit 2021 Präsidentin der Abgeordnetenkammer und seit 2019 Vorsitzende der politischen Partei TOP 09. Obwohl tschechische Frauen nach wie vor unterrepräsentiert sind, ist die Zahl der weiblichen Kandidaten und gewählten Politiker in der nationalen Regierung in den letzten Jahrzehnten stetig gestiegen. Bei den Wahlen zum Abgeordnetenhaus im Jahr 2021 lag der Frauenanteil bei rund 31,7 %, was die höchste Zahl weiblicher Kandidaten in der Geschichte des Landes darstellt. In der Tschechischen Republik gibt es keine gesetzlich vorgeschriebene Geschlechterquote, aber einige politische Parteien haben freiwillige Quoten eingeführt, um den Frauenanteil zu erhöhen. Die tatsächliche Wirksamkeit dieser freiwilligen Parteiquoten ist umstritten. Die tschechische Regierung hat sich in der Vergangenheit gegen die Einführung von EU-Gleichstellungsquoten gewehrt, nach denen 40 % der Sitze in Aufsichtsräten öffentlicher Unternehmen an Frauen vergeben werden müssten.

Bildung

Die Tschechische Republik verfügt über eine sehr hohe Alphabetisierungsrate, die bei Frauen und Männern mit 99 % gleich hoch ist (Schätzung 2011). Allerdings haben mehr Männer (95 %) als Frauen (92 %) die Sekundarstufe abgeschlossen (OECD 2014). Der Anteil der Frauen an der Hochschulbildung ist hoch: 2013 waren mehr als 60 % der Bachelor- und Masterabsolventen Frauen. Während das Bildungsniveau der tschechischen Frauen im Tertiärbereich insgesamt hoch ist, ist die Zahl der Frauen, die sich in naturwissenschaftlichen, technischen, ingenieurwissenschaftlichen und mathematischen Fächern einschreiben, nach wie vor relativ gering.

Zusätzliche Informationen finden Sie in "Deutschland. Tschechien. Im Kontext" von Pavlína Janebová und Klára Schovánková S. 45-51.

Intro:
"Sechsmal Tschechien – die zweite Staffel – Sechs neue Folgen, sechs neue Themen, ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und Radio Prague International."

Daniela Honigmann:
"Tschechien ist der einzige aller vier Visegrád-Staaten, der bisher weder eine Premierministerin noch eine Staatspräsidentin hatte. Damit sind Polen, Ungarn und die Slowakei dem Land zumindest in dieser Hinsicht in puncto Gleichstellung voraus. Zudem gibt es hierzulande noch kein Gleichstellungsgesetz. Und als einziger der vier Visegrád-Partner hat bisher nur Polen die Istanbul-Konvention ratifiziert. Ist es in Tschechien also schlecht bestellt um die Gendergerechtigkeit? Diese Frage lässt sich auch für den hiesigen Arbeitsmarkt stellen, der Hürden für Frauen und besonders für Mütter bereithält. Wie wird in Tschechien also über Gender Pay Gap, Elternzeit, Genderquote oder auch einen besseren Schutz vor sexualisierter Gewalt diskutiert? Darum geht es in der ersten Folge der zweiten Staffel von „Sechsmal Tschechien“ zum Thema Gleichstellung und Frauenrechte, die Daniela Honigmann in Zusammenarbeit mit Ivo Vacík vorbereitet hat.

Die NGO Gender Studies gibt es in Prag schon lange, nämlich seit 1991. Um ihre Bibliothek aufzusuchen, muss man aber genau wissen, wo sie ist. Denn kein Schild und kein Logo weisen von außen auf den Sitz am Smetana-Ufer, direkt im Stadtzentrum, hin. Die strengen Denkmalschutzauflagen würden keine Reklame an der Fassade erlauben, heißt es zur Erklärung, wenn man nach dem Klingeln in das obere Erdgeschoss geführt wird.

Kurz vor Beginn der Sommerferien hatte die Organisation zu einem lockeren Beisammensein geladen. Etwa 15 Personen sitzen in der Bibliothek zusammen. Es wurde etwas zu Essen mitgebracht, man trinkt Sekt und stellt selbst kreierte Buttons her. Auf die Frage, wie es denn um die Gendergleichstellung in Tschechien im Jahr 2024 steht, antworten die meisten Anwesenden ähnlich. So etwa die 25-jährige Studentin Míša:"

Míša: (übersetzt ins Deutsche):
„Das kommt darauf an, ob man es wirtschaftlich oder kulturell betrachtet. Ich denke aber, beides hängt zusammen. Die ökonomische Ebene lässt sich leichter vergleichen, denn hierzulande gibt es immer noch große Gehaltsunterschiede, den Pay Gap. Diese Zahlen lassen sich gegenüberstellen, und dann ist es klar. Kulturell ist es schon komplizierter. Aber eine Gleichstellung herrscht da mit Sicherheit auch nicht.“

Daniela Honigman:
"Die Möglichkeiten seien weder für Frauen noch für Männer ausgeglichen, fügt Míša hinzu. Das sieht auch die 42-jährige Markéta so. Die Mitarbeiterin von Gender Studies meint allerdings, dass die Frage zu allgemein gestellt sei. Zu komplex sei das Thema, um es einfach mit „gut“ oder „schlecht“ bewerten zu können. Also wird sie etwas konkreter bezüglich eventueller Stereotype im Denken der Menschen hierzulande:"

Markéta (übersetzt ins Deutsche):
„Immer noch wird gesagt, dass Frauen in bestimmter Weise gut auszusehen haben, dass sie sich der Familie widmen und Kinder haben sollen, dass sie keine Karriere zu Ungunsten der Familie machen sollen und dass sie ruhig weniger Geld verdienen können als Männer. Zudem heißt es, sie sollten nicht allzu sehr in die männliche Sphäre eindringen, sei es in der Politik oder in Wissenschafts- und Studienfächern. Und außerdem sollen sich Frauen nicht groß beschweren, wenn sie ungleich behandelt werden. Denn so wäre es schließlich schon seit Urzeiten, und darum sei es so in Ordnung.“

Daniela Honigmann:
"Die 30-jährige Agáta bestätigt solche Stereotype aus eigener Erfahrung:"

Agáta (übersetzt ins Deutsche):
„Ich fühle einen gesellschaftlichen Druck, dass ich als Frau, die 30 ist, langsam Kinder haben oder zumindest darüber nachdenken sollte und mich irgendwo niederlassen müsste. Und dass ich manche Dinge tun und andere nicht tun sollte – sei es die Beine rasieren, was ich nicht tue, oder mich auf eine bestimmte Weise kleiden. Oft verspüre ich auch einen sexualisierten Druck. Zum Beispiel in einer Kneipe oder Bar, wenn sich Leute mit mir unterhalten, auch wenn ich sage, dass ich das nicht möchte. Oder dass sie mich berühren, obwohl ich das nicht will.“

Daniela Honigmann:
"Ebenso wenig mögen die Angesprochenen eine einfache Antwort geben auf die Frage, was in Tschechien für mehr Gleichheit getan werden könnte – und von wem. Karel, ein 33-jähriger Doktorand, sieht sowohl die Politik als auch die Gesellschaft in der Verantwortung:"

Karel (übersetzt ins Deutsche):
„Ich denke, dass sich das nicht voneinander trennen lässt. Die Politik spiegelt die Gesellschaft ja nur wider, und umgekehrt. Das kann man nicht so einfach klassifizieren. Es muss das Bewusstsein erweitert werden dafür, dass es in Tschechien überhaupt eine Ungleichheit gibt. Denn viele Menschen leben damit und verstehen sie als Grundlage für ihr Leben. Sie denken nicht darüber nach, dass es auch anders sein könnte und dass etwas falsch läuft.“

Musikalische Blende

Daniela Honigmann:
"Kaum öffentlich sichtbar – was für das Büro der NGO Gender Studies in Prag gilt, lässt sich symbolisch auf das Thema Gendergerechtigkeit in den gesellschaftlichen Debatten in Tschechien übertragen. Denn im Mainstream sind diese Aspekte noch nicht angekommen. Etwas diplomatischer drückt es Klára Šimáčková Laurenčíková aus, die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Formal sind Frauen und Männer in Tschechien vor dem Gesetz gleich. Die Geschlechtergerechtigkeit gehört in unserem Land zu den grundlegenden gesellschaftlichen Werten, und die Bemühungen um ein gleiches Recht für Frauen und Männer haben in unserer Geschichte eine lange Tradition. Schon die 1918 gegründete Tschechoslowakische Republik gehörte zu den ersten Staaten, die das Frauenwahlrecht einführten. Zur feministischen Bewegung bekannte sich unter anderem auch der erste Präsident, Tomáš Garrigue Masaryk. Trotzdem ist es nötig, ehrlich zu bekennen, dass in der Praxis noch eine ganze Reihe von Ungleichheiten weiterbestehen, die sich negativ auf die Gleichstellung von Frauen und Männern auswirken.“

Daniela Honigmann:
"Das hat der Besuch bei Gender Studies bestätigt. Und er hat gezeigt, dass vor allem junge Menschen eine gewisse Erwartungshaltung an die Politik haben. Im Kabinett von Petr Fiala (Bürgerdemokraten) werde bereits gehandelt, betont Šimáčková Laurenčíková:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Regierung ergreift und realisiert eine Reihe wichtiger Maßnahmen. Sie ist sich der Bedeutung des Themas bewusst sowie der Notwendigkeit, gegen Ungleichheiten vorzugehen. Darum wurde Gendergerechtigkeit auch explizit in das Regierungsprogramm aufgenommen.“

Daniela Honigmann:
"Die Richtung dieser Agenda gibt die sogenannte Strategie zur Gleichstellung von Frauen und Männern vor. Die aktuelle Version umfasst die Maßnahmen für den Zeitraum 2021 bis 2030. Bei Ausarbeitung und Umsetzung der Strategie ist ein spezieller Regierungsrat involviert. Darin hat unter anderem die NGO Fórum 50 % ihren Sitz, die sich schon seit 20 Jahren für einen gerechten Frauenanteil in der tschechischen Politik einsetzt. Veronika Šprincová ist die Direktorin:"

Veronika Šprincová (übersetzt ins Deutsche):
„Die Regierungsstrategie für die Gleichheit von Frauen und Männern ist eines der wenigen positiven Dinge in diesem Bereich. Tschechien verfügt damit über eine sehr gute und genau ausgearbeitete Strategie, an der sich Experten und Expertinnen beteiligt haben, sowohl aus dem zivilgesellschaftlichen als auch dem akademischen Bereich. Die Politik arbeitet also mit dem öffentlichen Sektor sowie mit den Sozialpartnern zusammen, und auch die Bevölkerung wurde in Konsultationen einbezogen. Dieses Dokument ist von hoher Qualität. Das Problem ist nur, dass die vorgesehenen Maßnahmen auf dem Papier bleiben.“

Daniela Honigmann:
"Ein Beleg für diese Einschätzung könnte sein, dass es in Tschechien bisher kein Gleichstellungsgesetz gibt. Und auch internationale Vergleiche fallen eindeutig aus. Der europäische Gleichstellungsindex etwa dient laut Klára Šimáčková Lauenčíková der Regierung als wichtige Orientierung. In der aktuellen Ausgabe vom Oktober 2023 belegt Tschechien den 25. von 27 Plätzen und gehört damit zu den Schlusslichtern in der EU. Und Veronika Šprincová verweist auf einen weiteren Vergleich:"

Veronika Šprincová (übersetzt ins Deutsche):
„Gerade ist die neue Rangliste des Weltwirtschaftsforums für 2024 erschienen. Im Global Gender Gap Report belegt Tschechien seine bisher schlechteste Platzierung, nämlich den 104. Platz. Und was die Vertretung von Frauen in der Politik angeht, da steht Tschechien als schlechtestes aller EU-Länder da.“

Daniela Honigmann:
"Dies würde allerdings nicht daran liegen, dass sich die Lage in Tschechien verschlechtere, erläutert Šprincová. Vielmehr würde in vielen anderen Ländern gerade mehr in Sachen Gleichstellung passieren. Dort findet man neue Wege, wie Frauen sich politisch mehr engagieren könnten:"

Veronika Šprincová (übersetzt ins Deutsche):
„Bei uns wird jedoch immer noch so getan, als gäbe es kein Problem. Bis zu der Zeit, als Tschechien 2022 den Sitz im UN-Menschenrechtsrat von Russland übernahm, gab es hierzulande niemanden, der für das Thema Gendergerechtigkeit zuständig gewesen wäre. Dann war es schon etwas peinlich, dass Tschechien sich zwar auf dem internationalen Feld für Menschenrechte einsetzt, aber zu Hause diesbezüglich einen blinden Fleck hatte. Also wurde quasi auf die Schnelle Klára Šimáčková Laurenčíková als Regierungsbeauftragte für Menschenrechte ernannt. Dies ist ein recht gutes Beispiel dafür, dass die hiesige politische Repräsentation bei dem Thema eine sehr laxe Haltung einnimmt und die Dinge nicht ändert.“

Musikalische Blende

Daniela Honigmann:
“Teil der Regierungsstrategie für mehr Gendergerechtigkeit ist ein Aktionsplan für eine gleiche Entlohnung von Frauen und Männern, der im Dezember 2022 verabschiedet wurde. Der Einkommensunterschied – der sogenannte Gender Pay Gap – ist einer der Hauptbereiche, in denen die geschlechtsbedingten Ungleichheiten in Tschechien am deutlichsten sichtbar werden. Deutliche Abweichungen in der Bezahlung von Frauen und Männern gebe es hierzulande seit dem Fall der kommunistischen Diktatur 1989, sagt die Soziologin Alena Křížková. Sie ist Abteilungsleiterin für Gender und Soziologie an der tschechischen Akademie der Wissenschaften:"

Alena Křížková (übersetzt ins Deutsche):
„Der Gender Pay Gap hat hierzulande zwei Hauptgründe. Einmal üben Männer und Frauen im Prinzip sehr unterschiedliche Beschäftigungen aus. Männer sind auf andere Bereiche des Arbeitsmarktes konzentriert als Frauen. Bei Männern sind dies typischerweise Technikberufe und auch höhere Positionen, in denen es mehr Gehalt gibt. Der zweite Grund – und auch das eigentliche Problem – besteht, wenn Frauen und Männer die gleiche Arbeit in der gleichen Stelle ausüben und der Lohnunterschied immer noch groß ist. Seit langem bewegt sich der Unterschied im Durchschnittsgehalt für Männer und für Frauen in Tschechien bei 20 Prozent. Und die Abweichung bei der gleichen Position beim gleichen Arbeitgeber beträgt zehn Prozent. Wir können also sagen, dass die Hälfte des Unterschiedes, und das ist ein bedeutender Anteil, sehr wahrscheinlich auch durch Diskriminierung verursacht wird.“

Daniela Honigmann:
“Die aktuellen Erhebungen belegen dies. Anfang September 2024 hat das Statistikamt vermeldet, dass das mittlere Einkommen in Tschechien im zweiten Quartal 2024 bei 38.529 Kronen (1538 Euro) brutto monatlich lag. Für Männer wurde eine Durchschnittssumme von 41.540 Kronen (1658 Euro) erhoben, für Frauen waren es 35.565 Kronen (1420 Euro). Eventuelle Maßnahmen zur Angleichung der Löhne würden es daher vor allem Frauen ermöglichen, das Familien- und das Arbeitsleben besser aufeinander abzustimmen, unterstreicht Johanna Nejedlová. Sie leitet die NGO Konsent, die sich vor allem der Prävention von sexualisierter Gewalt widmet:"

Johanna Nejedlová (übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien ist es wirklich so, dass Frauen die Pflegerolle viel öfter übernehmen als Männer. Dies liegt zum einen an einer festgelegten Vorstellung davon, wie eine Familie aufgebaut ist. Zum anderen ist es aber auch eine praktische Folge dessen, wie der Arbeitsmarkt funktioniert und inwiefern Kinderbetreuungseinrichtungen vorhanden sind. Wenn also Gehaltsunterschiede bestehen und Frauen eher in solchen Branchen arbeiten, die weniger gut bezahlt sind, dann ist es für eine Familie einfach ein logischer Schritt, dass die Frau zu Hause bleibt, wenn ein Kind geboren wird. Da sie das kleinere Einkommen hat, wäre die Familie finanziell nicht mehr so gut aufgestellt, wenn der Mann zu Hause bleiben würde.“

Daniela Honigmann:
“Die Elternzeit beträgt in Tschechien drei Jahre pro Kind. Zu Zeiten des Sozialismus kehrten Frauen noch – ähnlich wie in anderen Staaten des Ostblocks – schneller an den Arbeitsplatz zurück. Bis in die 1980er Jahre hinein betrug der Mutterschaftsurlaub hierzulande ein halbes Jahr, die anschließende Elternzeit konnte bis zum zweiten Geburtstag des Kindes ausgeschöpft werden.

Mit der wirtschaftlichen Transformation zur Marktwirtschaft und dem aufkommenden Konkurrenzprinzip auf dem Arbeitsmarkt ab 1990 ist die Betreuungszeit zu Hause auf drei Jahre festgelegt worden. Parallel dazu wurden öffentliche Betreuungsangebote eingeschränkt. Staatlich betriebene Krippen gebe es in Tschechien seit 2012 keine mehr, schildert Alena Křížková. Diese politischen Entscheidungen hätten die Stärkung eines traditionellen Rollenbildes nach sich gezogen:”

Alena Křížková (übersetzt ins Deutsche):
„Hierzulande nutzen heute nur sehr wenige Männer zumindest einen Teil der Elternzeit. Es sind nicht ganz zwei Prozent. Der Grund dafür ist eine Politik, die keine Motivation dafür schafft, dass sich das ändert und dass mehr Männer diese Möglichkeit nutzen. Damit werden die Stereotypen immer weiter konserviert. Die politisch Verantwortlichen pflegen diese Rollenbilder und können sich gar nicht vorstellen, Schritte zu unternehmen und die Politik so zu gestalten, dass eine Gleichstellung erreicht wird bei der Aufteilung der Pflegeaufgaben in der Familie.“

Daniela Honigmann:
"Es gebe Belege durch Untersuchungen, so die Soziologin, nach denen sich die Politikerinnen und Politiker allerdings irrten bei der Einschätzung, die Bevölkerung wäre wirklich so traditionell eingestellt. Und noch einmal unterstreicht Křížková die Bedeutung von Krippen und Kindergärten:"

Alena Křížková (übersetzt ins Deutsche):
„Das vielleicht Allerwichtigste ist eine Unterstützung bei der Kinderbetreuung. In Tschechien gibt es keine bezahlbaren Einrichtungen für Kinder bis drei Jahre. Staatliche Kinderkrippen gibt es seit mehr als zehn Jahren nicht mehr. Das zwingt die Mütter, längere Zeit bei den Kindern zu Hause zu bleiben. Auch dadurch wird das Stereotyp von der Frau als Pflegeperson aufrechterhalten und damit die Vorstellung, dass es nicht anders geht. Gleichzeitig wird behauptet, die Elternzeit sei flexibel angelegt und jeder könne einen Teil nutzen, ohne dabei finanzielle Verluste zu haben. Es gibt aber keine freie Wahl. Die Familien werden vielmehr dazu gezwungen, weil es kaum Betreuungseinrichtungen gibt.“

Daniela Honigmann:
"Einen Mangel an öffentlichen Betreuungseinrichtungen in Tschechien gesteht auch Klára Šimáčková Lautenčíková ein. Die Gleichstellungsstrategie der Regierung würde aber darauf reagieren, sagt die Menschenrechtsbeauftragte, und verweist auf einen Regierungsbeschluss vom Mai 2024:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Es wurde ein Gesetz zu Kindergruppen auf den Weg gebracht, das eine Nachbarschaftsbetreuung regelt. Dabei geht es um eine weniger formale und flexiblere Form der Kinderbetreuung. Dem kann ich hinzufügen, dass es im September 2024 schon insgesamt 1827 ähnliche Gruppen in Tschechien gab, mit einer Gesamtkapazität von 25.000 Plätzen. Für sie wurden in diesem Jahr 500 Millionen Kronen an Programmmitteln zur Verfügung gestellt.“

Daniela Honigmann:
"500 Millionen Kronen sind umgerechnet knapp 20 Millionen Euro. Mit einer ausreichenden Anzahl von Betreuungsmöglichkeiten wäre es allerdings noch nicht getan, stimmen die Gesprächspartnerinnen überein. Denn ein Kindergarten zum Beispiel hat feste Öffnungszeiten, die nicht immer mit den Arbeitszeiten der Eltern im Einklang stehen müssen. Was laut den Fachleuten also in Tschechien fehlt, sind flexible Arbeitsverhältnisse, sprich Teilzeitstellen.

Tatsächlich heißt es 2024 auch im „Index für Wohlstand und finanzielle Gesundheit“, der jedes Jahr von der Bank Česká spořitelna und dem Empirieprojekt „Evropa v datech“ (Europa in Daten) erstellt wird, dass sich die Bedingungen auf dem hiesigen Arbeitsmarkt kontinuierlich verschlechtern. Als Hauptgründe werden eben die mangelnde Flexibilität und der Gender Pay Gap angeführt."

Musikalische Blende

Daniela Honigmann:
"Neben dem Arbeitsmarkt sind Genderungleichheiten in Tschechien auch in der Politik erkennbar. Seit der Gründung der Ersten Tschechoslowakischen Republik 1918 hat es hierzulande weder eine Premierministerin noch eine Staatspräsidentin gegeben. Im aktuellen liberal-konservativen Regierungskabinett von Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) ist von ursprünglich drei Ministerinnen inzwischen nur eine übriggeblieben, nämlich Jana Černochová (Bürgerdemokraten), die das Verteidigungsressort leitet. Von den vier Koalitionsparteien hat nur eine, nämlich Top 09, eine Vorsitzende: Markéta Pekarová Adamová, die zugleich Präsidentin des Abgeordnetenhauses ist und damit die einzige weibliche Besetzung in den höchsten politischen Ämtern des Landes.

Was sagt die Menschenrechtsbeauftragte Klára Šimáčková Laurenčíková dazu?"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Anzahl der Frauen in der Politik entspricht immer noch nicht der Geschlechterstruktur der tschechischen Gesellschaft. Es gibt einen relativ hohen Prozentsatz von Frauen in Führungspositionen in der Kommunalpolitik, aber in Abgeordnetenhaus und Senat ist die Lage schlechter. Wir müssen deshalb Maßnahmen ergreifen, die Frauen Lust darauf machen, in die Politik zu gehen. Und die ihnen das Vertrauen geben, dass sie dann nicht automatisch ihr Privat- und Familienleben aufgeben müssen.“

Daniela Honigmann:
"Das hätte durchaus schon längst passieren können. Immerhin haben Frauen in Tschechien seit mehr als 100 Jahren das aktive und passive Wahlrecht. Eingeführt wurde es 1920, als die erste Verfassung der Republik in Kraft trat. Tatsächlich würden sich die Bedingungen für Politikerinnen hierzulande aber nur sehr langsam verbessern, schildert Veronika Šprincová. Einen positiven Impuls hätten dabei die Samtene Revolution von 1989 und die Wiedereinführung der parlamentarischen Demokratie gegeben:"

Veronika Šprincová (übersetzt ins Deutsche):
„Seit den 1990er Jahren wächst in Tschechien die Zahl der Frauen in der Politik. Auf Kommunalebene erhöht sich ihr Anteil auf den Kandidatenlisten von Wahl zu Wahl und damit auch in den gewählten Vertretungen. Bei den Regionalwahlen schwanken die Nominierungen stark – mal sind mehr, mal weniger Frauen dabei. Im Ganzen geht es aber immer nach vorn, wenn auch im Schneckentempo. Schauen wir aber auf den internationalen Durchschnitt, dann liegt Tschechien weiterhin unter dem weltweiten und auch unter dem europäischen Mittel, was die Beteiligung von Frauen in der Politik angeht.“

Daniela Honigmann:
"So habe etwa der tschechische Senat derzeit einen Frauenanteil von rund 20 Prozent, informiert Šprincová. Und im Abgeordnetenhaus liege der Wert mit 26 Prozent nur wenig höher. Einzig auf europäischer Ebene schafften es die tschechischen Politikerinnen über die Marke von 30 Prozent. Bei den Wahlen im Mai sind hierzulande 38 Prozent Kandidatinnen ins EU-Parlament geschickt worden. Alles in allem halte sie diese Zahlen im Jahr 2024 aber für skandalös, unterstreicht Veronika Šprincová.

Gründe für den niedrigen Frauenanteil gibt es viele. Einen, der in privaten und auch öffentlichen Diskussionen gern vorgebracht wird, schließt die Chefin von Fórum 50 % jedoch aus: Sie glaube nicht, dass einfach weniger Frauen als Männer in die Politik wollten, betont Šprincová. Vielmehr würden die Strukturen auf Frauen abschreckend wirken:"

Veronika Šprincová (übersetzt ins Deutsche):
„Uns berichten Frauen manchmal von persönlichen Zweifeln, wenn sie an aussichtsreicher Position auf der Kandidatenliste platziert waren. Sobald sich beim Auszählen der Stimmen eine hohe Unterstützung für ihre Partei abzeichnete, sei ihnen plötzlich die Frage durch den Kopf gegangen: ‚Wie mache ich das eigentlich praktisch, wenn ich wirklich gewählt werde?‘ Das kann durchaus als Hindernis wirken. Das Abgeordnetenhaus etwa hat einen Dreiwochenrhythmus. Wenn man zum Beispiel als geschiedene Eltern ein Wechselbetreuungsmodell hat und sich im Wochentakt um das Kind kümmert, dann passt das nicht mit dem Zeitplan im Parlament zusammen.“

Daniela Honigmann:
"Solche Abläufe und Zeitpläne müssten deswegen neu überdacht und angepasst werden, fordert Klára Šimáčková Laurenčíková. Damit solle mehr Rücksicht genommen werden auf das Familienleben aller politisch aktiven Menschen:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Solidarität zwischen den Politikerinnen und öffentlich engagierten Frauen muss gestärkt werden. Und es ist nötig, in diese Bemühungen auch Männer einzubeziehen. Denn für unsere Regierung ist es wichtig, dass Männer verstehen, warum eine Gendergleichheit auch zu ihrem Vorteil ist. Ihre Verhandlungen könnten dann zufriedenstellender ausfallen, und Arbeitsteams könnten effektiver sein und interessantere Ergebnisse erzielen.“

Daniela Honigmann:
"Dem stimmt Pavel Fischer im Grunde zu. Er ist seit 2018 parteiloser Senator, gehört dem konservativen Lager an und war zuvor tschechischer Botschafter in Frankreich. Zum Thema Gendergerechtigkeit in der Politik sagt er:"

Pavel Fischer (übersetzt ins Deutsche):
„Frauen haben mich immer inspiriert. Ich bin auch lieber in Kollektiven, in denen Frauen dabei sind. Es kommt mir komisch vor, wenn allein Männer über Frauen oder die Gesellschaft entscheiden. Ich denke also, dass Tschechien diesbezüglich etwas aufzuholen hat. Andererseits meine ich nicht, dass wir das unbedingt durch Quoten schaffen. Vielmehr ist es nötig, dass sich eine Frau selbst reif dafür fühlt.“

Daniela Honigmann:
"Talentierten Anwärterinnen stehe er gern begleitend zur Seite, damit sie im politischen Umfeld standzuhalten lernten, fährt Fischer fort. Regulieren wolle er ihren Anteil jedoch nicht, betont der Senator.

Damit vertritt Pavel Fischer jene Mehrheitsmeinung, die in Tschechien bezüglich einer Genderquote herrscht. Aber auch Menschen, die diese befürworten, tun dies meist mit Einschränkungen. So etwa Johanna Nejedlová, die nicht nur bei Konsent engagiert ist. Bei den Europawahlen 2024 war sie als Parteilose die Spitzenkandidatin der tschechischen Grünen. Diese haben als einzige relevante Partei hierzulande eine selbst auferlegte Geschlechterquote und paritätisch angelegte Listen. Dazu die Aktivistin:"

Johanna Nejedlová (übersetzt ins Deutsche):
„Leider weiß ich außer der Quote von keinem effektiveren Instrument, wie eine ausgewogene politische Repräsentation zu erreichen ist. Es zeigt sich, dass sich Staaten, in denen es eine gleichberechtigte Vertretung von Frauen und Männern gibt, für irgendeine Art von Quoten entschieden haben. Ohne dies geht es nicht. Ich habe es einmal durchgerechnet: Wenn wir uns in Tschechien in dem derzeitigen Tempo weiterentwickeln, dann werden wir eine gleichberechtigte Vertretung von Frauen und Männern in etwa 120 Jahren erreichen. Ich glaube nicht, dass wir es uns erlauben können, so lange zu warten.“

Daniela Honigmann:
"Veronika Šprincová weist zudem darauf hin, dass Quoten kein Selbstläufer seien. Ihre Einführung allein reiche nicht aus, sondern bedürfe weiterer aktiver Impulse für eine Gendergerechtigkeit:"

Veronika Šprincová (übersetzt ins Deutsche):
„Eine kurze Geschichte mit der Quote haben die tschechischen Sozialdemokraten. Sie war aber nicht sonderlich effektiv eingerichtet, denn sie galt für die gesamte Kandidatenliste mit 40 Prozent, was eine recht hohe Zahl ist. Dabei wurde aber nicht die Kandidatenreihenfolge berücksichtigt. Es entstand also das Paradox, dass dann wirklich 40 Prozent Frauen auf der Liste standen, aber ihr Anteil auf den aussichtsreichen Plätzen sank.“

Daniela Honigmann:
"Weil Frauen in Tschechien immer noch selten als Spitzenkandidaten eingesetzt werden, hatte das Land bisher weder eine Premierministerin noch eine Präsidentin. Das Staatsoberhaupt wird seit 2013 alle fünf Jahre direkt gewählt, und seither gab es insgesamt vier zugelassene Kandidatinnen – neben 23 männlichen Konkurrenten. Zuletzt war Danuše Nerudová (Bürgermeisterpartei Stan) die einzige Frau, die sich 2023 der Wahl stellte. Veronika Šprincová blickt zurück:"

Veronika Šprincová (übersetzt ins Deutsche):
„Danuše Nerudová selbst hat von einer eher banalen Situation in ihrem Wahlkampf berichtet. Bei einer Diskussionsveranstaltung traf sie mit zwei männlichen Kandidaten zusammen. Sie bekam dann als einzige einen Blumenstrauß. Das hat sie in gewisser Weise außen vorgestellt und ein Licht auf sie geworfen, dass sie als Frau anders sei.“

Daniela Honigmann:
"Nerudovás Kandidatur habe einige blinde Flecken aufgezeigt, so Šprincová weiter, dass Frauen in hohen politischen Ämtern hierzulande immer noch mit Reserviertheit betrachtet würden:"

Veronika Šprincová (übersetzt ins Deutsche):
„Dass sich weniger Frauen in der Politik oder in Unternehmen engagieren, hat viel mit der Erziehung zu tun. Ich würde sagen, dass der Druck zu einer guten Leistung und guten Schulnoten bei Mädchen höher ist als bei Jungs. Dadurch stellen wir Frauen wahrscheinlich unbewusst bestimmte Ansprüche an uns selbst. Oft berichten uns Mitarbeiter von Personalabteilungen, dass Männer mit einem großen Selbstbewusstsein auftreten, auch wenn sie eher eine durchschnittliche Qualifikation haben. Frauen hingegen zeigen auch bei einer überdurchschnittlichen Qualifikation ein vergleichsweise niedrigeres Selbstvertrauen. Hier steht der Gesellschaft also ebenfalls ein langer Weg bevor.“

Musikalische Blende

Daniela Honigmann:
"Traditionelle Rollenbilder und Erziehungsmethoden haben in Tschechien auch zur Folge, dass Frauen häufiger Opfer von Gewalt werden. Dies betreffe jede dritte Frau, berichtet Johanna Nejedlová. Zudem zitiert sie eine aktuelle Studie der Organisation Profem, nach der jede fünfte Tschechin Erfahrungen mit sexualisierter Gewalt und Vergewaltigung mache."

Johanna Nejedlová (übersetzt ins Deutsche):
„Entsprechend der Einwohnerzahl sollte es in Tschechien eigentlich 1000 Behandlungsbetten für Opfer von häuslicher Gewalt geben. Diese sollten standardisiert und auf die spezifischen Bedürfnisse ausgerichtet sein. Es gibt im Moment aber nur 90 Betten. Solche Dienstleistungen werden hierzulande zumeist von NGOs abgedeckt, aber sie reichen nicht aus. Für Opfer sexueller Gewalt sollte es außerdem in jeder Kreishauptstadt ein komplexes Hilfszentrum geben. Ein allererstes solches Zentrum hat gerade in Prag eröffnet. Es ist das einzige in Tschechien, und auch das wird von einer NGO betrieben.“

Daniela Honigmann:
"Sexualisierte Gewalt zieht häufig ungewollte Schwangerschaften nach sich. Abtreibungen sind in Tschechien bis zur zwölften Schwangerschaftswoche legal. Im Falle von Vergewaltigungen kann der Eingriff noch bis zur 24. Woche durchgeführt werden – diese verlängerte Frist greift auch, wenn das Leben der Mutter durch die Schwangerschaft gefährdet ist.

Da die Gewaltstatistiken in Tschechien nicht neu sind, sieht die Regierungsstrategie zur Gleichstellung von Frauen und Männern auch Maßnahmen zu diesem Thema vor. Im August 2023 sei im Kabinett ein dreijähriger Aktionsplan zur Prävention von häuslicher und gendermotovierter Gewalt beschlossen worden, berichtet Klára Šimáčková Laurenčíková und fährt fort:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Worüber wir in der Regierung von Premier Petr Fiala sehr froh sind, ist die Neudefinition der Straftat der Vergewaltigung, die am 1. Januar 2025 in Kraft tritt. Ebenso freut uns, dass das von uns vorbereitete Gesetz zur häuslichen Gewalt vor kurzem die erste Lesung im Abgeordnetenhaus passiert hat. Wir sind sicher, dass es den Schutz vor Beziehungsgewalt und sexualisierter Gewalt in unserem Land verbessern wird, egal ob es um Kinder, Frauen, Männer oder Menschen höheren Alters geht.“

Daniela Honigmann:
"Die angesprochene Neudefinition dessen, was im tschechischen Strafgesetzbuch als Vergewaltigung gilt, hat im Frühsommer 2024 das Parlament passiert. Demnach muss es sich nicht mehr nur zwingend um einen Gewaltakt handeln. Eine Straftat ist nun auch gegeben, wenn das Opfer paralysiert ist und sich nicht wehren kann. Das zugrundeliegende Prinzip laute „Nein heißt nein“, so Nejedlová:"

Johanna Nejedlová (übersetzt ins Deutsche):
„Für die neue Definition stimmten wirklich alle anwesenden Abgeordneten und letztlich, bis auf die hartnäckige Hardlinerin Daniela Kovářová, auch alle Senatoren. Dies ist ein großer Erfolg. Man muss aber dazu sagen, dass ‚Nein heißt nein‘ den neuesten Trends im Ausland zufolge nicht die progressivste Version ist. Es ist eher eine gute Variante, die weitere Fälle abdeckt. Aber sie basiert nicht auf der Abwesenheit einer Zustimmung.“

Daniela Honigmann:
"Eine weitergehende Version würde dann „Ja heißt ja“ lauten. Diese habe in der tschechischen Öffentlichkeit eine sehr deutliche Unterstützung, informiert die Konsent-Chefin. Aber die Politik habe nicht mitgezogen:"

Johanna Nejedlová (übersetzt ins Deutsche):
„Ich glaube, ein Teil der Politiker ist sich immer noch nicht bewusst, dass dies von der Öffentlichkeit eingefordert wird. Nach meiner Einschätzung ist die tschechische politische Vertretung viel konservativer als die Gesellschaft. Innerhalb der Politik-Blase meint man, dass man sich so progressiven Dingen wie eine Lösung für sexuelle Gewalt – die Politik hält dies nämlich für ein progressives Thema – nicht widmen sollte. Aber dank des unablässigen Drucks der Öffentlichkeit konnte ‚Nein heißt nein‘ durchgesetzt werden. Ein Teil der Politiker stellte dann auch fest, dass sie davon profitieren können. Als bestes Argument diente uns die Erkenntnis, dass Regelungen für sexuelle Gewalt das zweitwichtigste Wahlkampfthema hierzulande für junge Menschen sind.“

Daniela Honigmann:
"Für bessere Schutzmaßnahmen in den einzelnen Mitgliedsstaaten wurde 2011 das „Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt“ verfasst. Es ist weitläufig bekannt als Istanbul-Konvention – benannt nach der Stadt, in der das Dokument unterzeichnet wurde. 2016 leistete auch die damalige tschechische Regierung von Andrej Babiš (Partei Ano) ihre Unterschrift. Seitdem wird die Ratifizierung des Abkommens hierzulande aber immer wieder hinausgezögert und hoch emotional diskutiert.

Zuletzt scheiterte das Dokument im tschechischen Senat, wo bei der Abstimmung im Januar 2024 nur zwei Stimmen zur Mehrheit fehlten. Zuvor hatten sich mehrere Ausschüsse gegen die Ratifizierung ausgesprochen – so etwa der außenpolitische Ausschuss, dessen Vorsitzender Pavel Fischer ist. Er begründet:"

Pavel Fischer (übersetzt ins Deutsche):
„Die Istanbul-Konvention sieht eine Umerziehung der Gesellschaft vor, die aus dem Staatshaushalt bezahlt werden soll. Ich bin im Kommunismus aufgewachsen, und bei einem solchen Social Engineering bin ich empfindlich. Dies stört mich an dem ganzen Dokument am meisten.“

Daniela Honigmann:
"In den Medien hatte Fischer zu Zeiten der Senatsabstimmung verlauten lassen, dass die Istanbul-Konvention „überflüssig“ sei. Im Interview wiederholt er:"

Pavel Fischer (übersetzt ins Deutsche):
„Die Empfehlungen dieser Konvention sind ins tschechische Rechtssystem schon längst aufgenommen worden. Das alles haben wir im Prinzip bereits implementiert. Auf diese Weise hat sich sogar auch der Justizminister geäußert, als er im Senat gesprochen hat. Ich finde einfach, wir haben zu viel Zeit, Geld und Energie in Debatten investiert, die hier einen Kulturkrieg ausgelöst haben, der uns vom Eigentlichen weggeführt hat. Und das ist ein Schlamassel.“

Daniela Honigmann:
"Dem gegenüber äußert Klára Šimáčková Laurenčíková:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das Argument, die Istanbul-Konvention sei überflüssig, stimmt nicht mit den Kenntnissen jener Menschen überein, die mit den Opfern arbeiten, oder auch der Opfer selbst. Es zeugt ebenso wenig von einer Bereitschaft, sich die wissenschaftlichen Daten dazu anzuschauen – Daten der Polizei oder von Richtern, die seit langem bestehende Schwächen unseres Systems genau beschreiben. Dieses Thema darf nicht auf einer ideologischen Ebene diskutiert werden. Es muss auf der Expertenebene besprochen werden, mit Blick auf die Menschenrechte sowie die Verpflichtungen, die die Tschechische Republik eingegangen ist.“

Daniela Honigmann:
"Sie sei überzeugt, dass Tschechien das Istanbul-Dokument ratifizieren werde, betont die Regierungsbeauftragte. Es habe für sie die gleiche Bedeutung wie die Konventionen zu Kinderrechten oder zu den Rechten von Menschen mit Behinderung, ergänzt Šimáčková Laurenčíková. Und auch Johanna Nejedlová hält das Übereinkommen von 2011 für wichtig. Sie spricht ebenfalls von einem Kulturkampf, der hierzulande um die Konvention geführt werde und der stark von Fake News beeinflusst sei:"

Johanna Nejedlová (übersetzt ins Deutsche):
„Die Debatten dazu waren sehr homophob. Die Desinformationen deuteten an, dass Schwule das Recht bekämen, anderen ihre Kinder wegzunehmen und sie nach ihren eigenen Vorstellungen zu erziehen. Oder dass Kinder in der Schule lernen würden, dass es keine Frauen und Männer gebe, sondern dass sie alle nur Schmetterlinge seien. Das alles war sehr hasserfüllt und aggressiv. Und leider waren die Kräfte der Desinformationsszene viel lauter zu hören als die Organisationen, die sich dafür eingesetzt haben, dass die Konvention durchgesetzt wird.“

Daniela Honigmann:
"Eine dieser Organisationen war Konsent. Chefin Nejedlová beobachtet allerdings eine Verschiebung:"

Johanna Nejedlová (übersetzt ins Deutsche):
„Die Diskussion hat sich mit der aktuellen Zusammensetzung des Abgeordnetenhauses etwas vorwärtsbewegt. Bei unserer Lobbyarbeit in der vorherigen Besetzung des Parlaments konnten wir noch keinen einzigen Politiker oder keine Politikerin finden, die öffentlich gesagt hätten, dass sie die Istanbul-Konvention unterstützen. Dies hat sich in der aktuellen Legislaturperiode 2021 bis 2025 zum Glück geändert.“

Musikalische Blende

Daniela Honigmann:
"Eine langsame Veränderung findet auch in der öffentlichen Diskussion in Tschechien zum Thema Gendergerechtigkeit statt. Es werde mehr darüber geredet, so die Einschätzung von Johanna Nejedlová, obwohl es weiterhin nicht üblich sei, dass sich Menschen zum Feminismus bekennen würden. Auch Markéta von Gender Studies ist permanent auf der Suche nach der richtigen Sprache, um das Thema zu beleben. Darum konzentriere sie sich bei ihrer Arbeit auf die Zusammenarbeit mit Schulen:"

Markéta (übersetzt ins Deutsche):
„Große Hoffnung setze ich in die jungen Leute. Man muss seine eigenen Gedanken so formulieren können, dass andere sie verstehen. Das Misstrauen gegen oder die Negierung von feministischen Ansichten haben ihre Gründe oft in einem Unverständnis. Und darin, dass wir nicht gut artikulieren können und nicht die Sprache jener Menschen sprechen, denen wir etwas mitteilen wollen.“

Daniela Honigmann:
"
Gerade wer sich aber unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Tschechien bewegt, merkt eines schnell: Während die hiesige Politik noch binäre Gleichheitskonzepte diskutiert, also die Gleichstellung von Frau und Mann, sind die heranwachsenden Generationen schon weiter. Studentin Míša:"

Míša (übersetzt ins Deutsche):„Die Gleichstellung von Männern und Frauen ist ein großes Thema. Gleichzeitig gibt es aber auch nicht-binäre Menschen. Das Thema an sich lautet, was Gender eigentlich ist und inwiefern die Einteilung, die unsere Leben so sehr bestimmen, auch Dinge beeinflussen, bei denen das eigentlich notwendigerweise nicht sein muss. Vielleicht muss die Unterscheidung hinsichtlich der Gleichheit nicht immer binär in Mann und Frau sein. Allgemein geht es doch um alle Menschen, unabhängig von ihrem Geschlecht, und um gleiche Möglichkeiten für wirklich alle – auch im Hinblick auf Intersexualität.“

Musikalische Blende

"Das war Sechsmal Tschechien! In dieser zweiten Staffel blicken wir auf die Themen: Frauenrechte und Gleichstellung, die deutsch-tschechischen Beziehungen, die Lage der Medien, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wie ist die Sozialpolitik in Tschechien ausgerichtet, welche Rolle spielen Bürgerbeteiligung und politische Bildung? Sechsmal Tschechien. Staffel 1 und 2: Überall da, wo es Podcasts gibt. Eine Produktion der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und Radio Prague International. Wenn Ihnen unser Podcast gefällt, bewerten Sie uns gerne und empfehlen Sie uns auf Ihrer liebsten Podcast-Plattform weiter. Abonnieren Sie diesen Podcast, damit Sie keine Folge verpassen."

Zu Gast in dieser Folge:

Veronika Šprincová ist Absolventin des Lehrstuhls für Gender Studies an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag, wo sie auch als externe Dozentin tätig war. Von 2015 bis 2019 war sie Vorsitzende der Gender-Expertenkammer der Tschechischen Republik. Sie ist Direktorin des NGO "Fórum 50%". In ihrer beruflichen Arbeit konzentriert sie sich auf die Gleichstellung der Geschlechter, insbesondere auf die Vertretung von Frauen in der Politik.

Quelle

Klára Šimáčková Laurenčíková ist eine tschechische Spezialpädagogin, ab Mai 2022 Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Petr Fiala und ab Februar 2023 Nationale Koordinatorin für die Anpassung und Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und stellvertretende Ministerin für europäische Angelegenheiten der Tschechischen Republik. 2009 bis 2010 war sie stellvertretende Ministerin für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und von 2011 bis 2022 Ombudsfrau der FAMU. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der tschechischen Grünen Partei.

Quelle

Dr. Alena Křížková ist Forscherin und Leiterin der Abteilung Gender & Soziologie am Institut für Soziologie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften. Sie hat Erfahrung in der Leitung von Teams und als unabhängige Expertin in Projekten, die sich mit der Gleichstellung der Geschlechter und der Analyse und Bewertung von Politiken befassen. Seit 1998 hat Alena Křížková 30 wissenschaftliche Projekte geleitet oder an ihnen teilgenommen, darunter sieben Expertenprojekte für die Europäische Kommission. Derzeit ist sie die Vertreterin für die Europäische Kommission im Expertennetzwerk zur Gleichstellung der Geschlechter. Im Jahr 2009 erhielt sie den Otto-Wichterle-Preis für herausragende junge Wissenschaftler der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik.

Quelle

Johanna Nejedlová ist eine tschechische Politikerin, Frauenrechtlerin, Kommentatorin und Spitzenkandidatin der Grünen für die Europawahl 2024. Im Jahr 2016 war sie Mitbegründerin von Konsent, einer gemeinnützigen Organisation, die sich mit Fragen der Prävention von sexueller Belästigung, Gewalt und Sexualerziehung im Allgemeinen beschäftigt. Die Organisation setzt sich unter anderem langfristig für eine Änderung der Definition von Vergewaltigung und eine systematische Verbesserung der Sexualerziehung an Schulen ein. Nejedlová ist über ihre Organisation an der Organisation von Aufklärungsworkshops für Schüler, Lehrer und Unternehmen beteiligt. Darüber hinaus produziert sie Lehrvideos, Publikationen und methodisches Material, um Kinder und Erwachsene für das Thema zu sensibilisieren und Mythen über sexuelle Gewalt in den Medien zu entkräften.

2019 gewann sie den Preis „Women of Europe“ in der Kategorie „Woman in Youth Activism“, wo sie von der Jury aus einem Trio von Greta Thunberg und Siona Cahil ausgewählt wurde, die in die engere Wahl gekommen waren.

Im Jahr 2020 wurde sie vom Forbes Magazine in die Liste der "30 unter 30" aufgenommen. Im selben Jahr wurde sie von der inzwischen aufgelösten amerikanischen feministischen Website Bitch Media in die 2020 Bitch 50 aufgenommen, die jedes Jahr Personen ehrt, die einen wichtigen Beitrag zur Schaffung einer besseren und gleichberechtigten Gesellschaft in der Welt geleistet haben. Im Jahr 2023 wurde sie von der niederländischen Handelskammer für ihre Arbeit mit dem Creative Hero Award ausgezeichnet.

Von 2018 bis 2022 war sie Mitglied des Exekutivausschusses der Tschechischen Frauenlobby und der Gruppe „Observatory on Violence against Women“ der Europäischen Frauenlobby.

Quelle

Pavel Fischer ist ein tschechischer Diplomat und Politiker. Er kandidierte bei den Präsidentschaftswahlen 2018 und 2023.

Von 1993 bis 1995 arbeitete er als stellvertretender Direktor des Prager Instituts für Kommunikation. Anschließend war Fischer bis 2003 in leitenden Funktionen in der Präsidentschaftskanzlei unter Staatspräsident Václav Havel tätig. 2003 wurde er zum tschechischen Botschafter in Frankreich und Monaco ernannt, ein Amt das Fischer bis 2010 innehatte. Danach kehrte er nach Prag zurück und war bis 2013 Leiter der Sektion für multilaterale Sicherheitsfragen im Außenministerium. Fischer war außerdem Berater für den Generalstab der Streitkräfte der Tschechischen Republik und für Kulturminister Daniel Herman.

Bei der Präsidentschaftswahl 2018 belegte er mit 526.694 Stimmen (10,23 %) den dritten Platz. Bei den Wahlen zum Senat des Parlaments der Tschechischen Republik im Oktober 2018 wurde er zum Senator im Wahlkreis Nr. 17 in Prag gewählt. Dreimal wurde er zum Vorsitzenden des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten, Verteidigung und Sicherheit gewählt. Bei der Präsidentschaftswahl 2023 belegte er mit 376.705 Stimmen (6,75 %) den vierten Platz.

Quelle

Folge 2: Deutsch-Tschechische Beziehungen

Die nationalsozialistische Besatzung der Tschechoslowakei und die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg haben die tschechisch-deutschen Beziehungen für Jahrzehnte schwer belastet. Der große Umschwung kam erst nach der politischen Wende von 1989. Heute betonen die Politikerinnen und Politiker immer wieder, die Beziehungen seien so gut wie nie zuvor. Doch wie tief reicht das? Sind auch die Kontakte zwischen den Menschen auf beiden Seiten und entlang der Grenze intensiv? Was trägt die zivilgesellschaftliche Ebene dazu bei? Und wie wirken sich politische Differenzen zu Themen wie Migration, Energiepolitik und der Hilfe für die Ukraine aus? Und nicht zuletzt: Welches Bild haben die Menschen in Tschechien von Deutschland und die Deutschen von Tschechien? Darum geht es in der zweiten Folge der zweiten Staffel von „Sechsmal Tschechien“ zum Thema Deutsch-Tschechische Beziehungen, die Till Janzer in Zusammenarbeit mit Ivo Vacík vorbereitet hat.

Kurze Zusammenfassung Geschichte der Beziehungen bis 1989

In der Zwischenkriegszeit gestalteten sich in der Tschechoslowakei die Beziehungen zwischen Mehrheit und deutscher Minderheit zwiespältig: auf der einen Seite besaßen die Deutschen unter anderem eine parlamentarische Vertretung und ein eigenes Schulsystem, auf der anderen Seite aber keine Autonomie. Die Lage verschärfte sich nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten 1933 und dem Aufschwung der Sudetendeutschen Partei in der Tschechoslowakei, die sich immer mehr an Adolf Hitlers Programm anlehnte. Beim Münchner Abkommen von 1938, das ohne die Mitwirkung der Tschechoslowakei beschlossen wurde, stimmten Großbritannien, Frankreich und Italien einer Abtretung der sudetendeutschen Gebiete an das Dritte Reich zu. Schon 1939 schritt Hitler unter Bruch seines Versprechens von München zur „Zerschlagung der Rest-Tschechei“, wobei das Selbstbestimmungsrecht der Völker von ihm erstmals offen mit Füßen getreten wurde. Es wurde das sogenannte Protektorat Böhmen und Mähren geschaffen, dessen Bevölkerung bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 massiv unter der deutschen Besatzung zu leiden hatte (zum Beispiel im berüchtigten Massaker von Lidice nach dem tschechischen Attentat auf den „Stellvertretenden Reichsprotektor in Böhmen und Mähren“ Reinhard Heydrich, durch die Vernichtung vieler tschechischer Juden im Holocaust oder Vertreibung der tschechischen Bevölkerung ins Landesinnere). Ab Kriegsende kam es dann zur Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei. Hierbei wurden von tschechischer Seite auch Massaker an Deutschen verübt, beispielsweise im Brünner Todesmarsch. Nicht wenige Deutsche durften in der Tschechoslowakei verbleiben, dies waren neben Fachkräften auch vom NS-Regime unbelastete deutsche Familien.

Mit dem Februarumsturz 1948 etablierte sich in der Tschechoslowakei ein kommunistisches Regime. In der Folge blieb das Land zum Nachbarstaat Bundesrepublik Deutschland bis zum Fall des Kommunismus durch den Eisernen Vorhang, insbesondere auch durch den Tschechoslowakischen Wall, und ideologische Gegensätze getrennt.

Zwischen der DDR und der ČSR kam es bereits kurz nach Kriegsende zu einer Annäherung. Im Juni 1950 verabschiedeten die beiden Staaten die sogenannte Prager Erklärung, in den beiden Staaten jeweils auf Gebietsansprüche verzichteten. Außerdem wurde darin das Münchner Abkommen für ungültig sowie die Zwangsaussiedlung der Deutschen als unabänderlich, gerecht und endgültig gelöst erklärt. Als Folge der ab 1969 eingeschlagenen neuen Ostpolitik der Bundesrepublik Deutschland schloss diese am 11. Dezember 1973 mit der Tschechoslowakei einen völkerrechtlichen Vertrag, in dem das Abkommen von München für nichtig und die gemeinsame Grenze für unverletzlich erklärt wurde und die Vertragsparteien sich zur gegenseitigen Achtung der territorialen Integrität verpflichteten („Prager Vertrag“). Unmittelbar im Anschluss nahmen die beiden Staaten diplomatische Beziehungen zueinander auf, Botschaften in Prag und Bonn wurden eröffnet. Die Niederschlagung des „Prager Frühlings“ 1968 durch die Staaten des Warschauer Paktes wurde auch von der DDR-Regierung befürwortet.

Beziehungen nach 1989

Nach der Samtenen Revolution 1989 konnten die Beziehungen zwischen dem wiedervereinigten Deutschland und der Tschechoslowakei, beziehungsweise ab 1993 Tschechien auf eine neue Grundlage gestellt werden, wobei die Aufarbeitung der Vergangenheit eine große Rolle spielte. Grundlegend für den Wandel der Beziehungen nach Ende des Kalten Krieges sind zum Beispiel der deutsch-tschechische Nachbarschaftsvertrag von 1992 sowie die deutsch-tschechische Erklärung von 1997. Auf der Grundlage der deutsch-tschechischen Erklärung entstanden auch das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum und der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds. Allerdings sind die die Vertreibung der Sudetendeutschen legitimierenden Beneš-Dekrete in Tschechien weiterhin in Kraft. Für Entspannung sorgen die zahlreichen Städte- und Gemeindepartnerschaften.

Beziehungen bis 1997 – Weg zu der Deutsch-Tschechischen Erklärung – Rolle von Václav Havel

Die Deutsch-Tschechische Erklärung (eigentlich Deutsch-Tschechische Erklärung über die gegenseitigen Beziehungen und deren künftige Entwicklung, tschechisch Česko-německá deklarace o vzájemných vztazích a jejich budoucím rozvoji) ist ein grundlegendes Dokument der Regierungen der Bundesrepublik Deutschland und der Tschechischen Republik von 1997, in dem beide Seiten erklärten, dass sie „ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden“. Gleichzeitig vereinbarten sie die Einrichtung des Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds. Der am 21. Januar 1997 von Bundeskanzler Helmut Kohl und Bundesaußenminister Klaus Kinkel sowie Premierminister Václav Klaus und Außenminister Josef Zieleniec in Prag unterzeichneten Erklärung stimmten sowohl der Deutsche Bundestag (am 30. Januar) als auch das tschechische Parlament (am 14. Februar) zu. Nach den Verhandlungen zwischen beiden Regierungen wurde die Erklärung nach etwa dreistündiger Aussprache vom Deutschen Bundestag am 30. Januar 1997 mit einer Mehrheit von 577 Stimmen angenommen; 20 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion stimmten dagegen, 23 Abgeordnete der CDU/CSU-Fraktion und der PDS enthielten sich. Im tschechischen Abgeordnetenhaus hingegen wurde eine kontroverse viertägige Debatte geführt, die sich teils bis spät in die Nacht erstreckte. Die Kommunisten und die Republikaner waren gegen die Erklärung, auch einige andere Abgeordnete hatten Vorbehalte. Die Kritiker fürchteten insbesondere, dass die Erklärung einem deutschen Revisionismus und Entschädigungsforderungen der sudetendeutschen Vertriebenen den Weg bereiten könne, da die entsprechenden Punkte nicht deutlich genug geregelt seien. Die Debatte war von vielen Unterbrechungen gekennzeichnet, häufig verursacht von Kommunisten und Republikanern, die mehrfach Anträge auf die Verschiebung der Debatte einbrachten. Am Abend des 14. Februar 1997 beschloss das Abgeordnetenhaus die Annahme der Erklärung mit 131 zu 59 Stimmen. Die Erklärung besteht aus einer Präambel und acht Punkten. Punkt eins hebt auf die Weiterentwicklung der Beziehungen „im Geiste guter Nachbarschaft und Partnerschaft“ ab, wobei der „gemeinsame Weg in die Zukunft ein klares Wort zur Vergangenheit“ erfordere. Im zweiten Punkt wird deutsches Bedauern ausgedrückt über das Münchner Abkommen, die Zerschlagung und Besetzung der Tschechoslowakischen Republik sowie die nationalsozialistische Gewaltherrschaft, im dritten Punkt tschechisches Bedauern über Leid und Unrecht durch die Vertreibung, Enteignung und Ausbürgerung der Sudetendeutschen sowie darüber, dass Exzesse nicht bestraft wurden. Zentral ist Punkt vier, der feststellt, dass „jede Seite ihrer Rechtsordnung verpflichtet bleibt und respektiert, dass die andere Seite eine andere Rechtsauffassung hat. Beide Seiten erklären deshalb, dass sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.“ Im Punkt sieben wird die Einrichtung eines deutsch-tschechischen Zukunftsfonds, im Punkt acht die Fortführung der Arbeit der deutsch-tschechischen Historikerkommission sowie die Einrichtung eines deutsch-tschechischen Diskussionsforums vereinbart.

Diplomatische Beziehungen

Tschechien verfügt über eine Botschaft in Berlin, zwei Generalkonsulate (in Dresden und München), ein Konsulat in Düsseldorf und hat sechs Honorarkonsuln (in Dortmund, Frankfurt am Main, Hamburg, Nürnberg, Rostock und Stuttgart). Es existiert eine deutsche Botschaft in Prag.

Wirtschaft

Deutschland und Tschechien haben eine starke wirtschaftliche Verbindung. Im Jahr 2019 betrug das Handelsvolumen 98 Mrd. Euro. Deutschland ist hierbei mit Abstand der stärkste Handelspartner für Tschechien. Umgekehrt ist Tschechien einer der zehn größten Handelspartner. Tschechien exportiert hierbei mehr nach Deutschland als umgekehrt. In Prag besteht für diesen Austausch die Deutsch-Tschechische Industrie- und Handelskammer.

Die Zahl der Grenzpendler nach Deutschland betrug im Jahr 2023 über 38.000, was gegenüber 2010 einen Anstieg um mehr als das zehnfache darstellt. Nach Polen und vor Frankreich stellt dies die zweitgrößte Gruppe an Grenzpendlern in Deutschland dar. Die allermeisten hiervon pendelt in die direkt angrenzenden Bundesländer Bayern und Sachsen.

Mit 1,2 Mio. Besuchern jährlich stellt Deutschland den größten Anteil am tschechischen Tourismus.

Bildung

Beide Länder gründeten 1997 das Koordinierungszentrum Deutsch-Tschechischer Jugendaustausch Tandem, welches mit seinen Büros in Regensburg und Pilsen Jugend- und Schüleraustausch organisiert.

In Tschechien ist Deutsch, nach dem verpflichtenden Englisch, die beliebteste zweite Fremdsprache. Umgekehrt wird Tschechisch in Deutschland nur selten gelehrt. So gab es in Bayern erst seit 2023 eine Abiturprüfung in Tschechisch als spätbeginnende Fremdsprache an einem einzigen Gymnasium in München.  Daneben gibt es seit 2021 am Joseph-von-Fraunhofer-Gymnasium Cham das Wahlfach Tschechisch.  Laut eigenen Angaben ist die Siegmund-Wann-Realschule Wunsiedel seit 2007 die einzige Realschule in Bayern, die Tschechisch als Wahlpflichtfach anbietet.  Bayern beabsichtigt in den 3 Grenzbezirken zu Tschechien jeweils eine zweisprachige Schule zu errichten.

Darüber hinaus existiert in Sachsen bereits seit 1998 am Friedrich-Schiller-Gymnasium Pirna ein binationales Schulkonzept, bei dem tschechische und deutsche Schüler gemeinsam das Abitur bzw. die Matura ablegen.

Mit der Deutschen Schule in Prag, deren Geschichte bis 1989 zurückgreicht, gibt es eine deutsche Auslandsschule in Tschechien. Daneben legen die durch die Landesversammlung der deutschen Vereine in der Tschechischen Republik gegründeten Schulen, das Thomas-Mann Gymnasium und die Grundschule der deutsch-tschechischen Verständigung, einen starken deutschsprachigen Schwerpunkt. In Deutschland gibt es in Frankfurt am Main (seit 2003), Dresden und München drei tschechische Auslandsschulen (Česká škola bez hranic).

In Tschechien studierten im Jahr 2021 insgesamt 969 Deutsche. Diese Zahl stieg seit 2001, als die Zahl nur 28 betrug, deutlich an. Dies ist insbesondere auf die Zulassungsfreiheit von Humanmedizin in Tschechien zurückzuführen. Der Anteil der Studierenden in diesem Fach an allen in Tschechien studierenden Deutschen betrug 2021 insgesamt 44 %. Dies entsprach 0,7 % aller im Ausland studierenden Deutschen bzw. 1,8 % der in Tschechien studierenden Ausländer. Umgekehrt studierten in Deutschland 2017 insgesamt 1860 Tschechen.

Kultur

Beide Staaten unterhalten im jeweiligen Nachbarstaat Kulturzentren. Das Tschechische Zentrum unterhält aktuell in Berlin und München zwei Standorte in Deutschland. Das Goethe-Institut unterhält in Prag einen Standort.

Die deutsche Minderheit in Tschechien ist in der sogenannten Landesversammlung organisiert. Mit der Ackermann-Gemeinde und dem Adalbert Stifter Verein entstanden nach dem Zweiten Weltkrieg durch Sudetendeutsche zwei Organisationen, die sich um den Deutsch-Tschechischen Kulturaustausch bemühen. 1993 entstanden ein tschechischer (Karel) und ein deutscher (Karl) Klostermann Verein, die sich, im Sinne ihres Namenspatrons, um das Zusammenleben im bayerischen Wald bzw. Šumava (Böhmerwald) bemühen.

Das jahrhundertelange Zusammenleben führte zu vielen Überschneidungen. So war etwa Wien die zweitgrößte tschechische Stadt.

Die tschechische Sprache weißt viele Germanismen und umgekehrt insbesondere das (österreichische) Bairische und Sächsische viele Lehnwörter aus dem Tschechischen. In Tschechien stieß dies zur Zeit der Nationalen Wiedergeburt auf Widerstand, insbesondere bei Josef Dobrovský und Josef Jungmann, die das sich seit 1620 entwickelte Gemeintschechisch ablehnten und das ursprünglichere Veleslaviner Tschechisch als Grundlage ihrer Arbeiten zur tschechischen Schriftsprache nahmen. Dies führt bis heute dazu, dass sich das gesprochene (Obecná čeština) und das geschriebene Tschechisch (Spisovná čeština) deutlich unterscheiden.

Auch die Küchen Böhmens, Österreichs, Bayerns und Sachsens weisen Überschneidungen auf. Ebenso Bier als Nationalgetränk. Hier gab es Kooperationen, wie etwa beim Pilsner Bier, dass durch den bayerischen Braumeister Joseph Groll erstmals beim Plzeňský Prazdroj gebraut wurde, als auch Konkurrenz. So wurde Budweiser Budvar, dass 1895 als tschechisches Gegenstück zum deutschsprachigen Budweiser Bürgerbräu eingeführt.

Mehr dazu finden Sie auf Wikipedia, im Vertrag über gute Nachbarschaft und die Deutsch-Tschechische Erklärung im Wortlaut finden Sie auf der Webseite des Bundestages

Intro:
"Sechsmal Tschechien – die zweite Staffel – Sechs neue Folgen, sechs neue Themen, ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und Radio Prague International."

Till Janzer:
"Die nationalsozialistische Besatzung der Tschechoslowakei und die Vertreibung der deutschsprachigen Bevölkerung nach dem Zweiten Weltkrieg haben die tschechisch-deutschen Beziehungen für Jahrzehnte schwer belastet. Der große Umschwung kam erst nach der politischen Wende von 1989. Heute betonen die Politikerinnen und Politiker immer wieder, die Beziehungen seien so gut wie nie zuvor. Doch wie tief reicht das? Sind auch die Kontakte zwischen den Menschen auf beiden Seiten und entlang der Grenze intensiv? Was trägt die zivilgesellschaftliche Ebene dazu bei? Und wie wirken sich politische Differenzen zu Themen wie Migration, Energiepolitik und der Hilfe für die Ukraine aus? Und nicht zuletzt: Welches Bild haben die Menschen in Tschechien von Deutschland und die Deutschen von Tschechien? All das ist Thema für eine weitere Ausgabe unseres Podcasts „Sechsmal Tschechien“. Mein Name ist Till Janzer. Ich habe diese Folge in Zusammenarbeit mit Ivo Vacík für Sie vorbereitet.

An diesem verregneten Montag treffen sich ein paar Leute im Restaurant „Kulturhaus“ (Restaurace Kulturní dům) im tschechischen Grenzort Vejprty / Weipert. Die meisten sind Rentner, andere haben an dem Tag frei und müssen nicht arbeiten. Ginge man die Straße der Grenzwacht (ulice Pohraniční stráže) weiter hinunter, wäre man in drei Minuten auf der sächsischen Seite. Bärenstein heißt die Gemeinde dort. Doch sind die Restaurantbesucher auch mit den Menschen in Bärenstein in Kontakt? Das will ich wissen…"

Rudolf Zapp (übersetzt ins Deutsche):
„Sie kommen hier herüber, gehen zum Fußball, zum Eishockey, setzen sich in die Kneipe. Außerdem drücken sie den Tschechen im Sport die Daumen, also alles gut“

Till Janzer:
"meint Rudolf Zapp, der sagt, sein Vater sei Deutscher gewesen. Oder genauer: einer der früheren deutschsprachigen Bewohner des damaligen Weipert. Deutschböhmen stellten bis zur Vertreibung von 1945 und 1946 die Mehrheit in der Stadt. Ehemals bestand auch keine Sprachbarriere. Und heute?"

Rudolf Zapp (übersetzt ins Deutsche):
„Wir verständigen uns tschechisch-deutsch. Ich selbst spreche auch ein bisschen Deutsch.“

Till Janzer:
"Direkt Freunde habe er jedoch nicht, bekennt Rudolf Zapp. Er ist Sänger der Bluesrockgruppe BaR Band aus Vejprty. Und ihre Musik käme auch gut auf der anderen Seite der Grenze an, meint er…

An einem weiteren Tisch sitzt Antonín Polivka."

Antonín Polívka (übersetzt ins Deutsche):
„Ich habe Freunde in Neudorf. Wir kennen uns schon seit 31 Jahren, durch den Fußball. Wir sind gut befreundet, sie schauen jedes Wochenende bei mir vorbei.“

Till Janzer:
"Während im Restaurant im Kulturhaus gerade keine Deutschen eingekehrt sind, kommen einige fürs Mittagessen ins Restaurant „Unter den Linden“ (Pod Lipami) schräg gegenüber. Darunter auch Frank Siegel, der Vorsitzende des Skivereins in Bärenstein. Mit ihm entspinnt sich folgendes Gespräch:

Sie haben gesagt, sie seien aus Bärenstein. Aber wir befinden uns ja in einem Restaurant in Vejprty. Sind Sie häufiger hier?"

Frank Siegel:
„Vielleicht alle drei oder vier Wochen mal. Mein Vater war ein gebürtiger Weiperter. Er hatte die Tradition, jede Woche zum Stammtisch hierherzukommen. Nachdem mein Vater leider jetzt verstorben ist, habe ich die Tradition beibehalten und gehe an dieselbe Stelle, wo mein Vater immer in geselliger Runde getrunken und sich unterhalten hat. Also alle drei oder vier Wochen auf ein schnelles Bier.“

Till Janzer:
"Haben Sie denn auch Freunde hier in Vejprty?"

Frank Siegel:
„Ich habe keine Freunde hier, sondern nur die Bekannten, die man ab und zu mal trifft. Früher hatten wir im Volleyballverein zwei, drei Jungs aus Weipert, die bei uns mitgespielt haben. Aber das ist schon mehrere Jahre her.“

Till Janzer: 
"Würden Sie sich denn wünschen, dass mehr passiert – dass zum Beispiel die Vereine etwas zusammen machen?"

Frank Siegel:
„Die Vereine sind eine Geschichte für sich. Früher gab es in Bärenstein mal einen Fußballverein. Den gibt’s jetzt auch nicht mehr – kein Nachwuchs, denn der Wegzug der jungen Leute ist rasant. Der Erzgebirgsverein arbeitet aber viel mit Weipert zusammen und die Gemeinde Bärenstein sowieso. Die große Geschichte ist unser Bierfest, das dieses Jahr zum zehnten Mal stattgefunden hat. Da sind Weipert und Bärenstein sehr eng miteinander verbunden, man hilft sich. Das Fest ist immer im Juni und wird gut angenommen. Das ist schon ok.“

Musikalische Blende

Till Janzer:
Jitka Gavdunová ist die Bürgermeisterin der Stadt Vejprty – und das schon seit 2002. Sie ist Mitglied der Bürgerdemokraten (ODS), der Partei, der auch der tschechische Premier angehört. Gavdunová behauptet, seit der Wende von 1989 sei es immer nur nach oben gegangen mit den Beziehungen zu Bärenstein.

Jitka Gavdunová (übersetzt ins Deutsche):
„Ich bin mit der Zusammenarbeit sehr zufrieden, sie ist sehr intensiv. Zudem habe ich das Glück, dass ich mich schon mit dem früheren Bürgermeister von Bärenstein auch privat angefreundet habe und mit dem neuen nun ebenso. Umso besser arbeiten wir zusammen, wenn ich die Bürgermeister nicht nur als Kollegen, sondern auch als Freunde bezeichnen kann.“

Till Janzer: 
"Vejprty und Bärenstein gelten als so etwas wie die Vorzeigegemeinden der tschechisch-deutschen Beziehungen. Die gute Zusammenarbeit ist aber nicht nur ein Spiegel der außergewöhnlichen privaten Kontakte in den Rathäusern. Sie sei auch eine Notwendigkeit, betont Gavdunová:"

Jitka Gavdunová (übersetzt ins Deutsche):
„Beide Gemeinden liegen so dicht aneinander, dass ich denke: Selbst wenn wir nicht miteinander reden wollten, müssten wir das aber. Denn viele Probleme lassen sich nicht ohne den anderen lösen.“

Till Janzer: 
"Wie etwa die Reinigung von Abwässern. Bärenstein brauchte in den 1990er Jahren eine Kläranlage, Vejprty hatte eine, deren Kapazität aber nicht vollständig ausgereizt war. Und so kümmerten sich beide Rathäuser darum, dass Bärenstein an die Anlage angeschlossen wurde. Aber es gibt auch heutige Beispiele:"

Silvio Wagner:
„Wir hatten erst am Freitag eine große gemeinsame Feuerwehrübung hier in Bärenstein. Dabei haben wir auch getestet, wie schnell es denn geht, wenn beispielsweise die Bärensteiner Feuerwehrleute die Tschechen nachfordern. Es hat sechs Minuten gedauert, bis sie an der Einsatzstelle waren. Das passt schon ganz gut“

Till Janzer:
"sagt Silvio Wagner (parteilos), der Bürgermeister von Bärenstein. Gilt das aber auch für die Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger oder für das Vereinsleben?"

Silvio Wagner:
„Ja gut, da ist sicherlich noch ein bisschen Luft nach oben. Wir haben einige Vereine, die mit Tschechien hervorragend zusammenarbeiten wie seit Jahren unsere Geflügelzüchter. Aber im Bereich Sport oder so sehe ich diese Zusammenarbeit eher nicht. Tschechen sind zum Beispiel bei uns in den Vereinen, aber dass sich Vereine gegenseitig besuchen oder miteinander arbeiten, das kann ich nicht bestätigen.“

Musikalische Blende

Till Janzer: 
"Im Verhältnis zwischen Vejprty und Bärenstein zeigt sich auch eine der Besonderheiten an den Beziehungen zwischen Tschechien und Deutschland. Denn die Grenzgebiete im heutigen Tschechien waren bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs mehrheitlich deutschsprachig. Insgesamt lebten 3,5 Millionen sogenannte Sudetendeutsche in der früheren Tschechoslowakei. Sie bildeten nach den Tschechen, aber noch vor den Slowaken, die zweitgrößte Bevölkerungsgruppe im demokratischen tschechoslowakischen Staat, der 1918 entstand.

Allerdings ist dies nicht das einzige Spezifikum. Ein anderes reicht bis ins Mittelalter zurück, also in die Zeiten der Böhmischen Länder. Miroslav Kunštát ist Historiker am Lehrstuhl für deutsche und österreichische Studien der Prager Karlsuniversität, der an der sozialwissenschaftlichen Fakultät angesiedelt ist, und Fachmann für die tschechisch-deutschen Beziehungen:"

Miroslav Kunštát:
„Im Unterschied zu den deutsch-polnischen, deutsch-russischen und deutsch-ungarischen Beziehungen muss man sehen, dass die Gebiete des Königreichs Böhmen und der weiteren Kronländer seit dem 10. Jahrhundert immer Bestandteile des Heiligen Römischen Reiches waren. Das spiegelt sich auch im Satz des früheren Präsidenten Václav Havel, dass die Deutschen und Deutschland Teil unserer Identität, unseres Schicksals sind.“

Till Janzer: 
"Aber mit der Bildung der Nationalstaaten – des Deutschen Reiches 1871 und der Tschechoslowakei nach dem Ersten Weltkrieg – begann eine Trennung, die sehr schmerzhaft wurde. Die Sudetendeutschen wurden dabei zum Zankapfel und zum Faktor in den Beziehungen zwischen beiden Staaten. Dies führte zur Zerschlagung der Tschechoslowakei durch Hitler und zur nationalsozialistischen Besetzung von Böhmen und Mähren ab 1939. Und nach dem Zweiten Weltkrieg wurden die meisten Sudetendeutschen in der Vertreibung nach Deutschland geschickt, wo sie sich ansiedelten.

Während des Kalten Krieges belastete diese gemeinsame Geschichte besonders die Beziehungen zur Bundesrepublik, während die DDR und die sozialistische Tschechoslowakei offiziell als Bruderstaaten galten. Erwähnt sei, dass aber 1961 DDR-Bürger und ab 1963 auch Bundesbürger ins Nachbarland reisen durften."

Hans-Dietrich Genscher:
„Wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise…“

Miroslav Kunštát:
„Die Tschechoslowakei spielte dann nolens volens eine wichtige Rolle in der neuesten Geschichte Deutschlands. Damit meine ich die Fluchtwelle der DDR-Bürger über Prag. Und die kurze Rede des damaligen bundesdeutschen Außenminister Hans-Dietrich Genscher in der Botschaft in Prag war ein Signal, dass sich wirklich etwas ändert. Auch die tschechoslowakischen Bürger haben es so wahrgenommen, dass dieses Ereignis und einige Wochen später der Fall der Berliner Mauer auch für sie unmittelbare Konsequenzen haben werden. Das hat sich bestätigt mit dem 17. November und dem Beginn der Samtenen Revolution, die ganz andere Perspektiven für das deutsch-tschechoslowakische oder deutsch-tschechische Verhältnis eröffnet hat.“

Till Janzer: 
"Die neuen Perspektiven taten sich zwar auf, doch der Bruch durch den Zweiten Weltkrieg beeinträchtigte weiter die Beziehungen. Daran änderte auch der „Vertrag über gute Nachbarschaft“ nichts, den die Bundesrepublik Deutschland und die Tschechoslowakei 1992 schlossen. Und auch die Entschädigung von tschechischen Opfern von Zwangsarbeit und Holocaust während des Dritten Reiches ließ auf sich warten. Wie Historiker Kunštát sagt, brachten sich beide Seiten auf politischer Ebene zunächst nicht viel Vertrauen entgegen:"

Miroslav Kunštát:
 „Es waren alles aus der Vergangenheit herrührende Themen, die die damaligen Diskussionen in sehr destruktivem Sinn beeinflusst haben. De facto wurde nur über die Vergangenheit gesprochen, obwohl das durch den Nachbarschaftsvertrag nicht beabsichtigt gewesen war. Der Vertrag von 1992 sollte eigentlich die Perspektiven für die Zukunft öffnen.“

Till Janzer: 
"Es war dann der tschechische Staatspräsident Václav Havel, der letztlich die Deutsch-Tschechische Erklärung anregte. Sie wurde am 21. Januar 1997 in Prag unterzeichnet. Die Schlüsselformulierung findet sich in Paragraph IV:

Zitat: „Beide Seiten erklären, daß sie ihre Beziehungen nicht mit aus der Vergangenheit herrührenden politischen und rechtlichen Fragen belasten werden.“

Noch wichtiger waren jedoch jene Passagen, die die Gründung gemeinsamer Institutionen auf den Weg brachten. So entstanden das Deutsch-Tschechische Gesprächsforum als Ort informellen Meinungsaustauschs und vor allem der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds. Miroslav Kunštát:"

Miroslav Kunštát:
„Das war wirklich ein Wendepunkt in den deutsch-tschechischen Beziehungen. Den Zukunftsfonds und seine bis heute andauernde Tätigkeit kann man als Erfolgsgeschichte bezeichnen. Weil über den Zukunftsfonds die Deutschen und Tschechen gemeinsam Projekte vorschlagen und so ein dichtes Netz ermöglicht wurde an grenznahen Beziehungen aller Art und in allen möglichen Bereichen des gesellschaftlichen und kulturellen Lebens.“

Till Janzer: 
"Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds wurde Anfang 1998 ins Leben gerufen. Er wird aus den Staatshaushalten beider Seiten finanziert. Seine erste Aufgabe war allerdings die Entschädigung der tschechischen NS-Opfer, die Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU) bereits 1993 zugesagt hatte.

Tomáš Jelínek ist von tschechischer Seite seit 2005 Geschäftsführer des Zukunftsfonds. Er bestätigt die grundlegende Bedeutung seiner Institution:"

Tomáš Jelínek:
„Ich denke, der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds hat von Anfang an eine grundsätzliche Rolle gespielt, nicht nur in den politischen Beziehungen, aber dann immer mehr auch auf der Ebene der Zivilgesellschaft und zwischenmenschlichen Kontakte. Am Anfang, würde ich sagen, war seine wichtigste Aufgabe, das Vertrauen zwischen Deutschen und Tschechen, zwischen den beiden Staaten zunächst zu helfen aufzubauen und dann zu vertiefen.“

Till Janzer: 
"Vergangenes Jahr feierte der Zukunftsfonds sein 25-jähriges Bestehen. Dabei wurde auch eine Zwischenbilanz gezogen. So konnten seit 1998 über 14.000 Projekte gefördert werden, die in irgendeiner Weise grenzüberschreitend sind oder auf beiden Seiten der Grenze ihre Wirkung entfaltet haben. Was hat sich also laut Jelínek bis heute verändert?"

Tomáš Jelínek:
„Wenn ich direkt ins Jahr 2024 springe, dann geht es jetzt – was auch die Arbeit des Zukunftsfonds und seine Rolle angeht – viel weniger um die Aufarbeitung der Geschichte. Obwohl das nach wie vor ein wichtiges Thema in den Beziehungen bleibt. Es geht auch nicht mehr darum, sozusagen auf der grünen Wiese erst einmal Vertrauen herzustellen, sondern eher darum, daran zu arbeiten, dass man sich nicht aus den Augen verliert – wegen der vielen anderen Aufgaben, Themen und Herausforderungen.“

Till Janzer:
"Denn die Herausforderungen, man könnte auch sagen: Krisen der vergangenen Jahre sind auch an den tschechisch-deutschen Beziehungen nicht spurlos vorübergegangen. Nachdem die Tschechische Republik 1999 der Nato beigetreten war und 2004 auch EU-Mitglied wurde, galt Deutschland laut Historiker Kunštát auch wegen seiner starken Wirtschaft als Vorbild. Das Bild hat jedoch Risse bekommen. Das begann mit der Flüchtlingskrise. Politik und Medien in Tschechien schwenkten im Lauf des Jahres 2015 um in der Sicht auf den großen Nachbarn:"

Miroslav Kunšát:
„Sogar der spätere tschechische Premier Andrej Babiš zeigte sich zunächst offen, ebenso die kirchlichen und weitere Institutionen. Es wurde sogar eine Quote veröffentlicht, wie viele Flüchtlinge Tschechien bereit wäre aufzunehmen. Aber dann radikalisierte sich im Herbst die Situation. Dazu trug der damalige Staatspräsident Miloš Zeman bei. Anlässlich einer Rede am 17. November 2015 lud er politische Rechtaußen ein, unter anderem Martin Konvička, den Vorsitzenden des ‚Blocks gegen den Islam‘. Dabei gilt der Präsident für einen großen Teil der tschechischen Öffentlichkeit als maßgebend und populär. Innerhalb weniger Monate oder sogar Wochen kam es zu einer Trendwende. Und die Parteien haben sofort auf diese Trendwende in der öffentlichen Meinung reagiert. Man wollte keine Flüchtlinge mehr aufnehmen und Europa als Bastion ausbauen. Die früher auch in den Meinungsumfragen populäre deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel wurde zur Hauptschuldigen für die Lage erklärt. Und wenn eine Bundeskanzlerin wiederholt negativ dargestellt wird, dann wird das natürlich auch zum Nachteil für das tschechische Verhältnis zu Deutschland.“

Till Janzer: 
"Seitdem sehen viele Tschechen das Nachbarland auch als abschreckendes Beispiel für eine verfehlte Migrationspolitik. Und mittlerweile hat selbst die Vorbildfunktion im ökonomischen Bereich Risse bekommen. Das aber ist nicht so ohne, denn Deutschland ist bereits seit 1993 der wichtigste Handelspartner Tschechiens. Man ist in ökonomischer Hinsicht stark abhängig vom großen Nachbarland. Wenn es der deutschen Wirtschaft schlecht geht, leidet auch die tschechische. Besonders die Autoindustrien beider Länder sind miteinander verwoben, in Tschechien sitzen viele Zulieferfirmen der Branche. Und nicht zuletzt gehört Škoda zum deutschen Volkswagen-Konzern."

Miroslav Kunšát:
„Deutschland als starker Staat, als wirtschaftlicher Motor Europas. Aber auch ein Deutschland, das diese existenziellen Fragen Europas wie die Masseneinwanderung nicht im Stande ist zu lösen – im Unterschied zu den anderen Ländern wie etwa Schweden oder Dänemark. Auch die Coronakrise hat das heutige Bild Deutschlands geprägt, wenn man sich die Medien anschaut. Also die Probleme mit der Infrastruktur, die nicht mehr so schön funktioniert, Stichwort Deutsche Bahn. Das sind Themen, die hierzulande auch sehr stark mediatisiert werden.“

Till Janzer: 
"Helena Truchlá ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Deutschen Bundestag und Journalistin. Sie lebt in Berlin und veröffentlicht sowohl beim Mitteldeutschen Rundfunk als auch in tschechischen Medien. Was hält sie von dem Deutschlandbild?"

Helena Truchlá:
„Insgesamt zeichnen einige der großen tschechischen Medien – dabei will ich nicht generalisieren – ein Bild, als ginge in Deutschland die Welt unter. Die Migration ist eines von den großen Themen, die das Bild Deutschlands in Tschechien prägen. Aber auch die Klima- und Energiepolitik – was für einen Fehler die Deutschen gemacht haben, als sie sich für die Energiewende entschieden haben. Ich habe mich viel mit Europapolitik beschäftigt und würde sogar sagen, dass das, was Deutschland in Europa macht, denkt oder durchsetzt, dem Bild gleicht, das die Tschechen allgemein von der EU haben.“

Till Janzer: 
"Und dieses verzerrte Bild hat mehrere Ursachen…"

Helena Truchlá:
„Wieder ist es ein bisschen blöd zu generalisieren. Aber es gibt in Tschechien nicht so viele Journalistinnen und Journalisten, die gut Deutsch können und auch regelmäßig im Austausch mit Gesprächspartnern in Deutschland stehen. Und das spiegelt sich in der Berichterstattung wieder. Es ist natürlich sehr schade, dass aktuell nur die öffentlich-rechtlichen Medien in Tschechien einen Berichterstatter oder eine Berichterstatterin in Deutschland haben. Die privaten Medien können sich das nicht leisten, dabei glaube ich, dass dies die Berichterstattung verbessern würde.“

Till Janzer: 
"Ähnliches sagt auch Zuzana Lizcová. Sie leitet am Institut für internationale Beziehungen der Prager Karlsuniversität den Lehrstuhl für deutsche und österreichische Studien. Zudem hat sie früher als Journalistin gearbeitet."

Zuzana Lizcová:
„In Tschechien gibt es hervorragende Journalisten, die sehr gut über Deutschland berichten und sich in dem Land auskennen. Leider äußern sich auch viele Leute zur Lage im Nachbarland, die es gar nicht so gut kennen, aber eine starke Meinung haben. Das ist nicht außergewöhnlich, wir kennen das zum Beispiel auch aus den USA, dass diese Meinungsführer die Stimmung beeinflussen. Ich kann hier nur aus meiner eigenen Erfahrung sprechen: Ich nehme stark wahr, dass die Medienaufmerksamkeit immer dann größer wird, wenn in Deutschland etwas Schlechtes passiert.“

Till Janzer: 
"Meist handelt es sich um Themen wie Migration und Integration, innere Sicherheit, Energiewende, Wirtschaft oder die deutsche Führungsrolle.

Allein aus diesem Jahr gibt es dafür zahlreiche Beispiele, zum Beispiel bei der Frage innerer Sicherheit und deutscher Migrations- und Asylpolitik. Am drastischsten waren die Titel in den tschechischen Medien nach dem Messeranschlag in Solingen am 23. August 2024. Ausgerechnet beim „Festival der Vielfalt“ in der Stadt tötete ein 26-jähriger Syrer drei Menschen und verletzte acht weitere schwer. Die Polizei geht von einem islamistischen Hintergrund aus.

Die größte Zeitung in Tschechien, die nicht zur Boulevardpresse gehört, die Mladá Fronta Dnes, veröffentlichte darauf eine Analyse mit der Überschrift: „Danke, Angela. Nicht Messer töten die Deutschen, sondern die vermasselte Migration“ (Danke, Angelo. Němce neničí nože, ale zpackaná migrace). Oder beim Nachrichtenportal info.cz, das zu einem der größten tschechischen Medienhäuser gehört, war zu lesen: „Solingen als Wendepunkt: „Warum sich Deutschland in seiner ach so schlauen Migrationspolitik fatal verrechnet hat“ (Solingen jako bod zlomu: Proč se Německo fatálně přepočítalo ve své „chytré“ migrační politice).

Laut Helena Truchlá trifft dies bei den Tschechinnen und Tschechen auf fruchtbaren Boden:"

Helena Truchlá:
„In der tschechischen Seele oder in der tschechischen Gesellschaft gibt es immer so ein bisschen Schadenfreude, wenn etwas in Deutschland nicht funktioniert. Und die Editoren, die die Titel in den Medien wählen, wissen, dass die Artikel dann genauso gelesen werden.“

Till Janzer: 
"Und auch einige Politikerinnen und Politiker nutzen das aus. Dazu gehören aber nicht nur Rechtsausleger wie Tomio Okamura, der Vorsitzende der rechtsextremen Partei „Freiheit und direkte Demokratie“, sondern auch der ehemalige Premier Andrej Babiš. Er ist Oppositionsführer im tschechischen Abgeordnetenhaus, seine populistische Partei Ano führt seit Monaten die Wahlumfragen an und hat die Europawahlen im Juni 2024 gewonnen. Über seinen Facebook-Auftritt erreicht Babiš wie Okamura über 400.000 Follower."

Andrej Babiš (tschechisch)

Till Janzer: 
"In seinen Video-Botschaften reagiert er regelmäßig auf Ereignisse in Deutschland. Zum Beispiel am 27. Februar 2024 auf den Jahresbericht des Bundeskriminalamts für 2023, in dem von einem Anstieg der Gewaltkriminalität gesprochen und die Zuwanderung als eine der Ursachen genannt wird. Das dazugehörige Video von Babiš heißt „Wir dürfen nicht so enden wie Deutschland“ (Nesmíme dopadnout jako Německo).

Ebenso zum Bild beigetragen hat der bereits erwähnte frühere Staatspräsident Miloš Zeman. Regelmäßig zog er in seiner Amtszeit, die 2023 endete, über die deutsche Flüchtlingspolitik und die Energiewende her. Bekannt für seine Bonmots, sagte er etwa bei der Pressekonferenz beim Besuch des deutschen Bundespräsidenten Frank-Walter Steinmeier (SPD) am 26. August 2021 in Prag:"

Miloš Zeman (übersetzt ins Deutsche):
„Wir haben auch über den Green Deal Europe gesprochen. Da würde ich sagen, dass unsere Ansichten ziemlich auseinandergehen. Nun, wenn letztlich die Bundesrepublik Deutschland plant, nicht nur einige Kohlekraftwerke, sondern auch Kernkraftwerke abzustellen, dann warten wir ab, welche Folgen das haben wird für die Stromversorgung. Und die Tschechische Republik als bedeutender Stromexporteur wird sehr gerne zu vernünftigen Preisen elektrische Energie auch an Deutschland liefern.“

Musikalische Blende

Till Janzer: 
"Während Deutschland schon wegen seiner Größe in der tschechischen Öffentlichkeit und damit auch in den Medien sehr präsent ist, gilt dies andersherum nicht. Häufig bewegt sich das Geschehen in Tschechien unter dem Radar der deutschen Öffentlichkeit. Zuzana Lizcová:"

Zuzana Lizcová:
„Meine deutschen Freunde sagen mir oft, es sei eigentlich gut, dass Tschechien in den deutschen Medien nicht so oft vorkomme. Das heißt aber zugleich, dass es kein großes Interesse an Themen gibt, die nicht problematisch sind. Dabei besteht sicher viel Raum auch für Themen, die die Kultur des Nachbarlandes betreffen oder die Zusammenarbeit auf solchen Gebieten wie zum Beispiel der Strafverfolgung oder in der medizinischen Versorgung. Es gibt tatsächlich ganz viele Themen, die man behandeln könnte, aber die schaffen es nicht immer in die Schlagzeilen.“

Till Janzer: 
"Helena Truchlá findet es ebenfalls schade, wie vergleichsweise wenig in Deutschland über Tschechien berichtet wird. Vor allem wenn man bedenke, dass beides ja Nachbarländer seien, sagt sie und bemüht sich um eine Erklärung…"

Helena Truchlá:
„Gleichzeitig spielt aber natürlich auch die Sprachbarriere eine Rolle, die zum Beispiel bei der Schweiz oder den Niederlanden geringer ist. Und auch die Größe des Landes, etwa im Vergleich zu Polen. Wir sind einfach ein Juniorpartner, und das spiegelt sich auch in der Positionierung in den Nachrichten.“

Till Janzer: 
"Eine Ausnahme würden die Medien in den Grenzgebieten bilden, so Truchlá.

Wenn aber Tschechien in der politischen Berichterstattung in Deutschland in den letzten Jahren auftauchte, dann häufig eher im Negativen. So etwa als einer der Staaten in der EU, der bei der Klimapolitik bremst. Zuzana Lizcová:"

Zuzana Lizcová:
„Tschechien hat eine andere Energiekonzeption als die Bundesrepublik. Es setzt immer noch sehr auf die Atomkraft, die in Deutschland abgeschafft wurde. Und deutlich weniger werden in Tschechien zum Beispiel die erneuerbaren Energien ausgebaut. Aber ich glaube, diese Sache hat sich in den letzten zwei Jahren schon verändert, auch im Zusammenhang mit der russischen Invasion in der Ukraine. Weil dann das Thema der Energiesicherheit ganz deutlich in den Vordergrund gerückt ist. Und man begreift in Deutschland besser, dass verschiedene Länder unterschiedliche Herangehensweisen haben können in der Energiepolitik.“

Till Janzer:
"Tschechien erhielt während der Migrationskrise auf deutscher Seite auch das Etikett des Totalverweigerers bei der Aufnahme von Flüchtlingen. Das habe sich ebenfalls nun gewandelt, sagt Lizcová:"

Zuzana Lizcová:
„Die russische Invasion in der Ukraine hat auch die Wahrnehmung der Migrationspolitik verändert. Tschechien gehört zu den Ländern, die im Verhältnis zur Bevölkerungszahl die meisten ukrainischen Flüchtlinge aufgenommen haben. Daher kann Tschechien nicht mehr als das Land gelten, das nicht kooperativ ist in dieser Sache.“

Till Janzer: 
"Allgemein war Tschechien nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine vom Februar 2022 eines jener Länder, die innerhalb der EU sofort auch auf eine militärische Unterstützung Kiews gedrängt haben. Da haben sich die Vorzeichen erstmals seit langem umgedreht, denn Deutschland war eher zögerlich. Nicht zuletzt hat die tschechische Munitionsinitiative zu positiven Berichten in deutschen Medien geführt. Bei dieser organisiert Prag weltweit 800.000 Stück Artilleriemunition für die ukrainische Armee und koordiniert die Bezahlung. Allerdings machten zuletzt auch widersprüchliche Meldungen die Runde über stockende Lieferungen und untaugliche Granaten."

Musikalische Blende

Till Janzer:
"Jenseits der politischen Krisen und unvollständigen Bilder, die jeweils vom anderen Land gezeichnet werden, haben sich die Beziehungen auf zivilgesellschaftlicher Ebene und die persönlichen Kontakte entwickelt. Dennoch hätten sie sich verändert seit dem Sturz des Kommunismus und der Öffnung der Grenzen, sagt Tomáš Jelínek vom Zukunftsfonds:"

Tomáš Jelínek:
„Zu Anfang, in den 1990er Jahren, gab es vielleicht nicht so viele Kontakte, nicht so viele Netzwerke. Aber ich würde sagen, generell gab es einen stärkeren Enthusiasmus auf beiden Seiten der Grenze, sich kennenzulernen und die Gräben, die durch die Geschichte und den Eisernen Vorhang entstanden sind, zu überwinden. Das betraf besonders die Generation, die den Fall des Eisernen Vorhangs erlebt hat. Und 25 Jahre nach der Gründung des Zukunftsfonds ist es in vielerlei Hinsicht natürlicher geworden, dass man sich begegnen kann. Die Grenzen hat man eigentlich vergessen. Auch wenn es Flashbacks gab wegen der Corona-Pandemie oder die Grenzkontrollen wegen der Migration. Aber generell sind die Grenzen im Grunde weg. Und die jüngere Generation, glaube ich, spürt nicht mehr so ein inneres Bedürfnis, so etwas zu überwinden, was vielleicht unsere Generation als eine Lebensaufgabe verstanden hat.“

Till Janzer: 
"Der Generationswechsel bedeutet laut Jelínek auch, dass es in den Vereinen und den Institutionen, die sich in den grenzüberschreitenden Beziehungen engagieren, nicht mehr die Kontinuität von früher gibt. Aber dies ist nur ein Grund, der zu gewissen Problemen an der Grenze führt."

Tomáš Jelínek:
„Ein anderer Grund ist die relative Schwäche der Zivilgesellschaft. In Tschechien ist diese Schwäche stärker ausgeprägt. Sie ist auch mehr finanziell oder wirtschaftlich verursacht. Das ist eine schwierige Kombination, wenn der Enthusiasmus der Nachwendezeit schwächer wird und zudem insgesamt die gesellschaftliche Aufgabe, an einer guten Nachbarschaft zu arbeiten, vielleicht nicht so breit als wichtiger Wert geteilt wird. Wenn also das symbolische Kapital derjenigen nicht sonderlich steigt und dann noch die finanzielle Lage nicht so ganz motivierend ist, entsteht eine sehr zerbrechliche Stabilität. Dann ist vieles von konkreten Enthusiasten abhängig.“

Till Janzer: 
"Ein Beispiel sind die Bürgermeisterin in Vejprty und der Bürgermeister in Bärenstein und die vielen weiteren Engagierten in beiden Orten. Auch sie aber kämpfen mit der Sprachbarriere. Was denkt Jitka Gavdunová über dieses Hindernis?"

Jitka Gavdunová (übersetzt ins Deutsche):
„Die Sprachbarriere besteht natürlich. Aber ich würde nach Altersgruppen unterscheiden. Für die jüngere Generation ist die Sprache kein Problem mehr, sie verständigt sich auf Englisch. Aber in meiner Generation, die vielleicht in der Schule Deutsch gelernt hat, können sich viele verständigen, viele aber auch nicht. Heute ist aber die Technik so weit vorangeschritten, dass es hervorragende Übersetzungshilfen gibt. Zuletzt bei meiner Reise nach Portugal habe ich auf Portugiesisch gedankt und um Dinge gebeten. Wenn ich nicht selbst reden wollte, habe ich auf den Knopf gedrückt – und eine Frauenstimme hat das für mich erledigt.“

Till Janzer: 
"Ihr Kollege Wagner nimmt indes die Sprachbarriere weiter als Problem in den grenzüberschreitenden Beziehungen wahr:"

Silvio Wagner:
„Sie wird auch immer ein Problem darstellen. Es gibt zwar viele Tschechen, die Deutsch sprechen, während wir Deutschen – um es salopp zu sagen – eher faul und nicht so fremdsprachenaffin sind.“

Till Janzer: 
Dabei läuft zweimal in der Woche im Informationszentrum in der „Gemeinsamen Mitte“ zwischen Bärenstein und Vejprty ein Tschechischkurs für Deutsche.

Silvio Wagner:
„Den Kurs bietet eine Mitarbeiterin des Rathauses in Weipert an, die bei der Volkshochschule tätig ist. Er wird auch relativ gut genutzt. Aber es ist natürlich nicht die breite Masse, die ihn belegt.“

Till Janzer: 
"Der These, dass die Sprache weiterhin als Barriere in den Grenzregionen wirke, schließt sich auch Zuzana Lizcová an. 2019 veröffentlichte sie zusammen mit der Politlogin Hana Rydza umfassende Daten zu den tschechisch-deutschen Beziehungen. Demnach beherrschten damals nur 8,5 Prozent der Tschechinnen und Tschechen aktiv Deutsch, hatten also Sprachkenntnisse über dem Niveau B1. Die Tendenz gehe aber nach unten, schildert Lizcová:"

Zuzana Lizcová:
„Das Interesse an der deutschen Sprache auf der tschechischen Seite ist geringer geworden. Man sieht das an den Grundschulen, wo heutzutage Englisch als erste Fremdsprache gelehrt wird. Das ist wahrscheinlich richtig so, weil es die Weltsprache Nummer eins ist. Aber es ist schwierig zu erläutern, dass auch die Nachbarsprache wichtig ist.“

Till Janzer: 
"Und Deutsch könnte noch weiter an Boden verlieren. Denn es ist derzeit die beliebteste zweite Pflichtfremdsprache an den Schulen in Tschechien. Das Bildungsministerium in Prag erwägt jedoch seit einiger Zeit, dass die zweite Fremdsprache nur noch fakultativ angeboten werden soll. Allerdings gab es im Mai 2024 einen Wechsel an der Spitze des Ministeriums. Und der neue Ressortchef, Mikuláš Bek (Bürgermeisterpartei Stan), sagte im Sommer, er wolle sich für den Erhalt der zweiten Pflichtfremdsprache einsetzen."

Musikalische Blende

Till Janzer: 
"Der Deutsch-Tschechische Zukunftsfonds hat vor fünf Jahren eine Studie in Auftrag gegeben, um sich über die Hindernisse in den tschechisch-deutschen Beziehungen ein Bild zu machen. Dabei seien zwar auch die Sprachbarriere genannt worden und fehlende Gelder, sagt Tomáš Jelínek. Doch das größte Hemmnis liege woanders, so der Geschäftsführer des Fonds:"

Tomáš Jelínek:
„Wir haben festgestellt: Die Leute in den Grenzgebieten haben durchaus Interesse, die Nachbarn hinter der Grenze kennenzulernen und auch etwas gemeinsam zu machen. Aber sie kommen einfach oft nicht dazu, den ersten Schritt zu machen. Entweder haben sie Befürchtungen und Bedenken, die teilweise mit der Sprache zusammenhängen. Wenn sie aber dann den ersten Schritt gemacht haben, stellen sie fest, dass sie sehr gut kommunizieren können. Oder sie haben keine Zeit dafür gefunden, die Idee fehlte, was man machen kann, oder man wusste nicht, an wen man sich wenden kann.“

Till Janzer: 
"Der Zukunftsfonds hat deswegen vor drei Jahren ein Programm initiiert, das sich „Ein Jahr an der Grenze“ nennt. Bis zu acht Teilnehmende sind dabei entlang der ganzen Grenze im Einsatz, um Inspirationen für gemeinsame Projekte und Unternehmungen zu liefern und dabei helfend unter die Arme zu greifen. Und das zeitige Erfolg…"

Tomáš Jelínek:
„Es gibt nämlich unheimlich viele interessante Leute und Aktivitäten in den Grenzgebieten, die aber voneinander nicht wissen. Diese Leute sind meist offen, kreativ, enthusiastisch – und es reicht oft nur wirklich ein Funke, dann läuft das oft auch ohne unsere Unterstützung und weitere Hilfe.“

Till Janzer: 
"Ein Schock für viele, die in den grenzüberschreitenden Beziehungen engagiert sind, brachte jedoch die plötzliche und nicht koordinierte Grenzschließung während der Corona-Zeit. Bürgermeister Wagner sagt, dass gerade jene Bärensteiner, die noch die DDR kennengelernt hatten, damit zu kämpfen hatten. Zudem verweist er darauf, wie wenig durchdacht dies war, angesichts von vielen tschechischen Beschäftigten bei Unternehmen im deutschen Grenzgebiet. Er nennt ein Beispiel:"

Silvio Wagner:
„Das Krankenhaus in Annaberg, das Erzgebirgsklinikum, hat sehr viele tschechische Mitarbeiter. Und wenn die dann plötzlich nicht mehr zur Arbeit kommen, ist das schon ein großes Problem. Für uns war das echt eine bedrückende Situation, die Grenze wieder verschlossen zu sehen.“

Till Janzer: 
"Hat das aber auch die Zusammenarbeit nachhaltiger geschädigt? Das wollte Zuzana Lizcová zusammen mit ihren Kolleginnen und Kollegen vom Lehrstuhl sowie mit der Politologin Jana Urbanovská von der Masaryk-Universität in Brno / Brünn wissen. In einem Forschungsprojekt nahmen sie die Zusammenarbeit im Nichtregierungssektor unter die Lupe. Das Projekt wurde im Übrigen vom Zukunftsfonds initiiert und gefördert. Lizcová sagt:"

Zuzana Lizcová:
„Da sieht man tatsächlich, dass die Strukturen nach der Corona-Pandemie – die einen bedeutenden Einschnitt bedeutet hat – noch fragiler geworden sind. Wie es langfristig aussieht, wissen wir noch nicht. Das Problem ist, dass viele grenzüberschreitende Projekte von Einzelpersonen abhängen, die etwas in ihrer Freizeit machen. Wenn solch eine Zusammenarbeit dann unterbrochen ist, ist es ganz schwierig, wieder daran anzuknüpfen. Im Laufe unserer Studie haben uns viele Leute gesagt, dass sie nach der Pandemie viele Kontakte verloren haben und dass es notwendig ist, neue Wege der Zusammenarbeit zu finden.“

Till Janzer: 
"Besonders bei vielen Schulpartnerschaften habe die Corona-Zeit zum Abbruch der Kontakte ins Nachbarland geführt, so Lizcová. Das kann auch Tomáš Jelínek bestätigen. Aber er sagt, dass sich mittlerweile alle Bereiche, die der Zukunftsfonds fördert, vollständig erholt hätten. Und das, obwohl nicht nur im Fall der Schulen zahlreiche Partnerschaften weggebrochen seien…"

Tomáš Jelínek:
„Es war dann in einigen Fällen nicht mehr möglich weiterzumachen. Aber zum Glück konnten wir sehen, dass es mehr Partnerschaften gibt, die neu entstanden sind, als die, die weggebrochen sind.“

Till Janzer: 
"Und zwar auch mithilfe der Fördermittel des Zukunftsfonds. Doch was wäre, wenn diese Gelder wegbrechen? Diese Frage wagt niemand zu stellen. So ist der Bestand des Zukunftsfonds in bisheriger Weise nur bis Ende 2027 gesichert. Jetzt breche die Phase an, in der von Deutschland und Tschechien entschieden werden müsse, wie die Finanzierung des Fonds fortgeführt werde, sagt Jelínek. Denn es gibt noch viel zu tun. So betont Zuzana Lizcová, dass die Zusammenarbeit über die Grenze hinweg immer noch sehr unterschiedliche Erfolge aufweise:"

Zuzana Lizcová:
„Die deutsch-tschechische Grenze ist sehr lang, und die Situation in den verschiedenen Abschnitten ist sehr unterschiedlich. Das hängt auch mit der Geographie zusammen. An vielen Stellen sind Berge, wo es wenige Verkehrsverbindungen gibt. Man kann sagen, dass manchmal die Grenze dort durchlässiger ist, wo der Eiserne Vorhang nicht gestanden hat. Tatsächlich gibt es viele Themen, die man mit den ehemaligen Ostdeutschen teilt – etwa die gemeinsame historische Erfahrung. Aber an einigen Stellen funktioniert die Zusammenarbeit ganz gut. Da hat man während der Corona-Pandemie plötzlich festgestellt, dass so etwas wie eine Grenze überhaupt existiert. Die Leute hatten das nicht mehr so wahrgenommen. An manchen Stellen sagen die lokalen Aktivisten aber, dass die Tschechen und Deutschen immer noch mit dem Rücken zur Grenze stehen.“

Musikalische Blende

"Das war Sechsmal Tschechien! In dieser zweiten Staffel blicken wir auf die Themen: Frauenrechte und Gleichstellung, die deutsch-tschechischen Beziehungen, die Lage der Medien, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wie ist die Sozialpolitik in Tschechien ausgerichtet, welche Rolle spielen Bürgerbeteiligung und politische Bildung? Sechsmal Tschechien. Staffel 1 und 2: Überall da, wo es Podcasts gibt. Eine Produktion der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und Radio Prague International. Wenn Ihnen unser Podcast gefällt, bewerten Sie uns gerne und empfehlen Sie uns auf Ihrer liebsten Podcast-Plattform weiter. Abonnieren Sie diesen Podcast, damit Sie keine Folge verpassen."

Zu Gast in dieser Folge:

Helena Truchá war als Journalistin für Aktualne.cz, Hospodářské noviny und den MDR tätig. Ihre Schwerpunkte sind tschechische Außenpolitik, Migration, EU und digitale Gesellschaften. Truchlá studierte Politikwissenschaften an der Masaryk-Universität in Brünn. Aktuell arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin für (Ost-)Europapolitik im Bundestag.

Dr. Miroslav Kunštát hat Archivwissenschaft und Historische Hilfswissenschaften an der Philosophischen Fakultät der Karls-Universität in Prag studiert und 1983 den Kleinen Doktortitel (PhDr.) erworben. 2004 hat er im Studienfach Internationale Territorialstudien promoviert und Ph.D.-Titel erworben. Nach dem Studium hat er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter im Rektorat der Karlsuniversität im Institut für Geschichte der Karls-Universität – Archiv der Karls-Universität gearbeitet. 1993-2003 war er im Büro des Präsidenten der Tschechischen Republik, in der Abteilung für Außenpolitik als Fachreferent und später als Berater tätig. Seit 1994 ist er wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Fakultät für Sozialwissenschaften, Institut für Internationale Studien der Karls-Universität in Prag tätig. 2002-2004 hat er im Forschungszentrum für die Wissenschaftsgeschichte der Akademie der Wissenschaften und 2008-2020 im Masaryk-Institut und Archiv der Akademie der Wissenschaften als wissenschaftlicher Mitarbeiter gearbeitet. Seine Forschungsgebiete sind: Tschechisch-deutsche und tschechisch-österreichische Beziehungen nach 1945; tschechoslowakische und tschechische Außenpolitik nach 1945; Kirchen- und Religionsgeschichte des 20. Jahrhunderts; Wissenschaftsgeschichte und akademische Bildung; aktuelle politische und gesellschaftliche Probleme der deutschsprachigen Länder. Er ist Mitglied in verschiedenen Gremien, u.a. Collegium Carolinum, München, Kuratoriumsmitglied der Akademie Mitteleuropa, Bad Kissingen, Forum Mitteleuropa – Sudetendeutsches Museum, München und war Mitglied des Verwaltungsrates des Tschechisch-Deutschen Zukunftsfonds.

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Dr. Zuzana Lizcová wirkt als akademische Mitarbeiterin am Lehrstuhl für deutsch-österreichische Studien an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karls-Universität Prag (FSV UK) sowie als Journalistin. In den Jahren 2004-2013 arbeitete sie in der Dokumentarredaktion des Tschechischen Pressbüros (ČTK), wo sie sich auf die deutschsprachigen Länder und Staaten Mittelosteuropas spezialisiert hatte. Danach war sie tätig als unabhängige Publizistin, Analytikerin für die Assoziation für internationale Fragen (AMO) und Koordinatorin des Programms Czech-German Young Professionals (CGYPP).

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Dr. Tomáš Jelínek studierte deutsche und österreichische Studien und Neuere Geschichte an der Karlsuniversität Prag, außerdem studierte er in Nürnberg und Düsseldorf. Im Jahr 2002 arbeitete er im Präsidentenbüro unter Václav Havel als Analyst für die deutschsprachigen Länder. Als Leiter der Dokumentationsabteilung des Prager Büros für Opfer des Nationalsozialismus beim Deutsch-Tschechischen Zukunftsfonds war er für die Bearbeitung und Beurteilung von Entschädigungsanträgen in der Tschechischen Republik zuständig. Seit 2005 ist er Direktor des Tschechisch-Deutschen Zukunftsfonds.

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Folge 3: Religionen und Säkularisierung

Tschechien gilt als eines der am stärksten säkularisierten Länder der Welt. Fast die Hälfte der Bevölkerung bezeichnet sich selbst als nicht gläubig, und ein Drittel verweigert die Frage nach dem Glauben. Nur eine Minderheit ordnet sich einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zu. Was ist damit gesagt? Und wo liegen die Ursachen? Welche Religionen sind eigentlich in Tschechien vertreten und welche Position haben sie in der Gesellschaft? Haben Kirchen in Tschechien Einfluss auf die Politik und wie positionieren sich diese zu kontroversen gesellschaftlichen Themen wie Ehe für alle, Istanbul Konvention oder Hilfe der Geflüchteten? Darum geht es in einer weiteren Ausgabe unseres Podcasts „Sechsmal Tschechien“ zum Thema Religionen und Säkularisierung, die Markéta Kachlíková in Zusammenarbeit mit Ivo Vacík vorbereitet hat.

Die Tschechische Republik ist ein Land mit einer geringen Zahl von Menschen, die sich zu einer Kirche oder Religionsgesellschaft bekennen, und hat nach Estland den zweitniedrigsten Anteil von Bürgern, die sich zu einer religiösen Organisation bekennen. Im Zeitraum 1991-2001 sank die Zahl der bekennenden Gläubigen um mehr als 1,2 Millionen auf 3.288.088 (d.h. 32,14% der Bevölkerung). Bei der Volkszählung 2001 bekannten sich 2.740.780 Personen (26,8 %) zur römisch-katholischen Kirche. In den ersten zwanzig Jahren des 21. Jahrhunderts ist die Zahl der Katholiken deutlich zurückgegangen. Bei der Volkszählung 2021 gehörten 741.019 (7,04 %) der Bevölkerung der römisch-katholischen Kirche an. Einen deutlich höheren Anteil an bekennenden Gläubigen gibt es in den Kreisen und Bezirken Mährens, der Region Südböhmens, der Region Vysočina (davon mehr als die Hälfte in Mähren) und der ehemaligen Region Ostböhmen. In keiner Region der Tschechischen Republik stellen die bekennenden Gläubigen eine Mehrheit der Bevölkerung.

Die Volks-, Haus- und Wohnungszählung 2021 in der Tschechischen Republik ergab, dass 22,2 % der Befragten religiös sind und 13,1 % einer bestimmten Kirche oder Bewegung angehören. Im Gegensatz zu früheren Volkszählungen enthielten die Erhebungsbögen keine Liste der registrierten Kirchen und Religionsgemeinschaften. So formulierte jeder seine Zugehörigkeit mit eigenen Worten. So gibt es z.B. neben der römisch-katholischen Kirche auch "katholisch (katholischer Glaube)". Ähnlich verhält es sich bei der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder, wo es auch einen Eintrag für "evangelisch/evangelischer Glaube (evangelisch, evangelisch)" gibt. Auch dieser Eintrag ist nicht unbedeutend. An dritter Stelle steht der orthodoxe Glaube, meist durch die orthodoxe Kirche in den tschechischen und slowakischen Ländern. Hier ist sogar eine Zunahme zu verzeichnen. An zweiter Stelle unter den Personen, die eine Zugehörigkeit angeben, stehen jedoch die Christen ohne nähere konfessionelle Angabe. Dagegen stieg die Zahl der Jedi-Ritter von 15.070 auf 21.023. Bei den Zeugen Jehovas ist die Zahl der registrierten Personen mit 13.298 bescheiden, obwohl sie eine rege Missionstätigkeit ausüben. Allerdings zählen die Zeugen Jehovas selbst nur aktive Mitglieder, die eine missionarische Verpflichtung eingegangen sind. Zum Islam konvertierten 5.244 Personen, was einem Zuwachs von rund einem Drittel entspricht. Signifikant ist die Zunahme der Zahl der Buddhisten, sowohl durch mehrere Schulen als auch durch keine Angabe, sondern nur durch den Eintrag "Buddhismus". Dramatisch erscheint der Rückgang beim Verband der jüdischen Gemeinden. Innerhalb von zehn Jahren ist sie von 1.132 auf 474 zurückgegangen. Allerdings bekennen sich immer noch 1.427 Personen allgemein zum Judentum. Dies kommt der Zahl von rund 3.000 registrierten Mitgliedern des Bundes der Jüdischen Gemeinden nahe. Dies könnte ein Zeichen dafür sein, dass Menschen jüdischen Glaubens trotz des liberalen tschechischen Umfelds Angst und Sorge haben.

Die Tschechische Republik wird oft als eines der atheistischsten und säkularisiertesten Länder der Welt bezeichnet.

Christentum

Die überwältigende Mehrheit der 1.467.438 erklärten Gläubigen in der Tschechischen Republik (13,89 % der Bevölkerung) bekennt sich zu einer Form des Christentums. Dabei dominiert die römisch-katholische Kirche, zu der sich bei der Volkszählung 2011 1 083 899 Personen (d. h. 10,26 % der Bevölkerung der Tschechischen Republik) bekannten.

Auf die römisch-katholische Kirche folgen andere christliche Gruppen, von denen die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder (51 936 Einwohner) und die Tschechoslowakische Hussitische Kirche (39 276 Einwohner) die größten sind. An zweiter Stelle steht die Orthodoxe Kirche mit 20.628 Gläubigen unter den ständigen Einwohnern der Tschechischen Republik, unter denen es einen beträchtlichen Anteil an Zuwanderern und Tschechen ausländischer Herkunft gibt, insbesondere Russen und Ukrainer. Dieser Kirche gehören auch viele Ausländer an, die seit langem in der Tschechischen Republik leben oder arbeiten (100.000 im Jahr 2001).

Zu den anderen Kirchen mit mehr als 10.000 registrierten Gläubigen gehören die Zeugen Jehovas mit 13.097 Anhängern und die Kirche der Brüder, die die am schnellsten wachsende Kirche in der Tschechischen Republik ist (9.931 Anhänger im Jahr 2001 gegenüber 2.759 im Jahr 1991, d. h. 260 % mehr Anhänger in zehn Jahren), mit 10.872 Anhängern im Jahr 2011.

Judentum

In der Tschechischen Republik gibt es derzeit 10 jüdische Gemeinden (7 in Böhmen und 3 in Mähren), die in der Föderation der jüdischen Gemeinden zusammengeschlossen sind. Gottesdienste finden in vier Synagogen in Prag (Spanische Synagoge, Jerusalemer Synagoge, Alte Synagoge und Hohe Synagoge) und in einigen anderen Städten statt.

Islam

Anders als in Westeuropa ist der Islam in der Tschechischen Republik nicht stark vertreten. Laut Statistik machen die Muslime in der Tschechischen Republik weniger als 0,1 % der Gesamtbevölkerung aus. Der Islam wird hauptsächlich von Zuwanderern praktiziert, nur ein kleiner Teil der Anhänger sind Konvertiten (vor allem Angehörige tschechischer Familien mit gemischtem muslimischem Hintergrund und oft junge tschechische Musliminnen). Funktionierende Moscheen gibt es in Brünn und Prag.

Buddhismus

Im Jahr 2011 bekannten sich mehr als 6100 Menschen zum Buddhismus. Die meisten Vietnamesen in der Tschechischen Republik gehören der Mahayana-Richtung des Buddhismus an, ebenso wie andere, viel kleinere asiatische Minderheiten. Der Thein An-Tempel in Varnsdorf war der erste buddhistische Tempel im vietnamesischen Stil, der in der Tschechischen Republik gebaut und im Januar 2008 eröffnet wurde. Es gibt auch mehrere koreanische buddhistische Tempel in der Tschechischen Republik, jeweils drei in Prag und Brünn.

Die meisten tschechischen Buddhisten sind jedoch Anhänger des Vajrayana (tibetischer Buddhismus). Am weitesten verbreitet sind die Nyingma- und die Kagyü-Schule. Die Karma-Kagyü-Schule hat etwa 50 Zentren und Meditationsgruppen gegründet. Diamantweg-Buddhismus - Die Karma-Kagyü-Linie ist sowohl in der Tschechischen Republik als auch in der Slowakei aktiv. In Prag ist der Bau eines großen Tempels dieser Richtung geplant.

Neuheidentum

In der Tschechischen Republik gibt es eine einheimische Religion, das Neuheidentum, das auf der alten slawischen Religion basiert. Es wurde in der Tschechischen Republik im Jahr 2000 als Bürgervereinigung Rodná víra gegründet, die seit 2010 nur noch als informelle Gemeinschaft funktioniert. Daneben gibt es in der Tschechischen Republik mehr oder weniger organisierte Gemeinschaften des Wicca, des Asatru, des Neodruidentums und anderer neuheidnischer Bewegungen.

Kirchliche Restitution

Kirchliche Restitution ist ein in der Tschechischen Republik gebräuchlicher Begriff für die Rückgabe eines Teils des vom sozialistischen Regime in der Tschechoslowakei verstaatlichten Eigentums. Auf der Grundlage einer politischen Vereinbarung wird ein Teil des Eigentums an eine andere juristische Person derselben Kirche oder an eine andere Kirche oder Religionsgesellschaft als diejenige, von der es enteignet wurde, zurückgegeben. Die jährlichen Entschädigungszahlungen an die Kirchen enden nach 30 Jahren im Jahr 2043.

Umfragen zufolge wünscht sich die Mehrheit der tschechischen Bürger, Regionen, Gemeinden und registrierten Kirchen eine vollständige Trennung von Staat und Kirche in der Tschechischen Republik. Trotz zahlreicher Verhandlungen seit der Samtenen Revolution 1989 wurden bis zum 1. Januar 2013 keine systematischen Schritte unternommen, um den Wunsch nach einer vollständigen Trennung von Staat und Kirche in der Tschechischen Republik umzusetzen. In der Frage der Eigentumsordnung war die Tschechische Republik eines der letzten europäischen Länder.

Nach einigen Unstimmigkeiten innerhalb der Koalition wurde ein weiterer Vorschlag von der Regierung Petr Nečas angenommen. Die Kirchen sollten 56 % ihres früheren Eigentums, vor allem landwirtschaftliche Flächen, zurückerhalten, der Rest sollte durch eine finanzielle Entschädigung in Höhe von 59 Mrd. CZK abgegolten werden, die innerhalb von 30 Jahren zurückzuzahlen wäre. Als Folge dieser kirchlichen Restitution soll auch die Finanzierung der Kirchen aus dem Staatshaushalt schrittweise eingestellt werden.

Neben der Rückgabe bestimmter Vermögensgegenstände sollen so genannte Entschädigungsvereinbarungen zwischen dem Staat und den einzelnen Kirchen oder Religionsgesellschaften zu regelmäßigen Zahlungen eines finanziellen Ausgleichs über einen Zeitraum von 30 Jahren führen, dessen Gesamthöhe im Gesetzentwurf festgelegt wird. Die höchste Entschädigungssumme beträgt 47,2 Mrd. CZK für die römisch-katholische Kirche, 3,1 Mrd. CZK für die Tschechoslowakische Hussitische Kirche und 2,3 Mrd. CZK für die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder.

Atheismus in Tschechien

Věra Haberlová von Meinungsforschungsinstitut STEM schreibt, dass etwa 50% der tschechischen Gesellschaft Atheisten sind. Dies beruhe jedoch auf der einfachen Frage „Glauben Sie an Gott?“, die sie auch als sehr vereinfachende Einschätzung bezeichnet, da ein großer Teil der so eingestuften Befragten auch an eine andere „höhere Macht“ glaube. Die Gesamtgruppe derer, die nicht an Gott glauben, betrug laut STEM-Umfrage im Juni 1996 48,8 % und im Juli 1998 47,6 % der tschechischen Bevölkerung. Im Jahr 1994 bezeichneten sich laut STEM 21,5 % der über 18-Jährigen und 20,3 % der 15- bis 17-Jährigen als Atheisten, während weitere 38,2 % bzw. 40,8 % angaben, nicht religiös zu sein.

Nach einem kurzen Aufschwung nach der Samtenen Revolution von 1989, als sich laut Volkszählung von 1991 43,9 % der Bevölkerung zu einer Religion bekannten, ist ein ebenso rascher Rückgang zu verzeichnen. Gemessen an der Zahl der Bürgerinnen und Bürger, die sich zu einer Religion bekannten, waren 1991 47,6 % ohne Religion, 2001 64,8 % und 2011 62,4 %. Im Jahr 2011 bezeichneten sich nur noch 20,6 % der Bevölkerung als religiös und nur noch 13,9 % als Mitglied einer offiziell anerkannten Kirche. Die Mitgliederzahlen dieser großen traditionellen Kirchen sind tendenziell rückläufig. Ein ähnlicher demografischer Trend, der mit der Alterung der Bevölkerung, der Globalisierung und dem Konsumverhalten zusammenhängt, ist in den meisten entwickelten Ländern der Welt zu beobachten. Einige kleinere Kirchen in der Tschechischen Republik, wie die Brüderkirche, die Apostolische Kirche und die Orthodoxe Kirche, verzeichnen jedoch einen Anstieg ihrer Mitgliederzahlen. Daher wird allgemein davon ausgegangen, dass die Tschechische Republik, wie andere Länder der entwickelten Welt, einen Prozess der so genannten Atheisierung durchläuft.

Nach den Ergebnissen der Volkszählung von 2001 gibt es 7 % mehr Männer als Frauen, die keiner Religion angehören. Betrachtet man die Altersverteilung, so ist der höchste Anteil der Bevölkerung ohne Religion (74 %) in der Altersgruppe der 0- bis 30-Jährigen zu finden, der niedrigste (28 %) in der Altersgruppe der über 60-Jährigen. Aufgeschlüsselt nach Bildungsniveau sind Personen mit höherem Bildungsniveau am stärksten unter der nichtreligiösen Bevölkerung vertreten. Man kann sagen, je höher das Bildungsniveau, desto höher der Anteil der Nichtreligiösen.

In der Eurobarometer-Umfrage der Europäischen Kommission von Anfang 2005 gaben 19 % der tschechischen Bevölkerung an, an einen Gott zu glauben. Dies ist der zweitniedrigste Wert unter den 25 EU-Ländern nach Estland (16%), wo der Durchschnitt bei 35% liegt. 50% der Befragten gaben an, an eine Art Geist oder Lebenskraft zu glauben, der dritthöchste Wert nach Estland (54%) und Schweden (53%) mit einem Durchschnitt von 27%. Dies ist der zweithöchste Wert nach Frankreich (33%) mit einem Durchschnittswert von 18%. In Frankreich bejahten mehr Befragte die Frage, ob sie an Gott glauben (34%). 1 % gab an, es nicht zu wissen, bei einem Durchschnittswert von 3 %. 1.037 Personen nahmen an der Umfrage für die Tschechische Republik teil, insgesamt 32.897 Personen. Der Bericht vermeidet es konsequent, irgendeine Gruppe als Atheisten zu bezeichnen.

Laut Volkszählung 2011 bekennen sich 34,5 % der tschechischen Bevölkerung (einschließlich Kinder) zu keiner Religion. Darunter befinden sich 36 % der Männer (39,5 % in den tschechischen und 30,4 % in den mährischen Landesteilen - einschließlich Vysočina) und 33,1 % der Frauen (37,4 % in Böhmen und 26,6 % in Mähren). 14 % der Bevölkerung gehören einer bestimmten Kirche an (9,6 % in Böhmen und 20,9 % in Mähren), 6,8 % einer Konfession ohne bestimmte Kirche, aber immerhin 44,7 % haben keine Angaben gemacht, was die Aussagekraft der Daten schmälert. Nach Ansicht von Religionssoziologen und Religionswissenschaftlern hängt dies jedoch mit der generellen Zurückhaltung beim Ausfüllen der Volkszählungsdaten zusammen. Am Beispiel der Region Südmähren zeigt sich, dass vor allem die Bevölkerung ohne Schulbildung keine Angaben zur Religion gemacht hat, während der Anteil der Konfessionslosen unter der Bevölkerung mit Hochschulbildung um mehr als 13 % höher ist als unter der Bevölkerung ohne Schulbildung. Die Gläubigen unterscheiden sich auch nach Geschlecht und Alter (in der Altersgruppe bis 15 Jahre sind Männer und Frauen etwa gleich vertreten, aber in der Altersgruppe über 70 Jahre sind nur 35 % der Gläubigen Männer) oder nach Nationalität (Tschechen 22,6 %, Mährer 39,9 %, Schlesier 47,4 %). In kleinen Gemeinden sind die Nichtgläubigen in der Minderheit.

Ein 2018 veröffentlichter Bericht der St Mary's University of London zeigt, dass 91 % der 16- bis 29-Jährigen in der Tschechischen Republik keiner Religion angehören.

Erklärter Atheismus bedeutet jedoch nicht zwangsläufig, dass es keine spirituellen Erfahrungen gibt. Eine in der Tschechischen Republik durchgeführte Studie ergab beispielsweise eine höhere Spiritualität bei Frauen sowie bei Witwen und Witwern. Ein höheres Maß an spiritueller Erfahrung korreliert auch mit dem Alter. Als Einschränkung der Stichprobe wird jedoch die zu geringe Zahl religiöser Befragter angeführt, die eben eine Folge der Befragung einer repräsentativen Bevölkerungsstichprobe in einem säkularen Umfeld ist.

Atheismus und Konfessionslosigkeit in der Tschechischen Republik sind nicht nur eine Folge der vierzigjährigen Herrschaft des kommunistischen Regimes in der zweiten Hälfte des 20. Die tschechische (aber auch die europäische) Religiosität wurde vor allem durch die Modernisierungsprozesse des 19. Jahrhudersts (Industrirevolution).

Die Große Französische Revolution (z.B. Kult der Vernunft) und in der Tschechischen Republik das Toleranzpatent sind Zeichen für den allmählichen Verlust des Einflusses der katholischen Kirche, die bis dahin eine Monopolstellung innehatte. Auch die zunehmende Bildung (Schulpflicht) trug zu diesen Tendenzen bei. Um 1800 beeinflusste der sogenannte Atheismusstreit (Johann Gottlieb Fichte) die deutsche Philosophie (Junghegelianer). In der Tschechischen Republik ist der Atheismus in Nord- und Westböhmen am stärksten ausgeprägt. Das heißt, in den Grenzgebieten zur ehemaligen Deutschen Demokratischen Republik, die heute ebenfalls stark atheistisch geprägt ist. Thüringen und Sachsen waren bereits in der Weimarer Republik Zentren der Säkularisierung.

Der Slogan „Weg von Rom“ wurde ursprünglich 1897 geprägt und leitete die Massenübertritte von Deutschen und Tschechen zu den evangelischen Kirchen ein. Masaryks Version dieses Slogans aus den Anfängen der Ersten Republik führte zur Gründung der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche, die sich hauptsächlich aus katholischen Priestern zusammensetzte, die ihre Mutterkirche verlassen hatten. Ein Teil der ehemaligen katholischen Gläubigen trat den evangelischen Kirchen bei, ein anderer Teil der Hussitischen Kirche, wieder andere wurden konfessionslos.

Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Prager Mariensäule abgerissen. Ein Dekret von 1918 verbot die Teilnahme von Schülern an Gottesdiensten. 1919 wurde die freiwillige Zivilehe eingeführt (der ursprüngliche Vorschlag, der die Trennung von Staat und Kirche verwirklichen sollte, nämlich die Ehe zu einem zivilen Vertrag zu machen, wurde unter der Drohung der Volkspartei revidiert).

Nach der Machtübernahme durch die Kommunisten im Februar 1948 setzte eine massive Verfolgung der Kirchen ein, die Mitte der 1950er Jahre in systematische und schwere Schikanen überging. Die Kirchen wurden unter staatliche Kontrolle gestellt, kirchliche Aktivitäten unterlagen der sogenannten staatlichen Genehmigung. Einige römisch-katholische Priester wurden Mitglieder der Kollaborationsorganisation Pacem in Terris. Obwohl die vorherrschende Ideologie des Marxismus-Leninismus offen antireligiös war, kann dies nicht der einzige Grund für die Abkehr der Tschechen von der Religion im Allgemeinen sein. In anderen kommunistischen Ländern wie Polen oder der Slowakei war die Religiosität nach wie vor sehr hoch.

Quellen: Náboženství v Česku – Wikipedie und Ateismus v Česku – Wikipedie

Intro:
"Sechsmal Tschechien – die zweite Staffel – Sechs neue Folgen, sechs neue Themen, ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und Radio Prague International."

Markéta Kachlíková:
"Tschechien gilt als eines der am stärksten säkularisierten Länder der Welt. Fast die Hälfte der Bevölkerung bezeichnet sich selbst als nicht gläubig, und ein Drittel verweigert die Frage nach dem Glauben. Nur eine Minderheit ordnet sich einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zu. Was ist damit gesagt? Und wo liegen die Ursachen? Welche Religionen sind eigentlich in Tschechien vertreten, und welche Position haben sie in der Gesellschaft? Haben Kirchen in Tschechien Einfluss auf die Politik und wie positionieren sich diese zu kontroversen gesellschaftlichen Themen wie Ehe für alle, die Istanbul Konvention oder Hilfe für die Geflüchteten? Darum geht es in einer weiteren Ausgabe unseres Podcasts „Sechsmal Tschechien“. Mein Name ist Markéta Kachlíková. Ich habe diese Folge in Zusammenarbeit mit Ivo Vacík für Sie vorbereitet.

Libčice nad Vltavou, eine Kleinstadt mit rund 3600 Einwohnern, liegt im Moldau-Tal nördlich Prags. Zwei Kirchentürme dominieren die Gemeinde: Der eine gehört der katholischen St.-Bartholomäus-Kirche, der andere dem Gotteshaus der Evangelischen Kirche der Böhmischen Brüder.

Seit fast 200 Jahren gibt es in der Gemeinde auch die protestantische Gemeinde. Heute hat sie rund einhundert Mitglieder, von denen etwa dreißig aktiv am Leben der Gemeinschaft teilnehmen. Am zweiten Oktober-Sonntag kamen insgesamt zehn Gläubige zum Gottesdienst zusammen.

Das gemeinsame Mittagessen im Pfarrhaus nach dem Gottesdienst bot die Gelegenheit zum Gespräch.“

Jaroslav (übersetzt ins Deutsche):
„Die Gemeinde hat sich in der letzten Zeit sehr verändert. Denn die alteingesessenen evangelischen Familien sind nach und nach verschwunden, auf einem natürlichen Weg oder wegen der Verfolgung in den 1950er Jahren. Heute umschließt die Gemeinschaft Menschen mit mannigfaltigen Schicksalen, die aus unterschiedlichen Ecken des Landes kommen.“

Markéta Kachlíková:
" erzählt Jaroslav. Er selbst habe eine materialistische Erziehung bekommen und erst als Student erstmals die Bibel in der Hand gehalten. Damit habe sein Weg in die evangelische Kirche begonnen, so der Mann. Im Unterschied zu ihm wuchs David schon zu kommunistischen Zeiten in einer traditionellen evangelischen Familie auf."

Jakub (übersetzt ins Deutsche):
„Meine Eltern brachten mich vor 42 Jahren in dieses Gotteshaus, später nahm ich an Jugendveranstaltungen der Kirche teil, ich war stets mit ihren Aktivitäten verflochten. Sie hat mich mein ganzes Leben lang begleitet.“

Markéta Kachlíková:
" Blanka sagt, in der Oberschule sei sie Christen begegnet, die sie zum Glauben gebracht hätten…“

Blanka (übersetzt ins Deutsche):
„Später, als ich schon zwei Kinder hatte, besuchte ich mit ihnen ein Mutterzentrum der hussitischen Kirche in Kralupy. Dort lernte ich meine Taufpatin kennen und wurde im Alter von 24 Jahren getauft. Die hiesige Kirchengemeinde ist meine größere Familie. Denn in unserer Familie bin ich die einzige Gläubige. Meine Kinder sind zwar getauft, suchen aber noch ihren Glauben. Hier finde ich Unterstützung auf meinem Weg zu Gott. Ich bin hier zu Hause.“

Markéta Kachlíková:
"Blankas Tochter Emma, eine Gymnasialschülerin, ist beim Mittagessen im Libčicer Pfarrhaus mit dabei:“

Emma (übersetzt ins Deutsche):
„Ich habe mich vor etwa zwei Jahren auf Grund gewisser psychischer Probleme und Lebenserfahrungen entschieden, nicht gläubig zu sein. Aber trotzdem gehe ich immer hierher. Denn ich habe hier Menschen, die mir nahe stehen, und ich fühle mich hier sehr wohl.“

Markéta Kachlíková:
"Alžběta kommt aus der Ostslowakei. Die Tradition sei dort anders als in Tschechien, betont die junge Frau. Man gehe dort in die Kirche, weil es sich so gehöre:"

Alžběta (übersetzt ins Deutsche):
„Hier gehen die Menschen in die Kirche, wenn sie einen Sinn darin sehen oder wenn es eine Bedeutung für sie hat. Das finde ich eigentlich gut. Wenn hier jemand in die Kirche geht, weiß ich, dass er gläubig ist und dass es da etwas gibt, worüber ich mit ihm reden kann.“

Markéta Kachlíková:
"Und welche Bedeutung hat es für Alžběta, einer Kirche zuzugehören?"

Alžběta (übersetzt ins Deutsche):
„Für mich geht es darum, tief in bestimmten Werten verankert zu sein, in einer Weltanschauung, in einer Erfahrung, die ich mit anderen Menschen teilen kann. Und sehr wichtig ist auch die Gemeinschaft. Ich glaube, das Wertvollste, das ich gefunden habe, als ich hierherkam, war, dass es für mich wie eine Familie funktionierte. Und so ist es immer noch.“

Musikalische Blende

Markéta Kachlíková:
„Die Religionsfreiheit ist in der Charta der Grundrechte und Grundfreiheiten der Tschechischen Republik verankert. Zitat:

„Jeder Mensch hat das Recht, seine Religion oder seinen Glauben frei auszuüben, einzeln oder in Gemeinschaft mit anderen, privat oder öffentlich, durch Gottesdienst, Unterricht, religiöse Praktiken und Beachtung religiöser Gebräuche.“

Die tschechische Gesellschaft ist in Bezug auf die Religion sehr tolerant. Andererseits gilt die Bevölkerung des Landes aber als eine der am stärksten säkularisierten Gesellschaften der Welt. Diese Behauptung stützt sich vor allem auf Daten, die Volkszählungen hierzulande alle zehn Jahre liefern. Im Unterschied zu Deutschland ist die Teilnahme an den Volkszählungen für alle Personen mit einem Wohnsitz in Tschechien verpflichtend. Verzerrend ist allerdings, dass die Antwort auf die Frage nach der Glaubenszugehörigkeit freiwillig ist. Die Befragung sei vereinfacht und ermögliche verschiedene Interpretationen, warnt Zdeněk R. Nešpor, Religionswissenschaftler an der Karlsuniversität und der Akademie der Wissenschaften in Prag:“

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Aber die allgemeinen Behauptungen lassen sich sicherlich bestätigen, nämlich, dass die tschechische Gesellschaft sehr negativ gegenüber dem kirchlichen Christentum und in einem weiteren Sinne gegenüber der Religion eingestellt ist.“

Markéta Kachlíková
"Nešpor vergleicht die Lage mit der in der ehemaligen DDR, die ähnlich stark entkirchlicht sei wie Tschechien. Ähnlich heiße aber nicht gleich, betont er:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Ich denke, dass die evangelische Kirche, obwohl sie in Deutschland mit einer Reihe von Problemen zu kämpfen hat, eine fester verankerte Organisation ist als die tschechischen Kirchen – ob römisch-katholisch oder evangelisch. Und der zweite Punkt, der mir anders erscheint: In den neuen Bundesländern breiten sich zwar auch einige Formen nichtkirchlicher Spiritualität aus, aber nicht in solchem Maße wie in der tschechischen Gesellschaft.“

Markéta Kachlíková
"Da der Staat keine Kirchensteuer erhebt, ist die Religionszugehörigkeit nirgends zentral erfasst. In der Volkszählung von 2021 gaben 47,8 Prozent der Menschen in Tschechien an, nicht gläubig zu sein. 13 Prozent ordneten sich einer Kirche oder Religionsgemeinschaft zu, und weitere 9 Prozent bezeichneten sich als Gläubige, die keiner Kirche zugehören. 30,1 Prozent machten keine Angaben zu ihrem Glauben. Laut dem Religionswissenschaftler ist die öffentliche Meinung in Tschechien schon seit langem a priori kirchenfeindlich:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Das kommunistische Regime hat nur die Tendenzen verstärkt, die es in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit gab. Diese waren antiklerikal und sehnten sich nach einer solchen Art Religion, die privat war und nicht in den öffentlichen Raum eintrat.“

Markéta Kachlíková:
"Welche geschichtlichen und kulturellen Entwicklungen schlagen sich also im heutigen Säkularismus nieder? Die Soziologin Barbora Spalová:"

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„Ein wichtiger Moment ist die tschechische Nationalbewegung, die – anders als beispielsweise jene in Polen oder in der Slowakei – keine religiöse Komponente hatte.“

Markéta Kachlíková
"Der Historiker Johannes Gleixner vom Collegium Carolinum in München verortet die Wurzeln auch im 19. Jahrhundert. Er bestätigt diese Aussage und nennt als weiteren entscheidenden Aspekt, dass die tschechische Nationalbewegung sehr früh antikatholisch geworden sei:“

Johannes Gleixner:
„In der tschechischen Nationalbewegung gibt es etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts klare antikatholische Referenzen, die Referenz auf Jan Hus und auf die Hussiten, auf die Schlacht am Weißen Berg 1620, also die Niederlage der böhmischen Stände und die folgende Rekatholisierung durch die Habsburger.“

Markéta Kachlíková
" Durch diese Referenzen sei das Bild der Habsburger Monarchie, zu der die Böhmischen Länder im 19. Jahrhundert gehörten, als einer katholischen Fremdherrschaft etabliert worden, so der Historiker:“

Johannes Gleixner:
„Daraus leiten damals die wichtigsten Vertreter der tschechischen Nationalbewegung die Haltung ab, dass ein guter Tscheche im Grunde nicht katholisch sein könne. Er kann aber interessanterweise auch nicht einfach protestantisch sein. Einfach aus dem Grund, dass die Mehrzahl der Tschechisch sprechenden Bevölkerung in den Böhmischen Ländern katholisch ist. Es entsteht sehr früh so etwas wie ein antikatholischer Konsens, der nicht so weit weg ist von einem antikirchlichen Konsens ganz allgemein. Im Unterschied zu anderen Nationswerdungen knüpft sich die tschechische Nationalbewegung nicht an eine bestimmte Konfession. Und das ist vielleicht die wichtigste Besonderheit, die man feststellen sollte.“

Markéta Kachlíková
"Nach der Entstehung der eigenständigen Tschechoslowakischen Republik 1918 wurde eine Selbstbestimmung in einem neuen demokratischen Staat demonstriert. Mit dem Fall der Monarchie fielen auch deren katholische Symbole: Die Entfernung der Mariensäule vom Altstädter Ring ist das bekannteste Beispiel."

Johannes Gleixner:
„Wichtig bei der Entstehung der Ersten Tschechoslowakischen Republik ist zudem, dass sich im Auslandswiderstand eher die säkularen oder zumindest laizistisch orientierten Kräfte durchsetzen. Der bekannteste ist Tomáš Garrigue Masaryk, der zum ersten tschechoslowakischen Präsidenten gewählt wird. Er ist bekannt als Kämpfer gegen die katholische Kirche in der Öffentlichkeit und in der Schule, zugleich ist er aber kein Atheist. Hinzu kommt, dass sich schon im 19. Jahrhundert viele Gruppen ausgebildet und gut organisiert haben, die diesen antikatholischen Konsens mittragen. Das sind mehrere sehr antiklerikal, also antikatholisch ausgerichtete Parteien. Und das ist eine im internationalen Vergleich sehr stark organisierte Freidenkerbewegung, die also für Freireligion und später auch für Atheismus eintritt.“

Markéta Kachlíková
"Das wichtigste Ereignis – religionsgeschichtlich – war die Entstehung der sogenannten Tschechoslowakischen Kirche in den 1920er Jahren, die sich von der katholischen Kirche lossagte. Johannes Gleixner fährt fort:“

Johannes Gleixner:
„Was an der Tschechoslowakischen Kirche so besonders ist, ist, dass sie so erfolgreich ist. Bis in die 1930er Jahre gewinnt sie bis zu einer knappen Million Gläubige, die praktisch von der katholischen Kirche abfallen. Und das ist im internationalen Maßstab oder insbesondere im europäischen Maßstab, von dem wir hier sprechen, doch sehr auffällig und eine Besonderheit.“

Markéta Kachlíková
„Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der antikatholische Konsens, der 1918 entstand, erstmals aktualisiert."

Johannes Gleixner:
„Im Grunde sind sich alle politischen Parteien einig, dass der Katholizismus aus der Öffentlichkeit verschwinden muss. Und dieser Konsens besteht auch nach 1948, also nach der Machtübernahme der kommunistischen Partei, erstmal weiter. Zunächst wird die katholische Kirche stärker unterdrückt als die anderen. Das Merkwürdige an kommunistischen Regimen insgesamt ist, dass sie in ihrer Religionspolitik und ihrer Atheismus-Propaganda oft sehr inkonsequent sind. Einerseits nehmen Repressionen gegen Gläubige in der Fläche, gegen alle Konfessionen mit der Zeit zu, zugleich ist aber die Umerziehung zum Atheismus oft sehr inkonsequent.“

Markéta Kachlíková:
" Nach dem Fall des Kommunismus 1989 wurde zunächst angenommen, dass die Religiosität und die Hinwendung zu den Kirchen zunehmen würden. Das ist aber heute nicht der Fall. Unmittelbar nach der Wende, bei der Volkszählung 1991, bezeichneten sich 4,5 Millionen Menschen in Tschechien einer Kirchengemeinschaft zugehörig. Bis heute ist ihre Zahl auf rund ein Drittel geschrumpft, also auf 1,5 Millionen. Barbora Spalová ist Soziologin an der Prager Karlsuniversität und der Akademie der Wissenschaften:“

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„In den 1990er Jahren schlossen sich viele Menschen den Kirchen an, in der Erwartung einer gewissen moralischen Erneuerung. Es war auch eine Gelegenheit, sich gegen die kommunistische Zeit zu positionieren. Viele Menschen wollten damals sogar Ordensgemeinschaften beitreten, denn in den 40 Jahren des Kommunismus hatten sich Menschen angesammelt, die am Priestertum interessiert waren. Schon bei der nächsten Volkszählung im Jahr 2001 stellte sich jedoch heraus, dass es sich nur um eine zeitliche Abweichung vom Trend handelte.“

Markéta Kachlíková:
"Die Tendenz zur Entkirchlichung setzt sich heute fort. Laut Professor Nešpor haben die Kommunisten damit einen wichtigen Erfolg erzielt:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Die Menschen mögen die Kirchen nicht, und außerdem wissen sie auch nichts über sie. Denn das Bildungssystem unter dem kommunistischen Regime neigte dazu, neutrale Informationen über Religion zu unterdrücken. Es blieb eine negative Bewertung, die sich auch nach dem Fall des kommunistischen Regimes weitgehend erhalten hat. Die Tschechen haben die Vorstellung, dass sie die Religion verstehen und diese eine Sache der Vergangenheit sei, die unter anderem dazu diente, Menschen zu unterdrücken. Die große Mehrheit stellt sich überhaupt nicht die Frage, ob Religion tatsächlich so funktioniert.“

Markéta Kachlíková:
"In den 1990er Jahren habe sich der religiöse Markt in Tschechien stark diversifiziert, und dieses Phänomen halte bis heute an, beschreibt die Soziologin. Die Offenheit für ein wirklich breites Spektrum an verschiedenen Glaubensrichtungen und Praktiken ist laut Spalová ein typisches Merkmal der tschechischen Gesellschaft."

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„Für einen Menschen, der sich einer Kirche anschließt und ihre religiösen Bräuche achtet, ist es überhaupt kein Problem, auch Horoskope zu lesen, zu Reiki-Massagen zu gehen oder etwa darüber nachzudenken, ob Reinkarnation die richtige Lehre sei. Diese Mischung hat in unserem Land eigentlich keine großen doktrinären Grenzen.“

Markéta Kachlíková:
"Ein wichtiger Trend in der religiösen Szene in Tschechien ist laut Nešpor, dass sich die nichtkirchliche Spiritualität in all ihren Aspekten ausbreitet:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Von der Heilkunde über alternative religiöse Kreise bis hin zu der Vorstellung, dass magische Steine mir auf meinem Lebensweg helfen können. Für Tschechien gelten zwei Besonderheiten: das Ausmaß und die Dauer dieser alternativen Spiritualität. In unserem Land hat sich ihre Gestalt in den wichtigsten Formen bereits an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert gezeigt. Es gab sie auch anderswo, aber in der tschechischen Gesellschaft kam diese Spiritualität viel massiver auf. Sie verbreitet sich tatsächlich seit über einhundert Jahren hierzulande.“

Markéta Kachlíková: 
" Die religiöse Lage in Tschechien wird manchmal mit dem Begriff „Etwaismus“ charakterisiert. Viele Menschen geben an, an „Etwas“ zu glauben, ohne Gott zu nennen. Diese vage Spiritualität findet nicht Ausdruck in der Zugehörigkeit zu einer konkreten Konfession. Der evangelische Pfarrer Tomáš Cejp:"

Tomáš Cejp (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt sehr viele Menschen, die in irgendeiner Weise glauben, aber sie wollen nicht, dass dies in Worten wie Kirche und ähnliches ausgedrückt wird. Wenn ich zum Beispiel als Pfarrer mit Menschen spreche, denen eine nahe Person gestorben oder geboren ist, dann sind sie viel sensibler für diese spirituellen Dimensionen. Es zeigt sich immer wieder, dass sie es verstehen.“

Musikalische Blende

Markéta Kachlíková:
"Die Stellung der Kirchen im Staat ist im Kirchengesetz aus dem Jahr 2002 verankert. Demzufolge werden die Kirchen und Religionsgemeinschaften in mehrere Gruppen eingeteilt. Barbora Spalová:"

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„In der ersten, sozusagen privilegiertesten Gruppe gibt es eigentlich nur christliche Kirchen und jüdische Gemeinden, was die einheimische Tradition widerspiegelt. Für die Registrierung auf der ersten Stufe muss man eine gewisse Anzahl von Anhängern nachweisen, aber auch eine Tradition im Land haben. Diese Kirchen und Gemeinden haben besondere Rechte, sie dürfen zum Beispiel Trauungen vollziehen, Religionsunterricht an Staatsschulen anbieten oder Kirchenschulen einrichten.“

Markéta Kachlíková: 
"Weiter gibt es Gemeinschaften, die anerkannt sind, ohne über die genannten Rechte zu verfügen. Und die dritte Kategorie bilden Gruppen, die sich selbst als religiöse Organisationen betrachten, aber meist als Verein oder Stiftung fungieren. Insgesamt 44 Kirchen und religiöse Gemeinschaften sind aktuell beim tschechischen Kulturministerium registriert. Zdeněk R. Nešpor:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Das ist eine der höchsten Zahlen in ganz Europa. Die große Mehrheit von ihnen sind kleine Organisationen. Es gibt nur eine einzige sozusagen große Organisation, die römisch-katholische Kirche. Aber auch ihr ordnen sich heute nur noch etwa sieben bis acht Prozent der tschechischen Bevölkerung zu.“

Markéta Kachlíková:
" Die mit Abstand größte Religionsgemeinschaft des 10,5-Millionen-Einwohner-Landes ist also die römisch-katholische Kirche mit 741.000 Mitgliedern. Zu den mittelgroßen Kirchen gehören die beiden stärksten protestantischen Kirchen: die Evangelische Kirche der Böhmischen Brüder mit 32.500 Mitgliedern und die Tschechoslowakische Hussitische Kirche (von 1920 bis 1971 hieß sie bloß Tschechoslowakische Kirche) mit 23.600 Mitgliedern.

Doch vor diesen beiden protestantischen Kirchen ist noch eine Kirche zu nennen, wie Nešpor hinweist:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Die letzte Volkszählung hat uns überrascht, denn obwohl sie im Frühjahr 2021, das heißt ein Jahr vor dem Krieg in der Ukraine, stattfand, wurde die orthodoxe Kirche zur zweitgrößten Kirche in Tschechien. Dies ist eine Folge der langfristigen Migrationstrends.“

Markéta Kachlíková:
"Auch das nicht-christliche Spektrum in Tschechien ist vielfältig. In Tschechien bestehen zehn jüdische Gemeinden. Rund 3000 Mitglieder sind in ihrem Dachverband registriert, in weiteren jüdischen Vereinen weitere etwa 2000. Gottesdienste werden in vier Synagogen in Prag sowie in weiteren neun Städten abgehalten.

Im Unterschied zu Westeuropa ist der Islam hierzulande kaum vertreten. Dem Zensus von 2021 zufolge leben hierzulande etwa 5200 Muslime, das heißt etwa 0,05 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Tschechien gibt es rund ein Dutzend Moscheen und moslemische Gebeträume, von denen die in Prag und Brno / Brünn am wichtigsten sind. Die Verbreitung des Islams geht vor allem auf die Migration zurück. Barbora Spalová:“

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„Die Zuwanderung ist sehr vielfältig, dem entspricht auch die hohe Anzahl der Moscheen und Gebeträume. Denn etwa die Gläubigen aus der Türkei wollen ihre Gebete auf Türkisch verrichten, dann gibt es arabischsprechende Muslime sowie viele Menschen aus dem ehemaligen sowjetischen Raum. Die größte Gruppe der Muslime in Tschechien sind diejenigen, die auf Russisch kommunizieren.“

Markéta Kachlíková:
"Die islamischen Gemeinden hierzulande strebten seit der Zwischenkriegszeit eine Anerkennung durch den Staat an. Erst 2004 wurde die Zentrale moslemischer Gemeinden beim Kulturministerium registriert. Spalová ergänzt:"

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„Der Islam wird in der tschechischen Gesellschaft als ein fremdes Element wahrgenommen. Wir wissen unter anderem aus Medienanalysen, dass das Verhältnis der Tschechen zum Islam sehr problematisch und mit Stereotypen belastet ist.“

Markéta Kachlíková: 
"Auch weitere orientalische Religionen werden hauptsächlich von Einwanderern praktiziert, nur ein kleiner Teil ihrer Anhänger sind Konvertiten. Genauso wie der Islam seien sie eine Randerscheinung in der tschechischen Gesellschaft, betont Nešpor. Etwa 5700 Menschen ordneten sich bei der letzten Volkszählung dem Buddhismus zu. Soziologin Spalová:"

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„Wir sehen etwa an Universitäten, dass der Buddhismus eine viel stärker akzeptierte und trendigere Religion als etwa das Christentum ist. Buddhistische Meditationszentren existierten hier illegal schon in kommunistischen Zeiten. Der Hinduismus hingegen setzte sich erst in den 1990er Jahren in größerem Umfang durch. Zum Beispiel die Hare-Krishna-Bewegung ist sehr sichtbar und wird positiv wahrgenommen. Aber bei näherer Betrachtung stellt man fest, dass es sehr schwer ist, den Hinduismus zu praktizieren. Daher spricht er nicht so viele Tschechen an wie der Buddhismus, bei dem der Gläubige selbst bestimmen kann, wie stark er sich mit dessen Lehren identifiziert.“

Markéta Kachlíková: 
" Obwohl die Individualisierung der Spiritualität ein prägender Trend in der Gesellschaft sei, habe dies gewisse Grenzen, sagt Spalová. Forschungen zufolge suchten die Praktizierenden früher oder später nach einer Art Gemeinschaft, die die Praxis bestimme, erläutert die Soziologin:“

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien haben wir eine ziemlich ausgeprägte Bewegung des Neuheidentums, das sehr individuell ist. Die Menschen erleben oft mehrere Phasen: Sie fangen als Kelten an und feiern den keltischen Jahreszyklus, dann wenden sie sich der germanischen Mythologie zu und anschließend folgt eine slawische Periode. Dieser Weg der spirituellen Suche ist etwas sehr Typisches, aber das bedeutet nicht, dass ihn jeder allein geht. Es gibt unterschiedliche Gemeinschaften, die ihre Rituale oder sogar Lehren beachten.“

Markéta Kachlíková:
"Spalová erwähnt zudem das sogenannte Jedi-Zensus-Phänomen, das auf die Volkszählung 2001 in Großbritannien zurückgeht und auch Tschechien erreicht hat:"

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„An dritter Stelle in vier Kreisen Tschechiens wurde der Jediismus als Religion angegeben. Er ist ein weltweites Phänomen, das mit dem Star-Wars-Zyklus zusammenhängt. In Tschechien drückt sich damit aus, dass man die Volkszählung ablehnt. Die Leute bekennen sich zum Jediismus, weil sie dadurch ihre allgemeine Haltung gegenüber der Religion und insbesondere gegenüber der Erfassung der Religion im Zensus zeigen wollen.“

Musikalische Blende

Markéta Kachlíková:
"Wie bestimmen die Kirchen ihre Stellung und ihre Rolle in der Gesellschaft? Wie bringen sie sich in die gegenwärtigen öffentlichen Diskurse und ethischen Auseinandersetzungen ein? Finden Sie überhaupt noch Resonanz, oder stoßen ihre Beiträge auf Desinteresse? Der Religionswissenschaftler Nešpor:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Die Kirchen versuchen, an öffentlichen und politischen Debatten teilzunehmen – vielleicht mehr in der realen Politik als in den öffentlichen Debatten. Ihre Erfolge sind manchmal paradox: So haben etwa die Kommunisten, die sicherlich keine religiösen Ziele verfolgen, dafür gestimmt, dass der Karfreitag ein Staatfeiertag wird.“

Markéta Kachlíková:
"Neben Ostern und Weihnachten, die als Staatsfeiertage begangen werden, sind weitere drei Staatsfeiertage in Tschechien mit der kirchlichen Geschichte verbunden: So wird an die Slawenapostel Kyrill und Method, an den Kirchenreformator Jan Hus und an den böhmischen Schutzheiligen Wenzel erinnert.

Der Politologe Jiří Pehe von der New York University in Prag verweist auf eine besondere Diskrepanz in der tschechischen Gesellschaft:“

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Angesichts dessen, wie wenige Menschen hierzulande religiös aktiv und in Kirchen organisiert sind, ist der Einfluss der Kirchen, insbesondere der katholischen Kirche ziemlich stark. Ich erlaube mir sogar zu behaupten: unangemessen stark. Die Kirche als Institution hat diesen Einfluss dank der Tatsache erworben, dass sie in Opposition zum kommunistischen Regime stand. Davon profitiert sie bis heute. Aber wenn wir den prozentualen Anteil der religiös organisierten Menschen berücksichtigen und diesen mit dem Einfluss der Kirche, insbesondere der katholischen Kirche, in der Gesellschaft vergleichen, dann hat die Kirche als Institution tatsächlich viel mehr Einfluss, als ihr zusteht.“

Markéta Kachlíková:
"Dies finde in mehreren Weisen Ausdruck, sagt Pehe:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Zum Beispiel spielen die kirchlichen Würdenträger eine bedeutende Rolle in vielen säkularen Aktivitäten, sie sind bei Feierlichkeiten am Staatsfeiertag zugegen, äußern sich zum öffentlichen Geschehen. Manche machen das aktiver, manche weniger aktiv und manche sogar sehr kontrovers. Ich denke, dass man solche öffentlichen Aktivitäten der Kirche in einem Land wie Polen erwarten könnte, wo die Kirche einen starken Einfluss auf die Gesellschaft und eine große Zahl an Gläubigen hat. Aus irgendeinem Grund bleibt jedoch der Einfluss der Kirche auch in Tschechien bestehen.“

Markéta Kachlíková:
" Die Behauptungen des Politikwissenschaftlers beziehen sich vor allem auf die katholische Kirche. Laut dem Politologen wird ihre Einmischung manchmal sehr kritisch begleitet. Dennoch finde die Kirche hierzulande politische Kräfte, über die sie ihre konservativen Anschauungen durchsetzen könne. Denn das politische Spektrum in Tschechien habe sich nach 1989 etwas unnatürlich strukturiert und sei als Ganzes nach rechts, zu einer konservativen Weltanschauung gedriftet, sagt Pehe:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Die Kirche gerät in Konflikt mit der Gesellschaft, nicht nur weil die Gesellschaft stark säkularisiert ist, sondern auch weil diese in Bezug auf kulturpolitische Fragen ziemlich liberal ist. So hat ein großer Teil der Gesellschaft etwa kein Problem mit Homosexuellen und unterstützt die Ehe für alle. Trotzdem gibt es hierzulande einen sehr konservativ dominierten Teil des politischen Spektrums, der sich auf traditionelle Werte beruft. Dieser steht allen Trends feindlich gegenüber, die dazu führen, dass in Tschechien – so wie auch in fast allen westlichen Ländern – die Ehe für alle möglich ist.“

Markéta Kachlíková: 
„Die Ehe für gleichgeschlechtliche Paare wurde im tschechischen Parlament Anfang dieses Jahres abgelehnt. Den Paaren in einer registrierten Partnerschaft wurden lediglich mehr Rechte als bisher eingeräumt.

Die konservative Haltung siegte ebenfalls, als die Istanbuler Konvention hierzulande nicht ratifiziert wurde. Die Debatte dazu sei durch eine Interpretation aus konservativen Kreisen der katholischen Kirche provoziert worden, blickt Pehe zurück:“

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Darin hieß es, in der Konvention seien Sachen versteckt, aus denen sich weitere Forderungen im Bereich der Gender-Politik ergeben könnten. Leider rutschte die Debatte dorthin ab, dass es nicht mehr möglich war, sie rational und vernünftig zu führen. Das Ergebnis ist noch absurder, als die Stellungnahme zur Ehe für alle. Denn in diesem kristallisierte sich ein Kampf um Werte, die mit der Konvention fast nichts zu tun hatten.“

Markéta Kachlíková:
"In manchen Fragen unterscheidet sich die tschechische katholische Kirche nicht von Positionen der Kirchen in Polen, Ungarn und der Slowakei, sagt Pehe:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„In Bezug auf Migration und Islam vertritt die katholische Kirche in ganz Mitteleuropa einen Standpunkt, der als gewissermaßen xenophob bezeichnet werden kann. Es wird nicht nur der Islam als ein anderer Glaube abgelehnt, sondern die Kirchen haben sich nie von der künstlichen Angstmacherei vor Migranten distanziert. Ich sehe darin wohl die größte Diskrepanz zwischen der Bibel und dem, was die Kirche im öffentlichen Raum sagt.“

Markéta Kachlíková: 
"Manchmal rücken die Positionen in die Nähe der populistischen politischen Kräfte:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Dazu kam es in der Zeit, als Kardinal Duka der Primas in Tschechien war, der zu sehr konservativen bis faschistoiden Positionen neigte. Unter seinem Nachfolger, Kardinal Graubner, hat sich die Lage etwas verändert. Aber die entsprechende Tendenz besteht immer noch. Denn die katholische Kirche ist sich dessen bewusst, dass sie einen starken Einfluss auf das öffentliche Geschehen haben kann, wenn sie sich mit jenen politischen Kräften verbindet, die gegen Progressivismus und Modernismus kämpfen.“

Markéta Kachlíková:
" Bis auf die Partei der Christdemokraten (KDU-ČSL) existiert hierzulande keine direkte Verbindung zwischen kirchlicher und politischer Macht. Die politische Bedeutung der KDU-ČSL in letzter Zeit immer weiter gesunken ist. Der Politologe:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Die Christdemokraten verteidigen sehr konservative Positionen. Sie waren nie in der Lage, sich in eine ähnliche Richtung zu reformieren, wie wir es in Österreich oder Deutschland sehen. Dort waren die großen Volksparteien, die CDU in Deutschland und die ÖVP in Österreich in der Lage, eine ganze Reihe kultureller und politischer Dinge zu akzeptieren, so dass sie sich vor allem von jungen Wählern nicht entfremden.“

Markéta Kachlíková:
"Zu erwähnen sind aber enge Bindungen, die der frühere Prager Erzbischof, Kardinal Dominik Duka, zu den früheren Präsidenten Václav Klaus und Miloš Zeman pflegte. Pehe vergleicht sie mit einer Ehe, die für beide Seiten von Vorteil ist:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Zeman hat vor allem in seinem zweiten Mandat eine konservativ-populistische Politik betrieben. Er lehnte viele Dinge ab, die aus der EU kamen, stellte sich gegen sogenannte progressivistische Tendenzen wie die Ehe für alle oder die Inklusion in Schulen. Diese Ablehnung stand im Einklang mit den Ideen der katholischen Kirche und ihrer sehr konservativen Leitung unter Kardinal Duka.“

Markéta Kachlíková:
"Ähnliches galt auch für Dukas Bündnis mit Zemans Vorgänger im Amt, Václav Klaus:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Sie waren beide gegen Europa gerichtet, nationalistisch geprägt, und haben sich darin gegenseitig gestärkt. Václav Klaus war der erste Staatspräsident, der begann, nationale bis nationalistische Symbole zu akzentuieren, zum Beispiel die nationale Wallfahrt nach Stará Boleslav am Sankt-Wenzelstag am 28. September, an denen die Kirche teilnahm.“

Markéta Kachlíková:
"Diese engen Bindungen zwischen den Spitzen von Staat und Kirche hätten nun mit Jan Graubner als tschechischem Primas aufgehört, und die Kirche müsse neue Wege suchen, ihre Interessen durchzusetzen, sagt Pehe. Ihr Einfluss sei hierzulande aber bei weitem nicht so stark wie in Polen, Ungarn und der Slowakei. Die Beziehung zwischen Präsident Petr Pavel und der Kirche sei so, wie sie sein solle, betont der Politologe.

Innerhalb der katholischen Kirche selbst sieht Pehe eine Spaltung – auf der einen Seite steht die liberale Richtung mit dem Zentrum in Prag, auf der anderen die der konservativen Katholiken vor allem in Südmähren:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Die katholische Kirche schaffte es nicht, den liberalen Teil der Gesellschaft an sich zu binden. Sie hat diese Gelegenheit verpasst, um wachsen zu können. Der Einfluss der Kirche sinkt kontinuierlich.“

Musikalische Blende

Markéta Kachlíková:
"Ein bedeutender Eingriff in die Existenz der Kirchen in Tschechien ist die Trennung vom Staat, die derzeit in Gang ist. Sie basiert auf dem sogenannten Gesetz über die Kirchenrestitutionen. Die Debatte über die Entschädigung der Kirchen war sehr zugespitzt und dauerte rund 20 Jahre lang. 2012 wurde das Gesetz verabschiedet. Professor Nešpor ergänzt:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„In dem Gesetz wird neben der Rückgabe des Eigentums, das die Kirchen unter dem kommunistischen Regime verloren haben, auch eine viel wichtigere Sache festgelegt, nämlich die künftige Trennung vom Staat und Selbstfinanzierung dieser Kirchen.“

Markéta Kachlíková:
"Jiří Pehe bezeichnet das Gesetz über die Kirchenrestitutionen als den größten Sieg der Kirchen in Tschechien:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Es gab ein interessantes Nebeneinander von einerseits einem gewissen Schuldgefühl aus der Vergangenheit und dem Wunsch der rechten Parteien, dies wiedergutzumachen, indem große Güter an die Kirche zurückgegeben werden. Andererseits gab es natürlich auch ein Interesse der Kirche daran. Das hatte jedoch eine enorme politische Brisanz, die sich nicht nur auf die Sicht auf die Vergangenheit auswirkte, sondern auch auf den Einfluss, den die Kirchen in der tschechischen Gesellschaft im Allgemeinen künftig haben könnten.“

Markéta Kachlíková:
"Seit 2013 hat ein Trennungsprozess begonnen, bei dem die staatlichen Zuwendungen für den Betrieb der Kirchen schrittweise reduziert werden. Zudem wird ein Ausgleich gezahlt für jene Güter, die Kirchen im Rahmen der Enteignungen verloren haben, die aber nicht mehr rückerstattet werden können. Ziel ist, dass die Kirchen ab 2042 wirtschaftlich völlig unabhängig sind. Damit würde sich ihre Stellung in der Gesellschaft verändern, sagt Spalová:"

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„Die Lage ist gespalten. Denn einerseits haben die Kirchen einiges an Eigentum erworben, etwa erhebliche Teile des Landes wie Wälder und Felder. Andererseits bedroht das neue Finanzierungsmodell viele, vor allem die kleineren Kirchen, in ihrer Existenz.“

Markéta Kachlíková:
"Die Diskussion über die Rückgabe des kirchlichen Eigentums hat auch das Bild der Kirchen in den Medien maßgeblich geprägt…"

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„So basierte etwa die Medienkampagne der Sozialdemokraten bei den Wahlen vor der Verabschiedung des Restitutionsgesetzes auf einer Art antiklerikalem, ja antireligiösem Diskurs, der sehr erfolgreich war. Das Bild einer gierigen Kirche, die sich nur selbst bereichern wolle, wurde durch diese Debatte stark verfestigt.“

Markéta Kachlíková:
"Andererseits habe eine Medienanalyse auch eine Überraschung hervorgebracht, stellt Spalová fest."

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„In den Zeitungen Deníky Bohemia, die über das regionale Geschehen berichten, werden die Kirchen als wichtige, hilfsbereite, gemeinschaftsbildende Akteure dargestellt, die eher Hilfe benötigen. In dem Sinne etwa, sie engagierten sich sehr für Kulturdenkmäler und böten etwas, das für die Gesellschaft gut sei. Wenn die Kirchen also darüber sprechen, dass die Medien ihnen schaden, ist das oft eine einseitige Sichtweise. Die Medienanalyse zeigt, dass die Sache nicht so eindeutig ist.“

Markéta Kachlíková:
"Die Kirchen in Tschechien stehen vor einem großen Wandel. Seit mehreren Generationen kämpfen sie mit teils dramatischen Einbrüchen der Mitgliederzahlen sowie mit der sich verfestigenden säkularen Ausrichtung der Gesellschaft. Welche Perspektiven sieht der Religionswissenschaftler für Kirchen in Tschechien? Zdeněk R. Nešpor hat eine klare Antwort:"

Zdeněk R. Nešpor (übersetzt ins Deutsche):
„Die Kirchen werden sicherlich nicht verschwinden, aber sie werden weiter schrumpfen. Ich glaube, die Talsohle ist noch nicht erreicht, so dass wir davon ausgehen können, dass die Gesamtzahl derjenigen, die sich aktiv am religiösen Leben beteiligen, unter zehn Prozent liegen wird. Andererseits liegt die Zahl derjenigen, die heute, vereinfacht gesagt, mindestens zweimal im Monat in die Kirche gehen, durchweg unter zehn Prozent, und dieser Anteil ist seit mehr als 20 Jahren stabil. Das bedeutet, dass sich die Kirchen in dieser kleinen gesellschaftlichen Randzone weiterhin erhalten können.“

Markéta Kachlíková:
"Und die individuelle Religiosität? Barbora Spalová zitiert den renommierten Prager Priester und Philosophie-Professor Tomáš Halík. In der sich verändernden, unbeständigen und polarisierten Welt könne nur eine wirklich tiefe Verankerung in der persönlichen Spiritualität bestehen:"

Barbora Spalová (übersetzt ins Deutsche):
„Und das gilt wahrscheinlich für Menschen innerhalb der Amtskirchen genauso wie für jene, die außerhalb stehen.“

Markéta Kachlíková:
"Um sich in der heutigen Welt zu behaupten, dürfe sich eine Kirchengemeinde nicht verschließen, unterstreicht Pfarrer Tomáš Cejp aus Libčice nad Vltavou. Bei ihm sei hoffentlich ein Schritt dazu gemacht worden, eine kleine Gemeinschaft mit einer offenen Tür mitten in der örtlichen Gemeinde zu sein, sagt er:"

Tomáš Cejp (übersetzt ins Deutsche):
„Es kommen viele Leute in unser Pfarrhaus, Kinder spielen hier, lernen Englisch und Musik, Ukrainer haben hier Tschechisch-Kurse… Wir versuchen, einen lebendigen Ort zu schaffen, der nicht nur für uns eine Bedeutung hat, sondern auch für diejenigen, die innerhalb der Gemeinde uns zugeneigt sind, gleichzeitig aber nicht religiös sein wollen. Es ist ein größerer Kreis, der ohne unseren engen Kern nicht existieren würde. Vor uns steht eine große Aufgabe, dass unser Pfarrhaus offen steht und dass wir für alle offen sind.“

Musikalische Blende

"Das war Sechsmal Tschechien! In dieser zweiten Staffel blicken wir auf die Themen: Frauenrechte und Gleichstellung, die deutsch-tschechischen Beziehungen, die Lage der Medien, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Wie ist die Sozialpolitik in Tschechien ausgerichtet, welche Rolle spielen Bürgerbeteiligung und politische Bildung? Sechsmal Tschechien. Staffel 1 und 2: Überall da, wo es Podcasts gibt. Eine Produktion der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und Radio Prague International. Wenn Ihnen unser Podcast gefällt, bewerten Sie uns gerne und empfehlen Sie uns auf Ihrer liebsten Podcast-Plattform weiter. Abonnieren Sie diesen Podcast, damit Sie keine Folge verpassen."

Zu Gast in dieser Folge:

Prof. Dr. Zdeněk R. Nešpor ist ein tschechischer Hochschullehrer mit den Schwerpunkten Religionswissenschaften, Religionssoziologie und Anthropologie. Er arbeitet derzeit an der Fakultät für Geisteswissenschaften der Karlsuniversität und am Institut für Soziologie der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, wo er auch verantwortlich für die "Sociologické encyklopedie" und die "Religionistické encyklopedie" ist. Zudem ist er Autor mehrerer Monographien und wissenschaftlicher Artikel, die sich hauptsächlich mit religiösen Themen befassen.

Quelle

Barbora Spalová ist Sozialanthropologin und in der Fakultät der Sozialwissenschaften der Karls-Universität in Prag tätig. Sie studierte Ethnologie und Sozialanthropologie in Prag. Sie forscht auf dem Gebiet der Religionsanthropologie, insbesondere der Anthropologie des Christentums. Außerdem beschäftigt sie sich mit Grenz- und Erinnerungsstudien. Sie lebt im tschechisch-polnisch-deutschen Grenzgebiet. Sie ist die Chefredakteurin von "Biograf", einer Zeitschrift für qualitative Forschung.

Quelle

Dr. Johannes Gleixner hat politische Wissenschaft, Soziologie, Volkswirtschaftslehre und Slavistik, mit dem Aufbaustudium „Osteuropastudien“ an der Ludwig-Maximilians-Universität München studiert. Danach war er als Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Collegium Carolinum im Projekt „OstDok – Osteuropa-Dokumente Online“ tätig. 2009–2013 war er Stipendiat im Internationalen Graduiertenkolleg „Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts“ an der LMU München und der Karls-Universität Prag, hat mehrere Forschungs- und Studienaufenthalte in Tschechien und Russland absolviert und ist seit September 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Collegium Carolinum. 2015 hat er an der Ludwig-Maximilians-Universität zum Thema „Menschheitsreligionen“: T. G. Masaryk, A. V. Lunačarskij und die religiöse Herausforderung revolutionärer Staaten promoviert. 2017–2020 wurde er an die Außenstelle des Instituts in Prag abgeordnet. Seine Arbeitsgebiete sind u.a. Säkularismus und Atheismus in Ost- und Ostmitteleuropa, Wirtschaftsgeschichte des Staatssozialismus und Ideengeschichte des Sozialismus.

Quelle

Dr. Jiří Pehe ist Politikwissenschaftler und Schriftsteller. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie an der Karls-Universität Prag, wo er im Jahr 1980 promovierte. Im September 1981 floh er aus der Tschechoslowakei über Jugoslawien nach Italien.
Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Rom, wanderte er mit seiner Frau in die USA aus und wohnte in New York City. Dort wurde ihm politisches Asyl gewährt. Bis 1983 arbeitete er als Nachtwächter in einem Hotel. Er besuchte die School of International Affairs an der Columbia University in New York und promovierte im Jahr 1985. Von 1985 bis 1988 arbeitete er für Freedom House und schrieb unter anderem Texte für die New York Times.
Ab August 1988 arbeitete er als Analyst für das Forschungsinstitut von Radio Free Europe in München. Im November 1989 wurde er Leiter der Abteilung für Forschung und Analyse der Mitteleuropa Fragen. Nachdem Radio Free Europe im Jahr 1995 seinen Hauptsitz von München nach Prag verlegte, zog er zurück nach Tschechien. Vom 1995 bis 1997 arbeitete er als Direktor der Abteilung für Forschung und Analyse am Open Media Research Institute in Prag. Von 1997 bis 1999 war er Direktor der Politischen Abteilung der Kanzlei des tschechischen Präsidenten Václav Havel und später arbeitete er bis 2003 als präsidialer Berater für außenpolitische Fragen.
Seit 1999 leitet Jiří Pehe als Direktor die New York University in Prag. Er ist Mitglied des International Forum for Democratic Studies Research Council. Als politischer Beobachter und Analytiker kommentiert er für das tschechische Fernsehen und den Rundfunk sowie für internationale Medien aktuelle politische Entwicklungen und das Weltgeschehen.

Quelle

Staffel 1

Folge 1: Klima und Umwelt

„Wenn wir die Tschechen vom Green Deal überzeugen, dann überzeugen wir auch alle anderen.“ Das sagte 2022 der damalige EU-Kommissar für Klimapolitik, Frans Timmermans. Gehören zur Bevölkerung Tschechiens wirklich die größten Klimaskeptikerinnen und -skeptiker der Europäischen Union? Warum spaltet der Green Deal die tschechische Bevölkerung? Und wie hat sich die Diskussion über den Klimawandel in den letzten Jahren in Tschechien verändert? Zu Gast in unserer ersten Folge sind Bedřich Moldan, er war der erste Umweltminister der Tschechoslowakei nach der Samtenen Revolution. Weiterhin die Analytikerin Romana Březovská aus dem Klimateam der Assoziation für internationale Fragen (AMO). Wir sprechen mit Alexandr Vondra – er sitzt für die Bürgerdemokraten (ODS) im EU-Parlament – sowie mit dem Umweltpsychologen Jan Krajhanzl, Gründer und Leiter des Instituts 2050.

Die Wurzeln der tschechischen Umweltbewegung reichen bis in die 1960er Jahre zurück. Im Jahre 1974 wurde die Brontosaurus-Bewegung gegründet, die bis heute aktiv ist. Die Mitgliederzahlen sind schnell gewachsen. Viele sahen darin nach langer Zeit die erste Möglichkeit, dem totalitären Regime die Stirn zu bieten. Der Bewegung ging es dabei vor allem um die ökologische Bildung und den regionalen Umweltschutz, der die Natur auf lokaler Ebene schützt und eher die Auswirkungen als die Ursachen von Umweltproblemen bekämpft (z. B. Beseitigung von Müll, Anpflanzen von Bäumen usw.) ohne jedoch systemische Veränderungen anzustreben. In den Jahren 1988-1989 war die Luftverschmutzung ein zentrales Thema der Umweltbewegung. Die Gruppe Prager Mütter wurde gegründet, um für saubere Luft zu demonstrieren. Von 11. bis 13. November 1989, nur wenige Tage vor dem Beginn der Samtenen Revolution, fand in Teplice in Nordböhmen eine große Demonstration für saubere Luft statt. Zeitgleich mit der Samtenen Revolution gründeten der damals 16-jährige Jakub Patočka und der 19-jährige Jan Beránek die Duha-Bewegung und die Kinder der Erde, Nichtregierungsorganisationen, die bis heute aktiv sind. In den 1990er Jahren herrschte der Glaube, dass in dem neuen demokratischen System ausreichen würde, die Aufmerksamkeit auf ein Umweltproblem zu lenken, und dass die Regierung diese anpacken würde.

Die Partei der Grünen war die erste politische Partei, die nach der Samtenen Revolution entstanden ist. Der neue Präsident, Václav Havel, der dieser Partei nahestand, ließ das Umweltministerium schaffen. In den frühen Neunzigern wurde eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen gegründet, die sich dem Natur- und Umweltschutz widmeten, darunter Calla (1991), der tschechische Zweig von Greenpeace (1992), die Gesellschaft für nachhaltiges Leben (September 1992), der Ökologische Rechtsdienst (1995), Nesehnutí (Oktober 1997) und Arnika (September 2001).

Mit der Wende verschwanden die Umweltprobleme nicht. Die dominierenden Themen waren die Erweiterung des Kernkraftwerks Temelín, der Abriss des Dorfes Libkovice für den Braunkohleabbau, der Bau von Autobahnen durch geschützte Landschaften, der Holzeinschlag im Nationalpark Böhmerwald und der Tierschutz. Mit der Betonung des Wirtschaftswachstums nach der Revolution, die von der Umweltbewegung kritisiert wurde, begann eine Ära der Marginalisierung ökologischer Themen. Forderungen der Umweltschützer bezeichneten die führenden Politiker, insbesondere der damalige Premierminister Václav Klaus, als Extremismus („Ökoterrorismus“). Trotz der guten Ausgangslage ist die Partei der Grünen in Tschechien heute nicht mehr im Parlament vertreten, und manche NRO mit dem Fokus auf Umwelt- und Klimaschutz werden weiterhin oft als Ökoterroristen beschimpft und diffamiert. Der Großteil der Medien ist im Besitz von Unternehmern, die von fossilen Brennstoffen profitieren. Dies beeinflusst auch stark die öffentliche Meinung. Zum EU Green Deal haben viele Politiker:innen und Medien ablehnende Haltung.

Erst mit der aktuellen Energiekrise, ausgelöst durch den Angriff auf die Ukraine, rückten die erneuerbaren Energiequellen stärker in den Fokus des öffentlichen Diskurses. Wichtiger als emissionsarme Energie ist dabei jedoch die Energiesicherheit und die energetische Unabhängigkeit von Russland.

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Wenn wir die Tschechen vom Green Deal überzeugen, dann überzeugen wir auch alle anderen.“ Das sagte 2022 der damalige EU-Kommissar für Klimapolitik, Frans Timmermans. Sind die Tschechen wirklich die größten Klimaskeptiker der Europäischen Union? Warum spaltet der Green Deal die tschechische Bevölkerung? Und wie hat sich die (dortige) Diskussion über den Klimawandel in den letzten Jahren verändert? Die Gäste unserer ersten Folge sind Bedřich Moldan, er war der erste Umweltminister der Tschechoslowakei nach der Samtenen Revolution. Weiterhin die Analytikerin Romana Březovská aus dem Klimateam der Assoziation für internationale Fragen (AMO). Wir sprechen mit Alexandr Vondra – er sitzt für die Bürgerdemokraten (ODS) im EU-Parlament – sowie mit dem Umweltpsychologen Jan Krajhanzl, Gründer und Leiter des Instituts 2050. Mein Name ist Filip Rambousek, ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Zuhören.

Obwohl die Tschechen mitunter als die größten Klimaskeptiker in der Europäischen Union gelten, ist die Realität weitaus komplexer, meint der Umweltpsychologe Jan Krajhanzl. Die öffentliche Meinung habe sich in den letzten Jahren stark verändert."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
"In der Mehrheit hält die tschechische Öffentlichkeit den Klimawandel bereits heute für ein ernstes Problem. Verschiedenen Umfragen zufolge sind es etwa 70 bis 80 Prozent der Bürgerinnen und Bürger. Gleichzeitig wünschen sich rund 70 Prozent der Menschen in Tschechien, dass der Staat im Klimaschutz aktiv ist. Auch wenn uns diese Zahlen relativ hoch erscheinen, sind wir im europäischen Vergleich immer noch Schlusslicht. Wer also sagt, dass es in Europa nur wenige Nationen gibt, die so zurückhaltend sind wie die Tschechen, hat recht. So hat es ja auch Frans Timmermans einmal gesagt: Wenn wir die Tschechen von der Dekarbonisierung überzeugen können, können wir alle überzeugen. Aber auch wenn wir in Europa hintenan sind, ist es gleichzeitig auch so, dass bereits 70 bis 75 Prozent der Menschen hier der Meinung sind, dass wir grundlegende Schritte unternehmen sollten und in einem viel größeren Umfang aktiv werden sollten als bisher."

Filip Rambousek:
"Die Sicht der Tschechen auf den Klimawandel enthält eine Reihe von inneren Widersprüchen – obwohl der Anteil der Menschen, die im Klimawandel ein ernstes Problem sehen,  allmählich steigt, ergänzt die Analytikerin Romana Březovská."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„86 Prozent der Menschen wissen, dass der Klimawandel große Auswirkungen auf die Welt hat, das können wir Umfragen entnehmen. Aber nur 40 Prozent davon glauben, dass diese Auswirkungen in ihrem persönlichen Leben zu spüren sein werden. Es ist interessant, diesen Widerspruch zu sehen. Vielleicht liegt es daran, dass die Tschechische Republik eine Art Welt für sich ist, von den Nachbarländern durch Gebirgsketten getrennt, die sich praktisch über die gesamte Grenze erstrecken. Es ist, als ob wir auf einer eigenen Insel leben.“

Filip Rambousek:
"Mit anderen Worten: Die meisten Tschechen verstehen, dass der Klimawandel ein drängendes globales Problem ist, aber viele von ihnen glauben immer noch, dass er das Leben der Menschen in der Tschechischen Republik nicht gravierend beeinflussen wird ..."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, es ist so ein Gefühl von der eigenen Großartigkeit und Unantastbarkeit, eine Art Stolz auf die Tatsache, dass wir Teil der Welt sind, aber alles von unserem eigenen Universum aus betrachten können. Aber das führt dann dazu, dass wir nicht bereit sind, zur Lösung des Problems beizutragen, weil wir denken, dass es uns nicht betreffen wird, und wenn doch, dann erst in weiter Zukunft.“

Filip Rambousek:
"Wie ist die tschechische Klimaschutzdebatte an diesen Punkt gekommen? Sehen wir uns zunächst einmal an, wie sich das Verhältnis der Tschechen zur Umwelt seit ungefähr 1989 verändert hat. Nach vierzig Jahren Staatssozialismus war die Umwelt in der Tschechoslowakei stark belastet, erinnert sich Bedřich Moldan."

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Man muss sagen, es war wirklich sehr schlimm. Vor allem die Luftverschmutzung war katastrophal. Aber auch die Wasserverschmutzung zum Beispiel war sehr gravierend. Die große Mehrheit der überprüften Wasserläufe war in höchstem Maße verschmutzt. Und natürlich haben die Menschen das mitbekommen. Am schlimmsten betroffen waren die Kohleregionen in Nordböhmen und Ostrava, aber auch alle großen Ballungsgebiete. In Prag beispielsweise wurden einst unglaublich hohe Konzentrationen von Schwefeldioxid gemessen.”

Filip Rambousek:
"Der schlechte Zustand der Umwelt war eines der wichtigen Themen, die die Menschen auf die Straße brachten – schon vor dem 17. November 1989, wie Moldan betont."

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Etwa vierzehn Tage vor der großen Prager Demonstration im November 1989 fand auch in Teplice eine große Demonstration statt, bei der die Menschen Parolen über saubere Luft skandierten und dass sie die enorme Belastung durch die Umweltverschmutzung nicht länger hinnehmen wollten. Der Zustand der Umwelt, der so stark empfunden wurde, war zweifelsohne einer der wichtigsten Faktoren im Gesamtkomplex der Samtenen Revolution.“

Filip Rambousek:
"Auch dank des großen öffentlichen Interesses blieb das Thema Umweltschutz in den ersten Jahren nach der Revolution eine der wichtigsten Prioritäten – also zu der Zeit, als Bedřich Moldan Umweltminister war."

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
"Diese starke Aktivität des Ministeriums in der Anfangszeit wurde von der Öffentlichkeit außerordentlich gut mitgetragen. Ich erinnere mich zum Beispiel an eine Situation, als ich als Minister eine Gesetzesvorlage ins Abgeordnetenhaus einbrachte. Das begrüßten die Abgeordneten und sie beglückwünschten mich, dass wir ein weiteres grünes Gesetz bekommen würden. So etwas kann ich mir heute nicht mehr vorstellen. Dieser Enthusiasmus hat sich nicht nur in der Gesetzgebung, sondern auch in anderen Lebensbereichen niedergeschlagen. Die gesamte Gesellschaft, einschließlich der Industrie und der Unternehmen, hat sich daran beteiligt."

Filip Rambousek:
"In den 1990er Jahren führte dies zu einer deutlichen Verringerung der Luftverschmutzung durch die Industrie und zu einem sprunghaften Anstieg der Luftqualität. Auch im Hinblick auf die Gesetzgebung stellen die frühen 1990er Jahre eine Schlüsselperiode dar, sagt Jan Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Zu Beginn der 1990er Jahre wurden grundlegende Gesetze erlassen, die bis heute den Umweltschutz in der Tschechischen Republik bestimmen. Aber mit dem allmählichen Rückzug der Dissidenten von der Macht und der Übernahme der Technokraten, mit Václav Klaus an der Spitze, kam es auch in der Umweltagenda zu einer Kehrtwende.“

Filip Rambousek:
"Dieser Kurswechsel zeigte sich auch in einer veränderten Haltung des Staates gegenüber den Umweltbewegungen, erinnert sich Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Auf dem Höhepunkt der Proteste gegen die Fertigstellung des Kernkraftwerks Temelín wurden mehrere bekannte, etablierte Umweltverbände als extremistische Organisationen eingestuft und vom Geheimdienst überwacht. Der Staat hat also unter der Federführung von Václav Klaus sein Verhältnis zu Umweltinitiativen um hundertachtzig Grad gedreht.“

Filip Rambousek:
"Es ist kein Zufall, dass der Name von Václav Klaus, der in den 1990er Jahren Ministerpräsident und von 2003 bis 2013 Präsident Tschechiens war, schon zweimal gefallen ist. Analysten zufolge hatten seine klimaskeptischen Ansichten einen großen Einfluss auf die Einstellung der tschechischen Öffentlichkeit zum Klimaschutz."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Im Laufe der Amtszeit von Václav Klaus als Präsident Tschechiens hat die Wahrnehmung und das Bewusstsein, dass der Klimawandel ein ernstes Problem darstellt, allmählich abgenommen. Und umgekehrt hat sie wieder zugenommen, als er 2013 aus dem Amt schied. Ich sage nicht, dass es da einen kausalen Zusammenhang gibt, aber eine gewisse Korrelation besteht eindeutig. Mit dem Abgang von Václav Klaus aus der aktiven Politik wurden die Stimmen der Klimaskeptiker also schwächer. Heute sind es nur noch ein Prozent der Tschechen, die Klaus‘ Meinung reproduzieren – also, dass es niemals einen Klimawandel gab und niemals einen geben wird.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
“Es ist der 15. September 2023: Eine Gruppe junger Menschen von Fridays for Future hat sich vor dem Umweltministerium in Prag versammelt. Mitte September ist die Zeit, zu der sich viele Menschen auf der ganzen Welt am weltweiten Klimastreik beteiligen. Die tschechische Bewegung Fridays for Future hat sich entschieden, einen Protest in Form eines kleinen Theater-Happenings mit sehr konkreten Forderungen an den Umweltminister und die gesamte tschechische Regierung zu organisieren. Die Demonstranten wollen, dass die Regierung ihre eigene Verpflichtung einhält, bis 2033 aus der Kohle auszusteigen. Im Moment besteht nämlich die Gefahr, dass dieses Limit um zwei Jahre überschritten wird.

Ich freue mich, dass nach Abschluss des Happenings eine der Sprecherinnen von Fridays for Future Zeit für mich hat. Magdalena Středová, Guten Tag!”

Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Guten Tag.”

Filip Rambousek:
“War das Happening aus Ihrer Sicht erfolgreich? Es waren relativ wenig Menschen hier, aber viele Medienvertreter …"

Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Ich sehe das Happening als Erfolg, denn es war unser erklärtes Ziel, das Thema in die Medien zu bekommen. Wir wollen darauf aufmerksam machen, dass der Abbau im Tagebau Bílina vor kurzem bis ins Jahr 2035 verlängert wurde. Das ist ein Verstoß gegen das Regierungsprogramm, in dem die Beendigung des Abbaus und der Verbrennung von Kohle bis 2033 vorgesehen war.“

Filip Rambousek:
“Dieser Protest betraf also hauptsächlich den Tagebau Bílina. Warum ist er so ein großes Problem? Man könnte doch sagen, zwei Jahre hin oder her ...”

Magdalena Středová (übersetzt ins Deutsche):
“Wir haben schon in der Vergangenheit mit verschiedenen Klima-Aktionen und Streiks auf den Kohleabbau im Tagebau Bílina aufmerksam gemacht. Manch einer wird vielleicht sagen, dass zwei Jahre nichts ausmachen, aber die Klimakrise ist allgegenwärtig. Wir haben den heißesten Sommer aller Zeiten erlebt, Brände und Überschwemmungen, und diese Extreme werden wahrscheinlich noch zunehmen. Es gibt keinen Grund, die Bekämpfung der Klimakrise aufzuschieben. Sie sollte unsere Priorität sein. Die Regierung hat in ihrer Programmerklärung das Jahr 2033 als Ausstiegsdatum für den Kohlebergbau versprochen, und wir sehen keinen Grund, warum man davon abweichen sollte. Vielmehr sollten wir uns darauf konzentrieren, so schnell wie möglich aus der Kohle auszusteigen, erneuerbare Energien zu entwickeln und einen ausgewogenen Übergang einzuleiten.”

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Die Reportage vom Happening von Fridays for Future zeigt, dass sich auch in Tschechien die junge Generation zu Wort meldet. In den letzten fünf bis zehn Jahren haben sich in Tschechien eine Reihe neuer Klimabündnisse etabliert, erläutert Jan Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“ Es wächst eine neue Generation heran, die sich viel häufiger für Methoden der direkten Aktion und des zivilen Ungehorsams entscheidet. Inspiriert sind sie zum Beispiel von der deutschen Initiative Ende Gelände, die tschechische Aktivisten besucht haben. Diese Aktivisten lernen nach und nach, wie sie die fossile Infrastruktur der wichtigsten tschechischen Kohlebarone blockieren können. Regelmäßig finden verschiedene Sommer-Klimacamps und andere Aktionen statt. Wie in Westeuropa sind auch in der Tschechischen Republik die Bewegungen Fridays for Future, Extinction Rebellion und Last Generation entstanden. Man kann also sagen, dass die Entwicklung der Klimabewegung in der Tschechischen Republik bis zu einem gewissen Grad westlichen Trends folgt. Nur die Reaktionen sind hier etwas anders als in Großbritannien oder Deutschland.“

Filip Rambousek:
"Warum aber findet die Klimabewegung in Tschechien keine so große gesellschaftliche Resonanz wie anderswo in Europa? Auch dazu Jan Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Wir sind immer noch eher ein Volk von Landschaftsliebhabern und Bachlaufputzern. Dagegen werden öffentliche Aktionen wie Blockaden des Individualverkehrs von der tschechischen Öffentlichkeit eher negativ wahrgenommen. Selbst wenn sie mit Klimaschutz sympathisieren, sind selbst die größten Klimaschutz-Befürworter nicht mit diesen Klimaschützerinnen und Klimaschützern einverstanden. In diesen Fällen ist die Ablehnung sehr groß.“

Filip Rambousek:
"Laut Krajhanzl gibt es in der tschechischen Klimaschutzdebatte eine Reihe von Besonderheiten. Eine davon ist ein gewisses Misstrauen gegenüber großen Visionen, das aus den historischen Erfahrungen mit dem kommunistischen Regime herrührt. Deshalb ist die tschechische Öffentlichkeit auch misstrauisch gegenüber den großen Visionen von heute – wie dem Green Deal für Europa oder der deutschen Energiewende, die auch noch die Abschaltung funktionierender Atomreaktoren mit einschloss. Dazu Bedřich Moldan:"

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Als die Deutschen die Kernkraftwerke durch fossile Brennstoffe ersetzten, spotteten die Tschechen und sagten über sie: ‚Seht nur, und das Ergebnis der ganzen Energiewende ist, dass sie ihre Kohlendioxidemissionen erhöht haben, bzw. sie nicht schnell genug reduzieren, weil sie unsinnigerweise die Atomkraftwerke abgeschaltet haben.‘”

Filip Rambousek:
"Die tschechische Diskussion über die Energiewende zeige, so Moldan, wie kurzsichtig die Tschechen manchmal bei der Beurteilung von derart komplexen Strategien seien. Ein ähnlicher Ansatz ist beim Green Deal zu beobachten, der oft auf das Verbot von Verbrennungsmotoren reduziert wird. Der Green Deal werde in der Tschechischen Republik eher als Bedrohung denn als Chance dargestellt, erklärt Romana Březovská."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
„In unserem Land ist die gesamte Diskussion über den Green Deal damit verbunden, dass er eine große wirtschaftliche Belastung darstelle, dass er schwerwiegende Auswirkungen auf unsere Industrie nach sich ziehe, dass er uns verarmen ließe und dass er ein ideologisch motiviertes Projekt sei. Die Befürchtung der Menschen, dass sie Verlierer sein werden, dass die Bedingungen des Green Deal nicht fair gestaltet werden und dass sie niemand für etwaige Verluste entschädigen wird, ist sehr präsent – denn genau das sagen die politischen Eliten immer wieder.“

Filip Rambousek:
"Einen sehr pragmatischen Blick auf den Green Deal hat zum Beispiel der tschechische Europaabgeordnete Alexandr Vondra von den Bürgerdemokraten. Seine Partei ODS gehört im Europäischen Parlament zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer."

Alexandr Vondra (übersetzt ins Deutsche):
“Beim Green Deal geht es auch um die Umverteilung von Profit und Einfluss in Europa. Die Niederländer und Skandinavier bekommen die Windenergie in der Nordsee umsonst, die Spanier und Griechen bekommen die Solarenergie umsonst. Aber dann sind da noch Polen, die Tschechische Republik und Deutschland, alles Industrieländer, deren Wirtschaft auf billigem russischen Gas und billiger Kohle aufgebaut wurde. Diese Länder stehen plötzlich vor einer großen Herausforderung. Wir werden damit nichts verdienen, das müssen wir ehrlich zugeben. Wichtig ist aber jetzt, dass wir zumindest überleben, ohne dass es zu einer totalen Destabilisierung kommt. Deutschland ist bekanntlich eine etwas reichere Gesellschaft als Tschechien, so dass sie die Auswirkungen auf ihren Geldbeutel erst jetzt zu spüren bekommen. Die Tschechen haben sie schon früher zu spüren bekommen.“

Filip Rambousek:
"Etwa ein Drittel der tschechischen Bevölkerung unterstützt den Green Deal für Europa. Ein weiteres Drittel lehnt ihn eher ab und das verbliebene Drittel ist strikt dagegen. Wie der Umweltpsychologe Jan Krajhanzl sagt, hängt dieses blamable Bild auch mit der Haltung der Tschechen gegenüber der Europäischen Union im Allgemeinen zusammen."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Für uns ist das nicht nur ein Umweltthema, sondern auch ein Symptom für eine gewisse Euroskepsis, die hier sehr stark ausgeprägt ist. Ich weiß noch, wie nervös ich war, als ich 2014, 2015 das Eurobarometer studierte und sah, dass die Tschechen damals noch euroskeptischer waren als die britische Öffentlichkeit. Und wir sprechen von der Zeit kurz vor der Abstimmung über den Austritt aus der Europäischen Union. Wenn damals jemand einen Czexit vorgeschlagen hätte, hätte ich sicher nicht darauf gewettet, dass wir in der Europäischen Union bleiben. So gesehen ist der Euroskeptizismus hier ziemlich tief verwurzelt, was sich nicht nur auf die Haltung gegenüber Brüssel selbst auswirkt, sondern auch auf die Politik, die mehr oder weniger mit Brüssel verbunden ist.“

Filip Rambousek:
"Neben einem gewissen Euroskeptizismus sei die tschechische Debatte über den Klimaschutz auch durch die tschechische Tendenz zum Technokratismus beeinflusst, glaubt Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Das hängt auch mit unserer Geschichte und mit unserer industriellen Vergangenheit zusammen, die bis in die Zeiten von Österreich-Ungarn zurückreicht. Wir sind immer noch eher eine Nation von Ingenieuren als von Ideologen. Interessant ist zum Beispiel der Vergleich mit Frankreich oder mit den Vereinigten Staaten. Bei uns haben immer noch eher die ‚schlauen Ingenieure‘ die Oberhand, die etwas berechnen können, die Geld verdienen und es schaffen, ihre Kompetenzen unter Beweis zu stellen. Üblicherweise gewinnen eher solche Politiker, als diejenigen, die uns zu einem gewissen Wertekatalog auffordern.”

Filip Rambousek:
"Krajhanzl zufolge könnte dies einer der Gründe dafür sein, dass die tschechischen Grünen seit 2010 nicht mehr im Parlament vertreten sind und ihre Zustimmung seit langem im unteren einstelligen Prozentbereich liegt."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Ganz oft sind es Personen, die in der Wissenschaft, in gemeinnützigen Organisationen usw. tätig sind. Solche Leute betrachtet ein Teil der tschechischen Öffentlichkeit als sogenannte Schöngeister, d. h. als Menschen, die zwar gut reden können, aber keine echte Arbeit leisten. Das ist nicht meine Meinung. Ich versuche nur, anhand einiger Vorwahlumfragen zu verstehen, wo die Entwicklung ins Stocken geraten ist. Vielleicht ist die Partei zu romantisch und nicht pragmatisch und technokratisch genug für das tschechische Milieu. Schauen wir uns die ANO von Milliardär Babiš an oder die Bürgerdemokraten (ODS). Wenn sich diese Parteien in irgendeinem Punkt ähnlich sind, dann in ihrer Neigung zum Technokratismus.“

Filip Rambousek:
"Derzeit gibt es im tschechischen Parlament keine politische Kraft, die sich über eine umweltpolitische Agenda definiert. Einige Parteien, wie die Bürgermeister und Unabhängigen (STAN) oder die Piraten, zeigen ein gewisses Interesse an diesen Themen. Aber es gibt im tschechischen Parlament keine „grüne“ Partei, die mit den deutschen Grünen vergleichbar wäre. Und das, so Romana Březovská, ist ein großes Problem."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
“Die Tatsache, dass dieses Thema keine politische Vertretung hat, ist das große Handicap. Denn es gibt niemanden, der glaubwürdig sowohl positive als auch negative Informationen über die Grüne Transformation an die Bürger vermitteln kann. Es gibt also viel Spielraum für beliebige Akteure, den Medienraum zu vereinnahmen und ihr Verständnis des Themas sowie ihre Interessen in diesem Bereich vorzubringen.“

Filip Rambousek:
"Laut Krajhanzl ist es außerdem ein Fehler, dass die tschechischen Parlamentsparteien dem Thema nicht genug Aufmerksamkeit widmen. Denn der Green Deal biete eine einzigartige Chance für die Modernisierung der Tschechischen Republik."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Die Tschechische Republik erhält mehr als eine Billion Kronen (40 Milliarden Euro) für verschiedene Programme – von Investitionen in umweltverträgliche Technologien über die Modernisierung staatlicher Dienstleistungen und Regionen bis hin zur sozialen Unterstützung von Gruppen, die von der Dekarbonisierung benachteiligt werden könnten. Diese Mittel sind praktisch mit dem Marshallplan in der Nachkriegszeit vergleichbar. Dennoch wird nicht viel darüber gesprochen, und die Medien schenken ihm nur wenig Aufmerksamkeit. Ich denke jedoch, dass nicht nur in Bezug auf das Klima und die Emissionen, sondern auch in Bezug auf die tschechische Wirtschaft und Lebensqualität jetzt darüber entschieden wird, wie dieses Land in den kommenden Jahrzehnten leben wird.”

Filip Rambousek:
"Obwohl sich die Kommunikation des Klimawandels in den Medien langsam verbessert, hinkt die Tschechische Republik in dieser Hinsicht noch weit hinterher, so Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Die tschechische politisch-mediale Debatte zum Klimaschutz ist in etwa dort, wo die britische oder deutsche Debatte vor zehn Jahren war, also extrem konservativ, man könnte auch sagen rückständig.“

Filip Rambousek:
"Neben der problematischen Eigentümerstruktur der privaten Medien, die oft Verbindungen zur fossilen Brennstoffindustrie aufweisen, ist laut Krajhanzl vor allem der geringe Bildungsstand über Klimafragen bei den meisten Journalisten dafür verantwortlich."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Beispielsweise ließen sich etliche Journalisten zu der Zeit, als die Strompreise zum ersten Mal in die Höhe schnellten, zu Twitter-Posts hinreißen, in denen sie im Grunde unkritisch behaupteten, die Ursache sei, dass sich der Preis der Emissionszertifikate auf die Preise der Endverbraucher auswirkten. Tatsächlich war es aber schon zu diesem Zeitpunkt, also im Herbst 2021, auf die geopolitischen Spielchen Russlands mit den Energiepreisen zurückzuführen. Schon damals war analytisch nachweisbar, dass es mit den Emissionszertifikaten nicht viel zu tun hatte, sondern dass etwa 80 Prozent des Preisanstiegs auf das Konto des Putin-Regimes gingen. Dieser Lackmustest hat gezeigt, wie wenig tschechische Journalisten mit sachlichen Informationen umgehen können.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Das unzureichende Verständnis der politischen Parteien für das Thema der grünen Transformation, die Tendenz zum Technokratismus und Pragmatismus sowie das schwache Niveau des Klimajournalismus – all dies trägt dazu bei, dass die tschechische Klimapolitik nach Ansicht vieler Analysten nicht ehrgeizig genug ist, insbesondere was ihren Mitigationsanteil betrifft, d. h. die Bemühungen, den Verlauf des Klimawandels abzumildern. Bedřich Moldan fährt fort."

Bedřich Moldan (übersetzt ins Deutsche):
“Wenn wir uns die Strategien ansehen, die die Regierung verfolgt, sehen wir, dass es für die Anpassungsstrategie bereits einen Aktionsplan gibt, und ich denke, er ist sehr gut aufgebaut. Er ist detailliert und basiert auf verschiedenen Analysen. Aber es gibt praktisch keine Mitigationsstrategie.“

Filip Rambousek:
"So hat die Tschechische Republik beispielsweise bis heute kein offizielles Klimaneutralitätsziel ausgegeben. Erwähnenswert ist außerdem, dass die Tschechische Republik bei der Entwicklung von erneuerbaren Energiequellen sogar hinter Polen zurückbleibt. Im tschechischen politischen Mainstream herrscht also nach wie vor eine starke Dichotomie zwischen Anpassungsmaßnahmen und dem Bemühen um Emissionsreduzierung. Folgende Äußerung des EU-Abgeordneten Alexandr Vondra illustriert dies sehr gut."

Alexandr Vondra (übersetzt ins Deutsche):
“Der Teil des Green Deal, der sich auf den Schutz und die Wiederherstellung der Natur bezieht, ist meiner Meinung nach der wichtigste. Aber leider wurde dieser Punkt vernachlässigt und musste im Vergleich zum Kampf gegen den Klimawandel zurückstehen. Ich halte den Naturschutz vor allem unter einem Gesichtspunkt für wichtig. Wenn wir von den Menschen verlangen, dass sie Opfer bringen, dass sie etwas bescheidener sind und so weiter, dann muss es auch eine gewisse Belohnung geben – und zwar noch zu unseren Lebzeiten. Und das ist bei der Mitigation einfach nicht der Fall. Wir bringen hier enorme Opfer, und diese Opfer treffen die traditionell industriellen und energieintensiven Länder wie die Tschechische Republik und Deutschland am meisten. Aber all die Emissionen, die wir hier einsparen, werden China, Indien, die Vereinigten Staaten, Russland und Brasilien zusätzlich ausstoßen. Diese Maßnahmen werden also keine Effekte haben, weder für meine Generation, noch für die Generation unserer Kinder. Die Hitze wird immer noch da sein ... Ich bin nicht gegen Emissionsminderung, aber ich würde mit Bedacht vorgehen, nicht auf diese umstürzlerische Weise. Was aber den Naturschutz betrifft, da werden wir noch zu unseren Lebzeiten einen positiven Effekt sehen. Da  geht es um Vögel, Insekten, Bestäuber, Wasserrückhalt in der Landschaft, eine vielfältigere Landschaft. Diese Maßnahmen unterstütze ich.“

Filip Rambousek:
"Die Vorstellung, dass wir uns nur an den Klimawandel anpassen müssen, ist für Klimaexperten inakzeptabel. Alle Länder müssen zur Reduzierung der Treibhausgasemissionen beitragen, betont Romana Březovská."

Romana Březovská (übersetzt ins Deutsche):
“Wir sehen, dass wir auf eine Erwärmung von mehr als zwei Grad zusteuern. Wir sehen, dass sechs der neun planetaren Belastungsgrenzen bereits überschritten wurden. Wenn wir den Planeten mit dem menschlichen Körper vergleichen, hat er nicht nur Fieber, sondern vielleicht auch schon Bluthochdruck. Global gesehen geht es uns schlicht und einfach nicht gut, auch wenn wir das in der Tschechischen Republik noch nicht so stark spüren – auch dank unserer geographischen Lage.”

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Trotz aller Defizite im Umwelt- und Klimaschutz, die wir uns angesehen haben, sind die Tschechen in einer Sache möglicherweise europaweit Spitze – in der Liebe zur Natur. Und das ist ein Wert, auf den sich aufbauen lässt, sagt Jan Krajhanzl."

Jan Krajhanzl (übersetzt ins Deutsche):
“Man muss den Tschechen zugestehen, dass sie Naturliebhaber sind. Sie lieben die Natur wirklich von ganzem Herzen, genauso wie die Landschaft. Ich würde sogar sagen, dass sie ein tieferes Gefühl zur Natur haben als viele andere Nationen. Das zeigt sich auch in Meinungsumfragen auf gesamteuropäischer Ebene. Wenn es zum Beispiel darum geht, einen Urlaubsort zu wählen, ist die Natur drumherum für Tschechen das allerwichtigste Kriterium. Sie entscheiden nicht nach touristischen Attraktionen, Sehenswürdigkeiten oder nach dem Preis, sondern legen den größten Wert auf die umliegende Natur. In mehreren Umfragen hintereinander haben die Tschechen in dieser Frage den ersten Platz belegt. Sehen Sie, wir gehören zu den Letzten, was das Klima betrifft, aber wir gehören zu den Ersten, was die Liebe zur Natur betrifft. Deshalb glaube ich nach wie vor: Wenn wir aufhören, schematisch die Kommunikationsrezepte aus Deutschland oder Großbritannien zu übernehmen, um die Öffentlichkeit für Umweltfragen zu gewinnen, sondern stattdessen versuchen, die tschechische Stimmung verstehen, haben wir eine Chance, es besser zu machen und einen tschechischen Weg zu finden. Ich glaube, wenn man es richtig anpackt, kann sich die tschechische Öffentlichkeit sehr aktiv für den Schutz von Natur, Umwelt und Klima einsetzen. Aber wir müssen ganz andere Wege suchen und beschreiten als die in Westeuropa erprobten.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Damit endet die erste Folge des Podcasts "Sechs Mal Tschechien" beim nächsten Mal wird es um die Beziehung Tschechiens zu Russland gehen. Wir zeigen dann wie sich die gemeinsamen Beziehungen in den letzten drei Jahren und insbesondere durch den russischen Angriff gegen die Ukraine verändert haben."

Zu Gast in dieser Folge:

Prof. Dr. Bedřich Moldan ist ein Geochemiker, Umweltschützer, Journalist und Politiker. Er spielte eine bedeutende Rolle in der Entwicklung der tschechischen Umweltgesetzgebung nach 1989. Er war der erste tschechoslowakische (und tschechische) Umweltminister (1990-1991) überhaupt. Moldan ist Professor für Umweltwissenschaften, sowie Gründer und Direktor des Umweltcenters der Karlsuniversität.
Er wird als einer der wichtigsten Vertreter der tschechoslowakischen und tschechischen Umweltschule bezeichnet. Er ist ein weltweit anerkannter Experte auf dem Gebiet der analytischen Chemie, Biochemie und Umwelt. Durch sein umfangreiches pädagogisches, journalistisches, organisatorisches, politisches und diplomatisches Wirken hat er mehrere Generationen von Umweltschützern tiefgreifend beeinflusst und wesentlich zum Aufbau des Rechtssystems des Umweltschutzes in der Tschechischen Republik beigetragen.

Quelle

Romana Jungwirth Březovská hat Internationale Beziehungen an der Karlsuniversität in Prag und International Public Management an der Sciences Po in Paris studiert. In den Jahren 2019 und 2020 vertrat sie die Tschechische Republik bei internationalen Klimaverhandlungen. Während der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2022 arbeitete sie für das Umweltministerium im Bereich Biodiversität und klimarelevante internationale Verhandlungen. Derzeit arbeitet sie am Forschungsinstitut für globalen Wandel der Tschechischen Akademie der Wissenschaften und ist ist Klimaanalystin bei AMO – Association for International Affairs.

Quelle

RNDr. Alexandr Vondra ist seit 2019 für die Bürgerdemokraten (ODS) Mitglied des Europäischen Parlaments. Während der Samtenen Revolution war er im November 1989 Gründungsmitglied des Bürgerforums (Občanské fórum) und deren Zeitung Informační servis, aus dem 1990 die Wochenzeitung Respekt hervorging. Von 1990 bis 1992 war er außenpolitischer Berater des letzten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel, von Juli 1992 bis März 1997 stellvertretender Außenminister der neu gegründeten Tschechischen Republik und von 1997 bis 2001 vertrat Vondra Tschechien als Botschafter in den USA. Zudem war er von 2006 bis 2012 tschechischer Senator, 2006–2007 Außenminister, 2007–2009 stellvertretender Premierminister und 2010–2012 Verteidigungsminister Tschechiens.

Quelle

Dr. Jan Kajhanzl ist Sozial- und Umweltpsychologe. Er absolvierte ein Psychologiestudium mit dem Schwerpunkt Sozial- und klinische Psychologie (2004) und schloss anschließend seine Promotion im Bereich Sozialpsychologie (2010) an der Philosophischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag ab. Zu seinen beruflichen Interessen gehören die Kommunikation des Natur- und Umweltschutzes gegenüber der Öffentlichkeit, psychologische Fragen des menschlichen Kontakts mit der Natur und das Verhalten der tschechischen Öffentlichkeit in Umweltfragen.

Er ist Gründer und Leite des "Institut 2050" und arbeitet an der Abteilung für Umweltstudien der Fakultät für Sozialwissenschaften der Masaryk-Universität in Brünn. Zudem arbeitet er regelmäßig mit tschechischen Medien (z. B. dem tschechischen Rundfunk) und einer Reihe von staatlichen Stellen und NROs zusammen.

Quelle

Folge 2: Tschechiens Beziehung zu Russland

Tschechien und die USA waren im Mai 2021 die ersten beiden Länder, die Russland auf seine „Liste feindlicher Länder“ gesetzt haben. Warum war gerade die Tschechische Republik Wladimir Putin ein Dorn im Auge? Wie haben sich die tschechisch-russischen Beziehungen nach 1989 entwickelt? Und inwiefern wird die Debatte heute immer noch von der Nachkriegszeit bestimmt, also von jener Zeit, in der die Tschechoslowakei Teil des Ostblocks war und in der es 1968 zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes kam? Unsere Gäste sind drei Wissenschaftler der Prager Karlsuniversität, und zwar der politische Geograph Michael Romancov, der Historiker Karel Svoboda sowie der Politologe und Extremismusexperte Jan Charvát.

Die öffentliche Meinung zu Russland ist stark durch die historische Erfahrung geprägt, insb. durch den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei und die Besetzung des Landes in 1968. Die Okkupation beendete den Prager Frühling, einen Demokratisierungsprozess des Regimes, der zu dieser Zeit im Gange war. Es begann die Zeit der sog. Normalisierung, die mit politischen Säuberungen, Zensur, Unfreiheit, groben Verstößen gegen die Menschenrechte und dem wirtschaftlichen Rückstand des Landes einherging. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs verließen die sowjetischen Truppen 1991 das Gebiet der Tschechoslowakei. Mit der Samtenen Revolution befreite sich das Land aus der Einflusssphäre der Sowjetunion und wandte sich politisch und wirtschaftlich dem Westen zu.

Die Jahre seit der russischen militärischen Unterstützung der Separatisten im Osten der Ukraine im Jahr 2014 sind durchzunehmende diplomatische Spannungen gekennzeichnet. Tschechien unterstützte die internationalen Sanktionen gegen Russland wegen der Ukrainekrise. Im Frühjahr 2018 wies die Tschechische Republik als Reaktion auf die Vergiftung des ehemaligen russischen Agenten Sergej Skripal in Großbritannien drei russische Diplomaten aus. Tschechien hat bereits in der Vergangenheit drei Mitglieder der russischen Mission wegen Spionageverdacht ausgewiesen. Zu einer weiteren Abkühlung der russisch-tschechischen Beziehungen kam es im Jahr 2019, als bekannt wurde, dass ein russischer Gesetzesentwurf die Soldaten, die an der sowjetischen Besatzung der Tschechoslowakei beteiligt waren, als Kriegsveteranen anerkennt und damit den Einmarsch der Truppen legitimiert. Der Präsident Milos Zeman lud den russischen Botschafter vor, um eine Erklärung aufzufordern. Im Jahr 2019 sorgte für Unmut in Russland der Beschuss der Stadtrat von Prag 6, das Marschall-Konew-Denkmal von 1980 in Prag zu entfernen und es durch ein Denkmal der Befreiung Prags am Ende des Zweiten Weltkriegs zu ersetzen. Die diplomatischen Beziehungen beider Länder kamen fast zum Erliegen, nachdem im Jahr 2021 der Öffentlichkeit die Ermittlungsergebnisse zu den Explosionen in Munitionslagern in Vrbětice im 2014 präsentiert wurden. Die Spuren führen eindeutig zu russischen Agenten, die bereits an der Ermordung von Skripal beteiligt waren. Nach einer gegenseitigen Ausweisung von einer größeren Anzahl von Diplomaten entschied Tschechien das Personal der sowieso ungewöhnlich stark besetzten russischen Botschaft dauerhaft zu senken und so zu deckeln, dass sie immer dem Personal der tschechischen Botschaft in der Russischen Föderation entspricht. Im Mai 2021 gab Russland dann eine offizielle Liste der nicht befreundeten Länder heraus. Neben der Tschechischen Republik standen zu der Zeit nur noch die USA auf dieser Liste. Die Enthüllungen führten auch dazu, dass die russische Firma Rosatom aus der Ausschreibung zum Ausbau des Atomkraftwerkes Dukovany ausgeschlossen wurde. Neben den üblichen diplomatischen Schritten griff Tschechien wiederholt auch zu etwas ungewöhnlichen Mitteln, um Russland seinen Unmut zu zeigen und es abzumahnen. So wurde im 2020 der Platz, auf dem nur die russische Botschaft ihren Sitz hat auf Platz von Boris Njemcov umzubenennen. Außerdem wurde eine weitere Straße in der Nähe der Botschaft auf die Anna Politkowskaja Straße umbenannt. Seitdem nutzt die Botschaft als ihre offizielle Postadresse die Adresse ihrer Konsularabteilung. Nach dem Russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 wurde dann auch ein Teil dieser Straße auf die Straße der Ukrainischen Helden umbenannt.

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Tschechien und die USA waren im Mai 2021 die ersten beiden Länder, die Russland auf seine „Liste feindlicher Länder“ gesetzt haben. Warum war gerade die Tschechische Republik Wladimir Putin ein Dorn im Auge? Wie haben sich die tschechisch-russischen Beziehungen nach 1989 entwickelt? Und inwiefern wird die Debatte heute immer noch von der Nachkriegszeit bestimmt, also von jener Zeit, in der die Tschechoslowakei Teil des Ostblocks war und in der es 1968 zum Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes kam? Unsere Gäste sind drei Wissenschaftler der Prager Karlsuniversität, und zwar der politische Geograph Michael Romancov, der Historiker Karel Svoboda sowie der Politologe und Extremismusexperte Jan Charvát. In der kommenden halben Stunde nehmen wir Sie aber auch mit auf eine regierungskritische Demonstration, bei der teils antiukrainische Parolen laut wurden. Zunächst aber begeben wir uns in ein friedliches Stadtviertel Prags, in dem bis vor gar nicht so langer Zeit ein Denkmal für einen berühmten Sowjet-Marschall stand. Mein Name ist Filip Rambousek, und ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Zuhören.

Ich befinde mich im sechsten Prager Stadtbezirk. Hier bei mir ist der Historiker Karel Svoboda. Er ist Experte für jüngere russische Geschichte. Wir haben unser Treffen gerade hier in diesem Park vereinbart, da sich bis vor Kurzem ungefähr da, wo wir jetzt stehen, eine Statue für den sowjetischen Marschall Konew befand. Bis 2020, um genau zu sein. Dann wurde das Monument entfernt. Heute ist kaum noch zu erkennen, wo genau das Denkmal einst stand, es ist einfach spurlos verschwunden."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die Statue wurde ursprünglich 1980 hier aufgestellt. Sie sollte ein Denkmal dafür sein, wie die sowjetischen Truppen die Tschechoslowakei oder konkreter: Prag befreit haben. Man erzählte sich, dass das Monument gerade an diesem Ort errichtet wurde, um jenen Genossen eine Freude zu machen, die hier entlang zum Hotel International fuhren. Dieses Hotel wurde in den 1950er Jahren zu Ehren Stalins erbaut. An der Statue war aus künstlerischer Sicht nichts Besonderes – das sagen zumindest die Kunsthistoriker. Auch historisch hatte sie eigentlich kaum Bedeutung. Wie bereits gesagt, wurde sie 1980 aufgestellt.“

Filip Rambousek:
"Dieses Entstehungsjahr lässt aufhorchen. Die Statue wurde nicht 1945 oder 1947 errichtet, sondern erst viele Jahre nach dem sowjetischen Einmarsch von 1968. Das Monument hat somit eine andere Bedeutung, als wenn es kurz nach dem Krieg hier platziert worden wäre."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die russische Geschichtsschreibung versucht, die Statue als ein Denkmal darzustellen, das die dankbaren Prager dem Marschall und Befreier Konew zu Ehren errichteten. In Wirklichkeit wurde sie aber eben viel später aufgestellt. Unter Stalin wäre diese Statue undenkbar gewesen, denn der hatte seinen eigenen Personenkult. Auch als Chruschtschow an der Macht war, hatte die Sowjetunion ganz andere Prioritäten. Erst in der späten Breschnew-Ära entstand wieder ein Kult um den Zweiten Weltkrieg – oder besser gesagt: den Großen Vaterländischen Krieg.“

Filip Rambousek:
"Derartige Gedenkstätten wurden aus politischen Gründen und als Machtsymbol erbaut, sagt Michael Romancov. Das sei im Übrigen schon zur Zeit des russischen Kaiserreichs so gewesen."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„In allen Regionen, die das russische Imperium eroberte, wurde stets eine orthodoxe Kirche errichtet. Dadurch sollte die Zugehörigkeit des Ortes zur russischen Einflusssphäre gestärkt werden. Nach 1945 wurden aber natürlich keine Kathedralen mehr errichtet, sondern eben monumentale Denkmäler, die vor allem Stalin zeigten. Als kleine Randbemerkung sei erwähnt, dass die Tschechoslowakei eines der wenigen Länder des Ostblocks war, in dem nichts nach Stalin benannt war. In Ungarn, Polen oder der DDR war das anders, dort erhielten ganze Städte entsprechende Namen. Hierzulande gab es damals lediglich die Stadt Gottwaldov, die nach dem ersten kommunistischen Präsidenten der Tschechoslowakei benannt war. Aber es entstanden eben viele Denkmäler. Das Konew-Denkmal sollte vor allem die Zugehörigkeit Prags und der Tschechoslowakei zum sowjetischen Block zum Ausdruck bringen.“

Filip Rambousek:
"Dennoch wurde die Statue nicht sofort nach der Samtenen Revolution gestürzt. Die Rufe, die Statue zu entfernen, wurden erst ab 2015 lauter, also kurz nachdem Russlands Aggression im Osten der Ukraine begann. Ein Teil der tschechischen Öffentlichkeit und der Politik habe damals die Notwendigkeit gesehen, ein Zeichen gegen den Konflikt zu setzen, sagt Karel Svoboda:"

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Man wollte auf Russlands aggressive Politik in den postsowjetischen Ländern reagieren. Nach 2014 wuchs der Druck der tschechischen Öffentlichkeit, Sowjet-Denkmäler und andere Dinge, die an unsere einstige Zugehörigkeit zum sozialistischen Block erinnerten, aus dem öffentlichen Raum zu entfernen. Das führte zu einigen Debatten, gerade auch bei konservativen kommunistischen Politikern. Es wurden sogar einige kleinere Demonstrationen organisiert. Im Großen und Ganzen denke ich aber, dass die tschechische Öffentlichkeit es in der Mehrheit eher unterstützt hat, Denkmäler aus der sowjetischen Zeit zu entfernen.“

Filip Rambousek:
"Dies unterstreicht auch der Umstand, dass vor Kurzem nicht nur das Denkmal, sondern auch eine nach Konew benannte Straße im dritten Prager Stadtbezirk umbenannt wurde. Der Platz vor der russischen Botschaft wiederum wurde 2020 zum Boris-Nemzow-Platz erklärt. Im angrenzenden Park Stromovka entstand zur gleichen Zeit eine Promenade, die den Namen der ermordeten russischen Journalistin Anna Politkowskaja erhielt. Als Reaktion auf den Angriffskrieg in der Ukraine wurde zudem die Straße vor der russischen Botschaft in ‚Straße der Ukrainischen Helden‘ umbenannt."

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Vielleicht war es auch der Einmarsch der Warschauer-Pakt-Truppen im August 1968, die später dazu führte, dass sich die Tschechoslowakei in den 1990er Jahren schnellstmöglich von den Machtstrukturen des ehemaligen Ostblocks losmachen wollte. Symbolisch brachte dies zum Beispiel der Bildhauer David Černý zum Ausdruck. 1991 bemalte er in einer Nacht-und-Nebel-Aktion einen sowjetischen Panzer mit rosaroter Farbe. Das militärische Gerät galt eigentlich als Denkmal für die Befreiung Prags durch die Rote Armee. Die Aktion führte zu offiziellem Protest der sowjetischen Regierung. Wie Michael Romancov zudem betont, war die Tschechoslowakei der erste Staat, der den Abzug sowjetischer Truppen von seinem Gebiet durchsetzen konnte. Insgesamt handelte es sich um 70.000 Soldaten."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Die Armee der Sowjetunion verließ 1991 die Tschechoslowakei, noch bevor es im August desselben Jahres in Moskau einen Putschversuch gegen Gorbatschow gab. In dieser Zeit kam es zu mindestens zwei weiteren wichtigen Ereignissen, an denen die Tschechoslowakei bedeutenden Anteil hatte. Zum einen war das die Auflösung des Rats für gegenseitige Wirtschaftshilfe, zum anderen das Ende des Warschauer Paktes. Der Vertrag über die Auflösung dieses Militärbündnisses wurde in Prag im Palais Czernin unterzeichnet.“

Filip Rambousek:
"Da Russland in den 1990er Jahren zahlreiche innenpolitische Probleme hatte, sei es für die Tschechoslowakei – und nach der Staatsteilung 1993 für die Tschechische Republik – leichter gewesen, einen eigenen außenpolitischen Weg einzuschlagen, sagt Karel Svoboda."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische Außenpolitik zeichnete sich vor allem durch die Bemühungen aus, wieder ein Teil Europas zu werden. Der Weg ging eindeutig in Richtung Europäische Union. Russland sah man als einen chaotischen Koloss irgendwo im Osten an, den man nicht sonderlich im Blick haben muss.“

Filip Rambousek:
"Der Frontmann der damaligen prowestlichen Ausrichtung Tschechiens war Staatspräsident Václav Havel. Michael Romancov meint:"

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Havel war eindeutig proeuropäisch und proatlantisch. Er war nie antirussisch, hat aber stets vor Russland gewarnt und betont, dass es wichtig sei, vor dem Land auf der Hut zu sein.“

Filip Rambousek:
"Die symbolische Rückkehr nach Europa bestätigte Tschechien offiziell 1999 durch den Nato-Beitritt und 2004 durch den Eintritt in die EU. Staatsoberhaupt war damals noch immer Václav Havel. Die Eingliederung Tschechiens in westliche Strukturen sah er auch als Schutzmaßnahme vor einer eventuellen Bedrohung durch Russland. Zur gleichen Zeit habe sich aber die Dynamik zwischen Russland und Mitteleuropa zu verändern begonnen, betont Romancov:"

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„In diesem Moment wurden wir für die Russen wieder interessant. Für sie war es nicht gerade eine Freude zu sehen, wie Tschechien, Polen, Ungarn und weitere Länder sozusagen die Seite wechselten. So nahm das Russland nämlich damals wahr. In der gleichen Zeit wurde Václav Klaus Tschechiens Staatspräsident. Das ist für mich ein Schlüsselmoment. Klaus war im Westen nicht so angesehen wie zuvor Václav Havel. Das bezog sich auf die Vereinigten Staaten genauso wie auf Großbritannien, Frankreich oder Deutschland. Meiner Meinung nach hat sich Klaus bewusst und programmatisch Russland zugewandt.“

Filip Rambousek:
"Klaus‘ Zuneigung zu Russland zeigte sich etwa darin, dass er Wladimir Putin bei dessen Prag-Besuch 2006 anbot, die Gespräche auf Russisch zu führen."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Putin quittierte das damals mit den Worten, er fühle sich geehrt. In Wirklichkeit muss ihm aber klargewesen sein, dass wir uns ihm damit unterwerfen. Denn weder Klaus noch sein Nachfolger Zeman, der diese Marotte später übernahm, sprach Russisch auf solch einem Niveau, dass er mit einem Muttersprachler eine gehobene Konversation führen konnte.“

Filip Rambousek:
"Einige Jahre später – 2009 – kam es zum Treffen zwischen dem damaligen tschechischen Außenminister Karel Schwarzenberg und seinem russischen Amtskollegen Sergei Lawrow. Laut Romancov offenbarte diese Begegnung besonders gut die Einstellung, mit der Russland auf Mitteleuropa blickt."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Karel Schwarzenberg sprach an, wie wir in Mitteleuropa die Lage in Osteuropa sehen. Lawrow unterbrach ihn und meinte, dass Tschechien kein mitteleuropäisches, sondern ein osteuropäisches Land sei. Schwarzenberg widersetzte sich dem, woraufhin Lawrow sagte, er hätte seine Aussage nicht konfrontativ gemeint. Er hätte Tschechien nur deshalb als Osteuropa bezeichnet, da das Land bei den Vereinten Nationen zur Gruppe der osteuropäischen Länder gehöre. Das mag objektiv gesehen zwar stimmen, die Russen haben damit aber eindeutig klargemacht, wo sie uns gern sehen würden. Klaus und Zeman haben dann leider alles unternommen, damit dieser Wunsch Moskaus in Erfüllung zu gehen schien.“

Filip Rambousek:
"Sowohl Staatspräsident Václav Klaus als auch sein Nachfolger Miloš Zeman haben laut Romancov dazu beigetragen, dass Tschechien Russland gewissermaßen nicht mehr als Sicherheitsrisiko sah. In den Mittelpunkt rückten stattdessen die Handelsbeziehungen und die Zusammenarbeit im Energiesektor. Zeman hielt an seiner prorussischen Einstellung sogar fest, als es zur Annexion der Krim kam und im Osten der Ukraine der Krieg ausbrach. Der Historiker Karel Svoboda spricht bei Zeman von einer besonderen Form des Pragmatismus."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Zemans Pragmatismus hatte das Ziel, Russland als Handelspartner zu nutzen, der hierzulande in Firmen investiert. Befürchtungen vor Russland ließ er jedoch nicht gelten. Miloš Zeman äußerte sich sogar abfällig über all jene, die darauf aufmerksam machten, dass Russland eine Gefahr ist, das Land immer aggressiver wird und der Krieg im Osten der Ukraine kein Zufall, sondern nur der Anfang ist. All diese Stimmen tat Zeman ab. Gleichzeitig wurde im liberalen und eher rechten Parteienspektrum die Überzeugung immer größer, dass Russland eine Bedrohung darstellt.“

Filip Rambousek:
"Trotz dieser Warnsignale wurde Tschechien immer abhängiger von fossilen Brennstoffen aus Russland. Diese Abhängigkeit habe ihre Wurzeln in der Geschichte, schildert Svoboda."

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Die meisten Öl- und Gaspipelines wurden gebaut, ohne auf die Interessen der einzelnen Nationalstaaten Rücksicht zu nehmen. In der Tschechoslowakei sah man die Sowjetunion als Freund an – und das „auf ewige Zeiten und nie anders“, wie es in einer Parole hieß. Die Leitungen für Öl und Gas führten von der Sowjetunion über die Tschechoslowakei nach Deutschland. Es gab keinen Grund, über Energiesicherheit zu diskutieren.“

Filip Rambousek:
"1997 konnte Tschechien zwar Erdgaslieferungen mit Norwegen vereinbaren, die ungefähr ein Viertel des tschechischen Bedarfs deckten. 20 Jahren später, also 2017, wurde der Vertrag aber aus wirtschaftlichen Gründen nicht verlängert. Tschechien gelangte wieder in völlige Abhängigkeit von russischem Gas – bis die russische Armee in der Ukraine einmarschierte. Seit dem Februar 2022 konnte Tschechien in sehr kurzer Zeit die Gaslieferungen aus Russland quasi auf null herunterdrosseln. Beim Öl sehe das Ganze jedoch anders aus, betont Svoboda:"

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien konnte eine Ausnahme vom Embargo vereinbaren. Für einen gewissen Zeitraum darf also weiter Öl aus Russland bezogen werden. Das liegt zum einen daran, dass Tschechien keine Lieferungen von anderswo vereinbaren konnte, und zum anderen daran, dass die Raffinerien hierzulande nur mit russischem Öl funktionieren. Eine Umstellung auf einen Rohstoff von anderswo ist nicht ganz einfach. Deshalb kam es zu der zeitlich begrenzten Ausnahme.“

Filip Rambousek:
"Die Sonderregelung gilt bis 2025. Bis dahin soll die Erweiterung der TAL-Pipeline fertiggestellt sein, die Italien, Österreich und Deutschland miteinander verbindet. Interessant ist aber, dass der Anteil russischer Öleinfuhren gestiegen ist, wenn man sich die vergangenen Jahre ansieht. Während 2021 fast die Hälfte aller Ölimporte aus Russland kam, lag der Anteil 2022 bei 56 Prozent und in der ersten Jahreshälfte 2023 bereits bei 65 Prozent. Nicht außer Acht gelassen werden darf zudem der Bereich Kernenergie. Auch auf diesem Feld zeigte Miloš Zeman seine prorussische Haltung. Michael Romancov:"

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Zeman drängte darauf, dass der Auftrag für die Erweiterung des AKW Dukovany – der größte Deal im mitteleuropäischen Energiesektor – ganz nach dem Vorbild Ungarns ohne öffentliche Ausschreibung an Russland gehen sollte. Doch am Ende kam es anders. Das liegt vor allem daran, dass der Fall Vrbětice aufgedeckt wurde, als man über diese Dinge entschied.“

Filip Rambousek:
"Aber was genau hat es mit diesem Fall Vrbětice auf sich? Das erläutert Karel Svoboda:"

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„2014 kam es zu einer großen Explosion in einem Munitionslager im mährischen Vrbětice. Einige Zeit lang wurde in dem Fall ermittelt, doch es gab keine Ergebnisse. Dies änderte sich erst nach dem Giftanschlag auf Sergei Skripal in Salisbury. Man fand heraus, dass sich die zwei russischen Agenten, die für das Attentat auf Skripal verantwortlich waren, auch in Tschechien aufgehalten hatten – und dass ein Zusammenhang zur Explosion des Munitionslagers in Vrbětice bestand. Die tschechischen Sicherheitsorgane konnten eine Verbindung zwischen den Agenten und dem Besitzer des Munitionslagers nachweisen. Er hatte ihnen ermöglicht, die Explosion durchzuführen.“

Filip Rambousek:
"Der Fall Vrbětice hatte dabei noch eine weitere internationale Dimension, wie Michael Romancov weiß:"

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Explosion mit dem damaligen Krieg im Donbass im Zusammenhang stand. Denn die Munition, die dort eingelagert war, war für die Ukraine bestimmt. Sie sollte dort im Krieg eingesetzt werden – oder im Falle einer russischen Invasion. Deshalb verübten die Russen diesen Sabotageakt. Zwei tschechische Bürger verloren dabei ihr Leben. Tschechien hat also zwei Opfer im Konflikt zwischen Russland und der Ukraine zu beklagen – und das mitten im eigenen Land. Nachdem der Fall aufgedeckt wurde, wies Prag 18 sogenannte russische Diplomaten aus, die vom tschechischen Geheimdienst als Agenten identifiziert worden waren. Als Reaktion darauf wurde Tschechien im Mai 2021 gemeinsam mit den USA auf Russlands ‚Liste feindlicher Länder‘ gesetzt.“

Filip Rambousek:
"Das vergleichsweise scharfe Vorgehen der tschechischen Regierung stand damals im Gegensatz zur Haltung von Staatspräsident Zeman. Dieser vertrat nach wie vor prorussische Positionen – seit seiner Amtseinführung im Jahr 2013 hatte sich daran nichts geändert."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Er zweifelte nicht nur eine Beteiligung Russlands am Krieg im Donbass an und empfahl der Ukraine, die Krim an Russland abzutreten. Sondern auch in vielen weiteren Aspekten verschloss er sich jenem Blick auf die Dinge, wie er im Westen überwog. Zum Anschlag auf Sergei Skripal sagte Zeman etwa, dass das verwendete Nervengift Nowitschok früher ja auch in Tschechien hergestellt worden sei. Damit befeuerte der Präsident auch seinen Konflikt mit den Journalisten in Tschechien. Zum Fall Vrbětice meinte Zeman nur, es gebe rund um die Explosion des Waffenlagers unterschiedliche Theorien der Ermittler. Das war alles. Seine Haltung änderte Zeman erst angesichts der russischen Invasion in der Ukraine im Februar 2022. Grund dafür war aber nur, dass er sehr gut wusste, dass seine politische Karriere andernfalls zu Ende gegangen wäre.“

Filip Rambousek:
"Seit dem Februar 2022 sei die Meinung der tschechischen Öffentlichkeit zum russischen Einmarsch in die Ukraine relativ eindeutig, sagt Karel Svoboda:"

Karel Svoboda (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt zwar Parteien, die prorussisch eingestellt sind, vor allem die Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) und die Kommunistische Partei. Ich würde aber sagen, dass das eher kleinere Strömungen sind. Aus Meinungsumfragen geht hervor, dass rund 80 Prozent der Menschen die Schuld für die Invasion eindeutig bei Russland sehen. Schon eher gehen die Meinungen darüber auseinander, wie eine Lösung des Konflikts aussehen könnte. Aber dennoch würde ich sagen, dass die Unterstützung für die Ukraine immer noch sehr groß ist. Natürlich wächst eine gewisse Kriegsmüdigkeit, aber dazu kommt es immer – im Übrigen auch in Russland. Aber: Ich erlaube mir zu behaupten, dass die Mehrheit der Menschen in Tschechien die russische Aggression klar verurteilt.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Prag, 16. September 2023. Am oberen Ende des Wenzelsplatzes haben sich viele Menschen versammelt. Die meisten von ihnen haben tschechische Fahnen dabei. So viele tschechische Flaggen auf einmal habe ich wohl noch nie gesehen. Gleich soll hier eine Demonstration losgehen mit dem Motto „Tschechien gegen die Regierung“.

Es gibt hier viele Transparente. „Stoppt den Öko-Terror“, steht auf einem. „Nein zum Krieg“, heißt es woanders. Die ältere Frau, die gerade dieses Schild in die Höhe reckt, frage ich, wie sie das genau meint."

Demonstrantin (übersetzt ins Deutsche):
„Wir sind wegen der Regierung hier. Sie ist gegen die Menschen. Warum da ‚Nein zum Krieg‘ steht? Die Regierung zieht uns geradezu in den Konflikt mithinein. Wir sind für Russland der Erzfeind Nummer eins. Schuld daran ist die Regierung. Und wir haben natürlich Angst. Wir wollen keinen Krieg. Und dann ist da noch die finanzielle Lage. Die Regierung hat die Menschen und das gesamte Land heruntergewirtschaftet. Jetzt kochen die Emotionen natürlich hoch. Die Leute können einfach nicht mehr. Manche vielleicht schon, aber ich habe genug von alldem.“

Filip Rambousek:
"Und den Grund dafür sehen Sie auch darin, dass die tschechische Regierung die Ukraine unterstützt? Das stört Sie?"

Demonstrantin (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, genau. Waffen und überteuerte Flugzeuge stehen für die Regierung an erster Stelle. Aber den Rentnern und Schulkindern nehmen sie das Geld weg. Das Gesundheitssystem geht den Bach herunter, die Leute haben kein Geld mehr in den Taschen. Was soll man dazu noch sagen? Das ist eben die Regierung, die gegen die Menschen ist.“

Filip Rambousek:
"Später spreche ich noch mit einem Mann mittleren Alters.

„Hallo! Was bringt Sie hierher zu dieser Demonstration?“"

Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Wir sind unzufrieden mit der Regierung und damit, dass sie den Leuten das Geld wegnimmt und es stattdessen in die Ukraine pumpt.“

Filip Rambousek:
"Sie finden es also nicht gut, dass Tschechien Waffen an die Ukraine liefert?"

Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Das finde ich ganz und gar nicht gut.“

Filip Rambousek:
"Die meisten Menschen sind sicher der Meinung, dass Russland die Ukraine angegriffen hat. Wäre es da nicht gut, dass…"

Demonstrant (übersetzt ins Deutsche):
„Russland hat die Ukraine nicht angegriffen. Russland wurde in diesen Krieg mit der Ukraine hineingezogen.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"An der Demonstration im September nahmen Schätzungen zufolge rund 10.000 Menschen teil. Es war nicht der erste Protest in den vergangenen Monaten gegen die Regierung. Meist nehmen an den Veranstaltungen Menschen im mittleren und hohen Alter teil. Experten zufolge radikalisiert sich die Mittelschicht in Tschechien wie in anderen Ländern immer mehr. Die Protestierenden würden dabei unterschiedliche Meinungsströmungen vertreten, sie kämen von Linksaußen, aber auch vom rechten Rand, sagt der Politikwissenschaftler Jan Charvát:"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Dass sich diese Menschen miteinander verbinden, ist sehr deutlich. Vor allem eint sie ihr starker Widerstand gegen den Westen, sie lehnen den westlichen Liberalismus ab und auch den Liberalismus allgemein. Stattdessen wenden sie sich dem Autoritarismus zu. Sie haben das Gefühl, Westeuropa sei – angesichts von LGBT, Veganismus und anderen Werten – verloren, dekadent und schwach. Es muss nicht immer so klar formuliert sein, aber die Vorstellung, der Westen sei verloren, führt bei vielen Menschen dazu, dass sie sich fragen, wo denn die Macht sei, auf die wir uns stützen könnten. Und wenn der Westen verloren ist, dann bleibt uns ja nur noch der Osten.“

Filip Rambousek:
"Offene prorussische Haltungen sind in Tschechien laut Charvát eher die Ausnahme. Umso stärker vertreten sind aber Meinungen, die die russischen Interessen indirekt unterstützen."

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Als ich die Parolen gehört habe, die auf den Demonstrationen vertreten wurden, fiel mir auf, dass das die Leitsätze aus den kommunistischen Lehrbüchern der 1980er Jahre sind. Die heutige mittlere und ältere Generation ist mit diesen Parolen aufgewachsen. Es sind Sprüche wie: ‚Wir wollen Frieden‘, ‚Frieden ist besser als Krieg‘, ‚Frieden um jeden Preis‘, ‚Russland ist ein Garant für Frieden‘ oder ‚Russland hat den Faschismus besiegt‘. All dies taucht dort auf. Dabei zeigt sich, dass ‚Frieden‘ in den Augen einiger Demonstranten bedeutet, die Waffenlieferungen an die Ukraine einzustellen und wieder Handelsbeziehungen mit Russland aufzunehmen.“

Filip Rambousek:
"Ein weiteres wichtiges Thema der regierungskritischen Demonstrationen sind die Geflüchteten aus der Ukraine. Das Zehn-Millionen-Einwohnerland Tschechien beherbergt aktuell etwa 350.000 von ihnen. Während 2015 die Aufnahme von Geflüchteten von den meisten Tschechen abgelehnt wurden, sei die Stimmung im Februar 2022 ganz anders gewesen, schildert Jan Charvát:"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Die Unterstützung für die Ukraine erreichte über 90 Prozent Zustimmung, und ebenso groß war auch die Bereitschaft zur Aufnahme Geflüchteter. Heute, ein Jahr später, ist zu sehen, dass Systemverweigerer und Vertreter der Desinformationsszene wieder genau die gleichen Narrative verwenden wie 2015. Sie sagen, die Migranten würden Arbeitsplätze wegnehmen, die Kriminalität würde steigen, die Eingewanderten würden mit Drogen handeln und Gelder vom Staat beziehen – zu Lasten der eigenen Bürger. Oftmals tauchen auch Behauptungen auf, dass es sich gar nicht um Flüchtlinge handele, da sie ja teure Autos und Handys hätten. Mich würde einmal interessieren, ob sich die diejenigen, die diese Narrative verbreiten, eigentlich dessen bewusst sind, dass sie ein und dasselbe von sich geben wie 2015.“

Filip Rambousek:
"Teile der tschechischen Öffentlichkeit lehnen die ukrainischen Flüchtlinge also ab. Dahinter stecke das subjektive Gefühl, ungerecht behandelt zu werden, sagt Charvát."

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Manche Menschen haben das Gefühl, der Staat kümmere sich nicht um sie, sondern stattdessen um andere. Es ist dann ganz egal, ob das Roma, Migranten aus Syrien oder Ukrainer sind. ‚Der Staat soll sich doch um mich kümmern, damit ich das Geld bekomme und nicht irgendwelche Flüchtlinge.‘ So sehen das manche Menschen.“

Filip Rambousek:
"Eine Rolle bei der Verbreitung derartiger Ansichten haben auch Desinformationskampagnen und weitere Formen falscher oder irreführender Informationen. Die Bedeutung prorussischer Fake News würde in Tschechien aber überschätzt werden, meint Charvát. Beim absichtlichen Verbreiten von Lügen sei nicht das zentrale Ziel, Russland als bestes Land der Welt darzustellen. Stattdessen solle das Vertrauen in die seriösen Medien und die Demokratie im Allgemeinen untergraben werden. Und in diesem Bereich leistet die Desinformationsszene in Tschechien ganze Arbeit…"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Aktuellen Studien zufolge gibt es scheinbar eine relativ große Gruppe von Menschen, die zwar nicht an Desinformationen glaubt, sich aber sagt: ‚Vielleicht ist da ja doch etwas dran. Ich bin mir nicht sicher, ob etwas davon nicht doch stimmt. Ich habe das Vertrauen in das aktuelle System verloren.‘ Diese Menschen neigen dazu, Desinformationen am Ende zu glauben.“

Filip Rambousek:
"Die gezielte Polarisierung der Gesellschaft ist zudem ein Mittel, um unzufriedene Wähler für sich zu gewinnen. Dessen sind sich laut Michael Romancov auch die Veranstalter der derzeitigen Regierungsproteste bewusst."

Michael Romancov (übersetzt ins Deutsche):
„Diejenigen, die prorussische Narrative vertreten – allen voran die kommunistische Partei in Tschechien, aber auch viele andere –, haben nach dem ersten halben Jahr wieder ihre eigene Agenda aufgetischt. Ich sehe das als Bestandteil innenpolitischer Machtkämpfe. Es geht um Wählerstimmen. Diejenigen, die diese Strömungen anführen, rechnen sich aus, Punkte gutzumachen, wenn sie die offizielle Haltung der Regierung zum Konflikt in der Ukraine ablehnen.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Der zweite Teil des Podcasts „Sechsmal Tschechien“ ist damit an seinem Ende angelangt. In der nächsten Folge geht es um die Rechte von LGBTQ+-Menschen in Tschechien und um die Rolle der katholischen Kirche in der öffentlichen Debatte zu diesem Thema.

Wenn Sie das Geschehen in Tschechien interessiert, schalten sie auch beim nächsten Mal wieder ein.

Einen schönen Tag wünscht Ihnen Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Dr. Michael Romancov ist ein tschechischer politischer Geograph, Pädagoge und Publizist. Seine Schwerpunkte sind Geopolitik, Geschichte der internationalen Beziehungen, Russland, der Nahe Osten und Afrika. Er ist Absolvent der Pädagogischen Fakultät, der Philosophischen Fakultät und der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität. Seit 1998 unterrichtet er auch an der Karlsuniversität, und zwar an der Fakultät für Sozialwissenschaften, im Institut für politische Studien. Seit 2005 ist er auch an der Metropolitan University Prag tätig. Von 2001 bis 2007 war er Dozent an der Westböhmischen Universität (Fachbereich Politikwissenschaft und Internationale Beziehungen). Er schreibt für eine Reihe tschechischer Zeitschriften. Neben Tschechisch spricht er auch Englisch und Russisch.

Quelle

Dr. Karel Svoboda studierte Russistik und Osteuropastudien an der Karlsuniversität in Prag, wo er auch promovierte. Von 2012 bis 2013 war er Fulbright-Masaryk-Stipendiat an der University of Rochester, wo er Vorlesungen über politische Ökonomie der kommunistischen und postkommunistischen Welt hielt. Er hat ein langjähriges Interesse an der ehemaligen Sowjetunion. Er hat zahlreiche Artikel und wissenschaftliche Studien zu diesem Thema veröffentlicht.

Quelle

Dr. Jan Charvát ist ein tschechischer Politikwissenschaftler, der sich auf politischen Extremismus spezialisiert hat.

Er ist Assistenzprofessor an der Fakultät für Sozialwissenschaften, im Institut für politische Studien der Karlsuniversität, Lehrstuhl für Politikwissenschaft. In der Vergangenheit arbeitete er auch am Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Philosophie an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem.

Er studierte Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität und politische Soziologie an der Högskolan Dalarna in Schweden. Er promovierte an der Fakultät für Sozialwissenschaften mit einer Arbeit über die Formen des politischen Extremismus in der Tschechischen Republik nach 1989. Sein Spezialgebiet sind politischer Extremismus und verwandte Themen (Radikalisierung, extreme Rechte, extreme Linke, Rassismus und Subkulturen).

Er hat zahlreiche Bücher, Beiträge und Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht. Zum Thema Extremismus arbeitet er seit langem mit dem Non-Profit-Sektor zusammen zum Beispiel mit den Organisationen People in Need, Hate Free Culture und In IUSTITIA.

Quelle

Folge 3: Die Lage der LGBTQIA+

Auch wenn zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung für die Ehe für alle sind, hat der entsprechende Gesetzentwurf im Abgeordnetenhaus für lebhafte Diskussionen gesorgt. Es wurde sogar ein Gegenentwurf eingebracht, durch den in der Verfassung nach dem Vorbild von Polen, Ungarn, Russland oder der Slowakei die Ehe als ein Bündnis zwischen Mann und Frau verankert werden soll. Wieso spaltet die Diskussion um die rechtliche Stellung von LGBTQIA+ die politische Szene? Welche Rolle spielt die katholische Kirche in der Debatte? Und wie sehen queere Menschen selbst die Situation in Tschechien? Darüber sprechen wir mit der Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, mit der Juristin und Aktivistin Adéla Horáková und mit Michal Pitoňák vom Nationalen Institut für seelische Gesundheit (NUDZ). Außerdem zählen Jiří Navrátil von der christdemokratischen Partei und der katholische Priester Miloš Szabo zu unseren Gästen.

Anmerkung: Die tschechischsprachigen Redebeiträge werden in der Folge wörtlich übersetzt, wodurch oft das generische Maskulin verwendet wird. In unseren Ausführungen möchten wir explizit alle Menschen ansprechen. 

Tschechien ist im Hinblick auf Homosexualität relativ liberal. 2006 wurde die Eingetragene Lebenspartnerschaft (registrované partnerství) für homosexuelle Paare eingeführt. Historisch war es eines der wenigen Länder, die in den 1930er Jahren eine eigenständige organisierte Homosexuellenbewegung aufzuweisen hatte. Bereits in den 1930er Jahren gab es in der damaligen Tschechoslowakei eine Homosexuellenbewegung, die insbesondere in Prag und Brünn aktiv war. Die Československá Liga pro sexuální reformu (Tschechoslowakische Liga für Sexualreform, CLSR) war ein aktiver Teil der Weltliga für Sexualreform, der fünfte und letzte Kongress der Weltliga fand vom 20. bis 26. November 1932 in Brünn statt. Eine spezielle Homosexuellenorganisation war Osvětové a společenského sdružení Přátelství (Aufgeklärter Gesellschaftsverband "Freundschaft", OSSP). Aus der tschechoslowakischen Bewegung heraus wurden mehrere Zeitschriften herausgegeben, so in Prag Hlas bzw. Novy hlas von 1931 bis 1937, Kamarad (1932 in Brno) und Hlas přírody (1938). Hauptziel der Bewegung war der Kampf gegen den §129, der Homosexualität in der Tschechoslowakei kriminalisierte. Durch die Besetzung des Sudetenlandes durch das nationalsozialistische Deutschland und die anschließende Besetzung der Tschechoslowakei musste die Bewegung ihre Arbeit einstellen.

Homosexualität wurde zum 1. Januar 1962 durch das neue Strafgesetzbuch der Tschechoslowakei entkriminalisiert. Im Jahre 1990 wurde die Homosexualität der Heterosexualität gleichgestellt und das Schutzalter auf 15 Jahre angeglichen und Homosexuelle Menschen konnten Militärdienst leisten. Erste Antidiskriminierungsgesetzesänderungen fanden 1999 durch die Novellierung des Beschäftigungsgesetzes statt. Seit 2001 (Gesetz 273/2001 Sb.) wird die sexuelle Orientierung im Zuge der Umsetzung der Antidiskriminierungsvorschriften der Europäischen Union weitgehender geschützt. Seit dem 1. Juli 2006 können gleichgeschlechtliche Paare eine Eingetragene Lebenspartnerschaft eingehen. Das Gesetz Nr. 115/2006 Sb. wurde am 16. Dezember 2005 vom tschechischen Abgeordnetenhaus und am 26. Januar 2006 vom tschechischen Senat verabschiedet. Ein Veto des tschechischen Präsidenten Václav Klaus wurde vom tschechischen Abgeordnetenhaus am 15. März 2006 überstimmt.

Eine eingetragene Partnerschaft ist eine Verbindung, die von Personen des gleichen Geschlechts eingegangen werden kann. Viele Menschen glauben manchmal fälschlicherweise, dass es sich um dieselbe Art von Verbindung wie die Ehe handelt, die aber anders genannt wird, weil sie für Homosexuelle bestimmt ist. Dies ist jedoch nicht der Fall, denn sie unterscheidet sich von der Ehe nicht nur im Namen, sondern auch in den Rechten. Gleichgeschlechtliche Paare dürfen nur in bestimmten Ämtern und nur in Kreisstädten eine Lebenspartnerschaft eingehen; eine kirchliche Trauung ist nicht möglich. Nur der Standesbeamte ist anwesend, und die Trauung wird (da es sich nicht um eine Zeremonie handelt) ohne die notwendige Anwesenheit von Zeugen vollzogen. Sie behalten ihre Nachnamen, und wenn sie eine Änderung wünschen, müssen sie diese gegen eine Gebühr beantragen. Außerdem haben die Partner kein Gemeinschaftseigentum, so dass ihr Eigentum nicht automatisch zusammengelegt wird. Die Parre müssten es selbst in ein Gemeinschaftseigentum umwandeln. Sie haben keinen Anspruch auf eine Witwen- oder Witwerrente oder auf die Adoption von Kindern. Am 28. Juni 2016 wurde der § 13 Absatz 2 des Gesetzes Nr. 115/2006 Slg. über eingetragene Partnerschaften, der es einem der Partner untersagte, ein Kind einzeln zu adoptieren, vom Verfassungsgericht aufgehoben. Nach tschechischem Recht kann ein Kind somit entweder von einem verheirateten Paar, d. h. derzeit von einem Mann und einer Frau, oder von einer Einzelperson adoptiert werden, unabhängig von deren sexueller Orientierung. Pflegefamilien für homosexuelle Paare sind jedoch möglich, und es ist sogar ein Fall bekannt, in dem Kinder in der Pflegefamilie eines homosexuellen Paares untergebracht wurden. Problematisch ist jedoch die Situation von gleichgeschlechtlichen Paaren, die zwar gemeinsam Kinder aufziehen, bei denen aber nur einer von ihnen nach dem Gesetz als rechtlicher Elternteil gilt.

Am 13. Juni 2018 reichte eine Gruppe von 46 Abgeordneten der ANO, der Piraten, der ČSSD, der STAN, der TOP 09 und der KSČM im tschechischen Abgeordnetenhaus einen Vorschlag zur Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs ein, um die Eheschließung für homosexuelle Paare zu ermöglichen und die Institution der eingetragenen Partnerschaft abzuschaffen. Die Änderung würde es gleichgeschlechtlichen Paaren auch ermöglichen, gemeinsam ein Kind zu adoptieren und gemeinsam eine Pflegefamilie zu unterhalten. Der Vorschlag erhielt am 22. Juni die Zustimmung der Regierung. Die Prüfung der Änderung des Bürgerlichen Gesetzbuchs verzögerte sich jedoch um fast drei Jahre, so dass die erste Lesung erst am 29. April 2021 stattfand, die zweite Lesung jedoch nicht stattfand und das Gesetz in der neuen Legislaturperiode des Parlaments nicht angenommen wurde.

Eine neue, ähnliche Änderung des Zivilgesetzbuches wurde von Abgeordneten aus den Fraktionen ODS, TOP 09, ANO, Piraten und STAN unter der Leitung des Abgeordneten Josef Bernard von der STAN-Bewegung im Juni 2022 vorbereitet. Einen Kompromissvorschlag hat der Abgeordnete der Christdemokraten Jiří Navrátil vorgelegt, dieser wird gerade auch im Abgeordnetenhaus verhandelt. Deer Kompromissvorschlag sieht einige Änderungen der Eingetragenen Lebenspartnerschaft vor, vor allem im Eigentumsrecht. Im Abgeordnetenhaus entstand jedoch noch ein weiterer Gegenentwurf zur Ehe für alle. Ziel dieser Initiative ist, die Ehe in der Verfassungscharta zu den Grundrechten und Freiheiten als einen Bund zwischen Mann und Frau zu verankern. Diesen Vorschlag haben nicht nur Abgeordnete der Christdemokraten unterstützt, sondern auch einige Politiker der Bürgerdemokraten sowie der ANO. Dies zeigt eindrücklich, wie gespalten die tschechische Politik in dieser Frage auch innerhalb der einzelnen Parteien ist.Nach den internationalen Menschenrechtsnormen darf niemand gezwungen werden, zwischen seiner Identität und seiner körperlichen Unversehrtheit zu wählen. Für Transmenschen ist die rechtliche Anerkennung ihrer Geschlechtsidentität eine wesentliche Voraussetzung für ein freies, authentisches und offenes Leben. Nach tschechischem Recht (dem Gesetz über spezifische Gesundheitsdienste) gibt es eine Reihe von Voraussetzungen für die rechtliche Anerkennung des Geschlechts. Um eine Geschlechtsumwandlung in Personaldokumenten und staatlichen Systemen zu erreichen, muss man sich einer medizinischen Operation unterziehen, die die Fortpflanzungsfähigkeit verhindert, d. h. einer Sterilisation. Eine obligatorische Operation, die die Fortpflanzungsfähigkeit verhindert, wird jedoch als ungerechtfertigter Eingriff in die Rechte von Trans-Personen betrachtet, wie im Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte erwähnt. In tschechischen Personalausweisen ist das Geschlecht einer Person als obligatorische Angabe aufgeführt, und auch die Geburtsnummern geben das Geschlecht an. Im Zuge der Geschlechtsumwandlung können Trans-Personen ihren Namen nicht willkürlich ändern, sondern müssen dafür strenge Regeln befolgen. Sie sind nur berechtigt, ihren Namen in einen so genannten neutralen Namen zu ändern (die Annahme des Namens hängt vom jeweiligen Standesamt ab). Nach der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte hat der Justizminister mit der Vorbereitung von Änderungen im tschechischen Recht begonnen, die die Sterilisierung von Trans-Personen, die im tschechischen Bürgerlichen Gesetzbuch und im Gesetz über spezifische Gesundheitsdienste enthalten ist, abschaffen würden. Der Änderungsantrag wurde vorbereitet und mit den wichtigsten Ministerien konsultiert, aber der Regierung nie zur Genehmigung vorgelegt. Transgender-Personen werden in der Tschechischen Republik immer noch sterilisiert, was gegen mehrere Menschenrechte verstößt, wie das Recht auf körperliche Unversehrtheit, das Recht auf Privatsphäre und Familienleben und das Recht auf den höchsten erreichbaren Gesundheitsstandard.

Laut einem Bericht von ILGA-Europe vom Mai 2019 belegte die Tschechische Republik in einem Index zur Einstellung gegenüber sexuellen Minderheiten den 31. Platz von 49 untersuchten europäischen Ländern. Dem Bericht zufolge fehlte es in der Tschechischen Republik an Gesetzen zur Ahndung von Hassreden aufgrund der sexuellen Orientierung oder des Geschlechts sowie an einer gesetzlichen Regelung für gleichgeschlechtliche Familien mit Kindern oder die gleichgeschlechtliche Ehe. Der Bericht erwähnte auch eine Predigt von Peter Pitha, einem der ranghöchsten Führer der katholischen Kirche, der im Oktober 2018 im Veitsdom die Istanbul-Konvention kritisierte.

Obwohl die öffentliche Meinung zu rechtlichen Fragen in Bezug auf LGBTQIA+-Personen im 21. Jahrhundert einen positiven Trend zeigt (in einer Umfrage der staatlichen Agentur CVVM im 2018 gaben 19 % der Tschechen an, dass sie sich keine homosexuellen Menschen als Nachbarn wünschen. Zum Vergleich: Im Jahr 2003 lag dieser Anteil bei 42 % der Befragten, 2005 bei 34 % und 2007 bei 29 %), lehnen in einer Umfrage gleicher Agentur aus dem Jahr 2020 die gleichgeschlechtliche Ehe immer noch mehr Menschen ab (37 %) als sie befürworten (34 %). Auch der Aussage, dass ein gleichgeschlechtliches Paar ein Kind genauso gut großziehen kann wie ein heterosexuelles Paar, stimmen mehr Bürger nicht zu (36 % stimmen nicht zu, 31 % stimmen zu).
LGBTQIAI+-Menschen in der Tschechischen Republik sind immer noch Ziel von Vorurteilen und Diskriminierung, die oft in Gewalt gipfeln. Laut einer Studie des Ombudsmanns für Rechte aus dem Jahr 2019 ist nur ein Drittel der tschechischen Bevölkerung der Meinung, dass es Diskriminierung von LGBTQIA+ Menschen gibt. Andererseits glauben drei Viertel der befragten LGBTQIA+-Personen, dass es in der Tschechischen Republik Diskriminierung gibt. Der Studie zufolge hat sich mehr als ein Drittel der LGBTQIA+-Personen in den letzten fünf Jahren diskriminiert gefühlt - eine Zahl, die dreimal so hoch ist wie die von der tschechischen Öffentlichkeit angegebene. 15 % der Befragten haben körperliche oder sexuelle Gewalt, Angriffe und Drohungen erlebt. Eines der drängendsten Probleme besteht darin, dass Fälle, in denen LGBTQIA+-Personen diskriminiert oder mit Hassreden konfrontiert werden, in der Regel nicht bei der Polizei gemeldet werden. Nicht weniger als 91 % der LGBTQIA+-Befragten haben solche Fälle nirgendwo gemeldet. 47 % der Befragten bezeichneten sie als triviale Vorfälle, die es nicht wert sind, gemeldet zu werden, und 44 % glaubten, dass eine Meldung ohnehin nichts bewirken würde.

Obwohl weitgehend säkular, scheint sich die tschechische Gesellschaft in den letzten Jahrzehnten auf ihre christlichen Wurzeln zu Besinnen. Zumindest werden die christlichen Werte im öffentlichen Diskurs oft thematisiert, vor allem wenn es um kontroverse Themen wie Ehe für Alle, LGBTQIA+, reproduktive Rechte der Frauen, oder Migration geht.

Gegen das Gesetz Ehe für alle stellen sich jedoch aktuell viele Abgeordnete. Eine mögliche Erklärung für das Paradox ist ein relativ hoher Anteil an Christen unter den Spitzenpolitikern. Auch Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) sagt, dass er die gleichgeschlechtliche Ehe nicht unterstützt, da dies seinem Glauben widerspreche. Tschechien ist dabei ein säkularer Staat mit einem sehr geringen Anteil religiöser Menschen. Nur 13 Prozent der Bevölkerung gehören einer Kirche an, sieben Prozent der katholischen. Und dennoch haben die Kirchen hierzulande, vor allem die katholische, einen starken gesellschaftlichen und eben auch politischen Einfluss. Und das zeigt sich eben in der Frage der Ehe.

Gemessen an der Zahl ihrer Gläubiger, sollte der Einfluss der katholischen Kirche eher bescheiden sein, doch beide ehemaligen Präsidenten, Václav Klaus und Miloš Zeman – beide Atheisten – pflegten enge Kontakte zu dem nicht unumstrittenen Kardinal Duka und ließen sich gerne mit ihm sehen. Es ist davon auszugehen, dass solche Beziehungen den Einfluss der katholischen Kirche auf die Politik stärken. Neben einigen Kirchenvertretern mischen in der Debatte rund um die Rechte von queeren Menschen auch konservative Lobbyverbände mit. Der stärkste ist die sogenannte „Allianz für die Familie“ (Aliance pro rodinu). Einige ihrer Mitglieder sind als Assistenten oder Berater einflussreicher Politiker der Bürgerdemokraten tätig – etwa im Justizministerium.

Quellen:
LGBT práva v Česku
Amnesty International CZ

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Auch wenn zwei Drittel der tschechischen Bevölkerung für die Ehe für alle sind, hat der entsprechende Gesetzentwurf im Abgeordnetenhaus für lebhafte Diskussionen gesorgt. Es wurde sogar ein Gegenentwurf eingebracht, durch den in der Verfassung nach dem Vorbild von Polen, Ungarn, Russland oder der Slowakei die Ehe als ein Bündnis zwischen Mann und Frau verankert werden soll. Wieso spaltet die Diskussion um die rechtliche Stellung von LGBTQIA+ die politische Szene? Welche Rolle spielt die katholische Kirche in der Debatte? Und wie sehen queere Menschen selbst die Situation in Tschechien? Darüber spreche ich mit der Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, mit der Juristin und Aktivistin Adéla Horáková und mit Michal Pitoňák vom Nationalen Institut für seelische Gesundheit (NUDZ). Außerdem zählen Jiří Navrátil von der christdemokratischen Partei und der katholische Priester Miloš Szabo zu meinen Gästen. Zunächst in ich aber bei einem Umzug der Prague Pride, der Mitte August dieses Jahres stattfand…

Auf das untere Ende des Prager Wenzelsplatzes strömen nach und nach immer mehr Menschen. Überall sind Regebogenfarben zu sehen. Hier hinten, in der Mitte des Platzes, sehe ich eine riesige Regenbogenflagge. Sie liegt aktuell noch auf dem Boden, aber rundherum stehen bereits um die 20 Menschen, die die Flagge wohl gleich bei dem Umzug tragen werden. Jeden Augenblick beginnt hier der 13. Jahrgang der Prague Pride – ein Marsch, bei dem gleiche Rechte für alle Menschen gefordert werden, ganz egal welche sexuelle Orientierung oder welche Gender-Identität man hat.

Hallo, Sie gehen scheinbar auch auf die Prague Pride. Warum unterstützen Sie diesen Umzug?"

Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Wir gehen natürlich auf die Pride, weil wir schwul sind, genauso wie alle unsere Freunde. Die Aktion hier macht einfach Spaß. Wir kommen schon seit fünf Jahren hierher, die Atmosphäre ist immer super. Aber es geht nicht nur um das Vergnügen, sondern auch um die Menschenrechte. Wir kämpfen nämlich für die Rechte gleichgeschlechtlicher Paare.“

Filip Rambousek:
"Und wie sehr freuen Sie sich auf den Umzug?"

Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Wir freuen uns sehr. Die Stimmung hier ist super. Ich muss nur immer darüber nachdenken, dass wir bis nach oben auf die Letná-Anhöhe sehr viele Treppen zu steigen haben werden!“

Filip Rambousek:
"Wie sehen Sie die Stellung von LGBTQIA+ in Tschechien? Wo besteht am meisten Nachholbedarf?"

Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Vor allem bei der Regierung. Wenn sie sich auch dafür einsetzen würde, dann dürfte das auch Einfluss auf die breite Bevölkerung haben. Außerdem können gleichgeschlechtliche Paare immer noch nicht heiraten und für Trans-Personen ist es sehr schwierig, beim Amt ihr Geschlecht ändern zu lassen.“

Filip Rambousek:
"Das sollte sich also verbessern… Und dafür wollen Sie heute einstehen?"

Erste Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ganz genau.“

Filip Rambousek:
"Hallo, Sie haben eine große Regenbogenfahne dabei. Darf ich fragen, warum Sie heute hier sind?"

Zweite Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ich komme jedes Jahr hierher. Mir macht das einfach Spaß.“

Filip Rambousek:
"Wie schätzen Sie die rechtliche Stellung von queeren Menschen in Tschechien ein? Woran mangelt es am meisten? Was sollte sich ändern?"

Zweite Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Im Vergleich zu vor ein paar Jahren hat sich unser Leben wesentlich zum Guten gewandelt. Das steht ganz außer Frage. Wir sehen aber auch, dass viel Unsicherheit herrscht – vor allem, wenn man sich anschaut, welche Auswirkungen manche Meinungen aus Osteuropa haben. LGBTQIA+ müssen deshalb weiter kämpfen. Derzeit geht es dabei vor allem um die Ehe für alle.“

Filip Rambousek:
"Der farbenfrohe Umzug der Prague Pride hat sich mittlerweile in Bewegung gesetzt. Nach einem Marsch durch die Straßen der Altstadt und über eine Moldaubrücke erreichen die Teilnehmer den Letná-Park.

Guten Tag, haben Sie am ganzen Umzug teilgenommen?"

Dritte Person auf der Prague Pride (übersetzt ins Deutsche):
„Ja, wir sind vom Wenzelsplatz bis hier oben auf die Letná-Anhöhe mitgelaufen.“

Filip Rambousek:
"Wie sehen Sie die Lage von LGBTQIA+ in Tschechien? Denken Sie, dass sie gute Bedingungen haben? Oder sehen Sie hingegen eine Menge Luft nach oben?"

Dritte Person auf der Prague Pride(übersetzt ins Deutsche):
„Die Lage ist nicht gut. Es gibt ein juristisches Vakuum. Wir wünschen uns eine neue Rechtsprechung, durch die die Rechte von queeren Menschen mit denen von heterosexuellen Paaren und Familien gleichgesetzt werden. Denn für Regenbogenfamilien mit Kindern führt die gegenwärtige Lage zu viel Stress.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"An dem Umzug sollen den Angaben zufolge bis zu 60.000 Menschen teilgenommen haben. Wie mehrere Teilnehmer*innen sagten, ist die Ehe für alle in Tschechien gerade ein wichtiges Thema. Als erster Schritt wird dabei oft die Entkriminalisierung der Homosexualität angesehen, zu der es 1961 in der sozialistischen Tschechoslowakei kam. Michal Pitoňák forscht am Nationalen Institut für seelische Gesundheit. Er sagt:"

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„In der Tschechoslowakei wurde Homosexualität ab dem Beginn der 1960er Jahren nicht mehr bestraft. Das hing auch mit einigen Gerichtsprozessen zusammen, die als ungerecht angesehen wurden. Zudem war die Sexualwissenschaft in der Tschechoslowakei recht weit fortgeschritten. Dank fortschrittlicher Sexologen ist den Menschen klargeworden, dass Homosexuelle keine Störung haben und sie deshalb auch nicht verfolgt werden sollten.“

Filip Rambousek:
"Zum Vergleich: In der DDR wurde die Homosexualität erst 1968 legal, in Westdeutschland sogar noch einige Jahre später. In allen Fällen galt dabei eine Altersgrenze von 18 Jahren. Eine weitere Verbesserung für die Stellung gleichgeschlechtlicher Paare trat erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ein."

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Nach 1989 entstanden in der Tschechoslowakei – und später in der Tschechischen Republik – schnell Organisationen, die für Gleichberechtigung eintraten. Sie forderten unter anderem eine Senkung der ungleichen Altersgrenze für Geschlechtsverkehr von 18 auf 15 Jahre, und sie machten sich stark für den Schutz gegen sexuell übertragbare Infektionen. In den 1990er Jahren öffneten sich die Grenzen, und dadurch erlebte die Prostitution einen großen Aufschwung. Tschechien wurde als slawisches Land gesehen, das für die gut betuchten Kunden aus dem Westen recht erschwinglich war. Die NGOs beschäftigten sich damals vor allem mit der Frage, wie die Angehörigen sexueller Minderheiten ein sicheres Leben führen können. Zu dieser Zeit wurden auch erstmals Rufe danach laut, gleichgeschlechtliche Paare als vollwertige Mitglieder der Gesellschaft anzuerkennen, die ein Recht darauf haben, eine Ehe einzugehen.“

Filip Rambousek:
"Im Laufe der 1990er Jahre tauchten gleich mehrere Anträge auf, homosexuelle Ehen anzuerkennen. Keiner wurde aber angenommen. Einen Teilerfolg konnten die Befürworter*innen erst 2006 verzeichnen. Damals wurde das Gesetz über die eingetragene Lebenspartnerschaft beziehungsweise die registrierte Partnerschaft verabschiedet. Michal Pitoňák sagt:"

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Erst im ungefähr fünften Entwurf wurde das Gesetz 2006 angenommen – und das in einer Minimalversion. Die Vorlage umfasste nämlich eine Bedingung, die die Fraktionen der Bürgerdemokraten und der Christdemokraten durchsetzten. Dadurch wurde registrierten Partnern explizit verboten, eine Adoption zu beantragen. Und dies galt auch für jeden der Partner individuell.“

Filip Rambousek:
"Diese Regelung hat zu einer absurden Lage geführt, wie die Juristin Adéla Horáková von der Initiative Jsme fér (Wir sind fair) an einem konkreten Beispiel darlegt:"

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn man homosexuell war, aber keine Lebenspartnerschaft eingetragen hatte, konnte man als Alleinstehender ein Kind adoptieren. Sobald man aber eine Partnerschaft registrieren ließ, verlor man dieses Recht. Für einen normalen Menschen muss das doch absurd klingen. Aber dieses Vorgehen ist leider symptomatisch für die Gesetzgebung in Tschechien, was die Rechte von LGBTQIA+ angeht. Es kommt zwar zu kleinen Zugeständnissen, gleichzeitig soll uns aber auch das Leben schwerer gemacht werden – und eine wirkliche Gleichberechtigung rückt so in weite Ferne. Das Verbot individueller Adoptionen bestand zehn Jahre lang und wurde erst durch ein Urteil des Verfassungsgerichts geändert.“

Filip Rambousek:
"Auch nachdem diese strittigen Bedingungen angepasst worden seien, bestünden aber weiterhin spürbare Unterschiede zwischen Ehe und registrierter Partnerschaft, erläutert Pitoňák:"

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Die eingetragene Lebenspartnerschaft ist im Grunde ein formeller Rechtsakt. Man braucht keine Zeugen, man braucht im Grunde gar nichts. Sie bringt keinen Anspruch auf eine Namensänderung mit sich, diese muss erst gesondert beantragt werden. Es entsteht auch keine Gütergemeinschaft. Wenn einer der Partner stirbt, steht dem Hinterbliebenen keine Witwenrente zu. Anders ist das, wenn einer von zwei Ehepartnern ums Leben kommt. Dann rechnet das System mit der zweiten Person, und es entsteht ein Anspruch auf Unterstützung. Bei eingetragenen Lebenspartnern ist das nicht so.“

Filip Rambousek:
"Adéla Horáková macht noch auf einen weiteren zentralen Unterschied aufmerksam: So führt die Lebenspartnerschaft aktuell nicht zu den gemeinsamen Rechten in einer Familie."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Kinder, die mit zwei Müttern oder Vätern aufwachsen, wachsen rechtlich in einem schlechteren Umfeld auf als der Nachwuchs eines heterosexuellen Paares. Die Kinder gleichgeschlechtlicher Paare haben damit kein Problem, sie sehen beiden Elternteile als ihre Eltern an, als zwei Mütter oder Väter. Vor dem Gesetz gestaltet sich das jedoch anders. Einer der beiden Elternteile gilt im Grunde als Mitbewohner. Es ist schon absurd, dass sich Menschen, die sich gegen die Rechte von Familien stellen, auf einmal den Rechten von Kindern verschreiben. Damit meine ich die Vertreter der Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie, die Christdemokraten, die Bürgerdemokraten und einen großen Teil der Partei Ano. Sie alle behaupten, sie wollten die Kinder beschützen. In Wahrheit tun sie jedoch das Gegenteil: Sie schaden ihnen. Die Kinder rufen: ‚Schützt unsere Familien, erkennt unsere beiden Eltern an.‘ Aber diese Politiker sagen: ‚Wir schützen euch, indem wir eure Eltern nicht anerkennen.‘“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Der Gesetzesvorschlag zur Ehe für alle wird derzeit im Abgeordnetenhaus verhandelt. Eingebracht wurde er von Abgeordneten der liberalen Parteien, also den Piraten, der Top 09 und der Bürgermeisterpartei Stan. Aber auch einige Politiker*innen der konservativen Bürgerdemokraten und der populistischen Ano haben sich daran beteiligt. Gleich bei der ersten Lesung sorgte die Novelle für hitzige Diskussionen – und es wurde auch starke Kritik laut. Šimon Heller, Abgeordneter der Christdemokraten, sagte damals:"

Zitat von Šimon Heller (KDU-ČSL) (übersetzt ins Deutsche):
„Bei uns in Südböhmen, da ist Rindfleisch Rindfleisch und Hühnerfleisch Hühnerfleisch. Alles hat seinen Namen. Und die Ehe wird für mich immer ein Bund von einem Mann mit einer Frau sein.“

Filip Rambousek:
"Auch Jan Síla von der Rechtsaußenpartei Freiheit und direkte Demokratie (SPD) driftete in seiner Rede ab zu abfälligen Aussagen. In Zusammenhang mit Homosexualität sprach er etwa von einer „biologischen Anomalie“. Der christdemokratische Abgeordnete Hayato Okamura äußerte sich etwas gemäßigter. Aber auch er ist gegen die Ehe für alle, Zitat:"

Zitat von Hayato Okamura (übersetzt ins Deutsche):
„Natürlich fordert eine Gruppe von Menschen Rechte ein. Darüber lässt sich diskutieren. Es geht um die Wünsche einiger in dieser Gruppe, denn wie wir wissen, will nicht jeder, der in einer homosexuellen Beziehung lebt, auch gleich verheiratet sein und hält an der Bezeichnung Ehe fest. Ich will aber klarstellen, dass es hier um eine wichtige Sache geht. Die Institution der Ehe hängt eng mit der Institution der Familie zusammen und somit auch mit der Erziehung von Kindern, Enkeln und künftigen Generationen. Wir dürfen nicht die wichtigen Rechte von Kindern vergessen, die in einer Ehe als Verbindung von Mann und Frau aufwachsen und aus ihrer Überzeugung heraus diesen Ehebund in seiner Form als wertvoll ansehen. Nicht alles, was es hier über lange Jahre gab, ist schlecht. Dass es nun eine neue Entwicklung gibt, die in ein paar anderen Staaten vorangetrieben wurde, heißt noch lange nicht, dass dieser Trend auch richtig ist.“

Filip Rambousek:
"Da Ansichten wie diese im tschechischen Parlament sehr stark vertreten sind, entstand im Abgeordnetenhaus auch ein Gegenentwurf zur Ehe für alle. Ziel der Initiative ist, die Ehe in der Verfassungscharta zu den Grundrechten und Freiheiten als einen Bund zwischen Mann und Frau zu verankern. Diesen Vorschlag haben nicht nur Abgeordnete der Christdemokraten unterstützt, sondern auch einige Politiker*innen der Bürgerdemokraten sowie der Ano. Dies zeigt eindrücklich, wie gespalten die tschechische Politik in dieser Frage auch innerhalb der einzelnen Parteien ist. Das Bemühen, die Ehe als Bund zwischen Mann und Frau in der Verfassung zu definieren, ist laut Adéla Horáková keine Überraschung."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Ein derartiges Gesetz ist ein Osteuropa keine Neuheit. Es kann als Flaggschiff homophober Regierungen angesehen werden. Natürlich haben Ungarn und Polen die Änderung schon durchgewinkt. Zuletzt wurde sie 2020 in Russland verabschiedet. Der Text, der nun im tschechischen Parlament liegt, ist fast identisch mit dem, der in die russische Verfassung Eingang fand. Dabei kommt der Vorschlag von Parteien wie den Bürgerdemokraten und Christdemokraten, deren Slogan noch im Wahlkampf lautete, dass Tschechien zum Westen gehören würde.“

Filip Rambousek:
"Auch von der tschechischen Regierungsbeauftragen für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, gibt es Kritik an den Bestrebungen, die Ehe in der Verfassung als Bund von Mann und Frau zu definieren:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das Recht sollte vor allem zum Schutz konkreter Menschen da sein, nicht irgendwelcher abstrakter Rechtsinstitutionen. Es geht nicht darum, die Familie zu schützen, sondern ihre einzelnen Mitglieder – die Kinder, Mütter und Väter. Wir sollten nicht die Ehe schützen, sondern die Ehemänner und Ehefrauen, die einzelnen Glieder dieses Bundes und die Familien als solche. Durch rechtliche Regelungen können soziale oder etwa steuerliche Vorteile ermöglicht werden. Das Gesetz ist aber nicht dazu da, um vor einer mutmaßlichen Gefährdung zu schützen oder nur eine richtige Form einer Partnerschaft vorzuschreiben.“

Filip Rambousek:
"Der Vollständigkeit halber sei gesagt, dass sich die Debatte zu den Rechten gleichgeschlechtlicher Paare nicht nur zwischen diesen zwei Polen abspielt, wo auf der einen Seite die Unterstützer*innen der Ehe für alle und auf der anderen die Befürworter*innen der Ehe als Bund zwischen Mann und Frau stehen. Die tatsächliche Vielfalt der Meinungen zeigt etwa die Haltung des christdemokratischen Parlamentariers Jiří Navrátil:"

Jiří Navrátil (übersetzt ins Deutsche):
„Als ich die Debatte im Abgeordnetenhaus verfolgt habe, habe ich beschlossen, zu ihrer Kultivierung beizutragen und einen Kompromiss anzubieten. Ich wollte dadurch verhindern, dass die Ehe in der Verfassung als Bund zwischen Mann und Frau definiert wird. Denn dadurch wären sämtliche Bemühungen um eine bessere rechtliche Stellung gleichgeschlechtlicher Paare in Zukunft blockiert. Ich habe außerdem festgestellt, dass einige Abgeordnete zwar für die Ausweitung der Rechte gleichgeschlechtlicher Paare waren, sie aber das Wort ‚Ehe‘ oder die gemeinsamen Rechte als Familie störten. Meine Parteikollegen und ich haben deshalb an einem Alternativvorschlag gearbeitet. Denn von uns Christdemokraten sollte niemand erwarten, dass wir aktiv die Ehe für alle unterstützen.“

Filip Rambousek:
"Der genannte Kompromissvorschlag sieht einige Änderungen der registrierten Lebenspartnerschaft vor, vor allem im Eigentumsrecht. Laut Michal Pitoňák ist dieser Plan aber nicht ausreichend."

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Es wird behauptet, die Vorlage sorge für eine Rechtegleichstellung. Dabei wird der Bereich des Familienrechts komplett außen vorgelassen – ob es nun um die Anerkennung der Rechte von Eltern geht oder um die Möglichkeit, gemeinsam ein Kind zu adoptieren. Es handelt sich um ein Oxymoron, einen weiteren Entwurf, durch den uns die Vorstellung aufgezwängt werden soll, dass es gleiche Rechte für alle geben kann, ohne dass wir das Wichtigste gewährleisten: und zwar den Schutz gleichgeschlechtlicher Familien.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Während die Ehe für alle im Abgeordnetenhaus kontrovers diskutiert wird, herrscht in der tschechischen Öffentlichkeit relative Einigkeit. Seit Langem unterstützen zwei Drittel der Menschen in Tschechien die gleichgeschlechtliche Ehe. Wie kommt dieser Zwiespalt zwischen der Politik und der Stimmung in der Gesellschaft zustande? Die Juristin Adéla Horáková sagt dazu:"

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Diese Frage stelle ich mir jeden Tag, und ich habe immer noch keine Antwort darauf. In jedem Falle sticht der Zwiespalt absolut ins Auge. Alle merken das, die Journalisten, LGBTQIA+ und auch alle anderen, die uns unterstützen. Von überall werden ich gefragt: ‚Wie kann das sein, dass es nicht vorwärts geht? Die Mehrheit in der Öffentlichkeit steht doch hinter uns?‘ Diese Fragen sollten sich die Abgeordneten von Freiheit und direkte Demokratie, Bürgerdemokraten, Christdemokraten und einem großen Teil der Partei Ano stellen. Viele Politiker haben eine derart verbissene Meinung, dass es keinen Raum gibt, mit ihnen zu diskutieren. Aber wenn das tschechische Parlament die Stimmungen in der Gesamtgesellschaft abbilden würde, dann hätten wir schon längst die Ehe für alle.“

Filip Rambousek:
"Eine mögliche Erklärung für das Paradox ist laut Horáková der relativ hohe Anteil an Christ*innen unter den Spitzenpolitiker:innen. Auch Premier Petr Fiala (Bürgerdemokraten) sagt, dass er die gleichgeschlechtliche Ehe nicht unterstützt, da dies seinem Glauben widerspreche. Tschechien ist dabei ein säkulärer Staat mit einem sehr geringen Anteil religiöser Menschen. Nur 13 Prozent der Bevölkerung gehören einer Kirche an, sieben Prozent der katholischen. Und dennoch haben die Kirchen hierzulande, vor allem die katholische, einen starken gesellschaftlichen und eben auch politischen Einfluss. Und das zeigt sich eben in der Frage der Ehe."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien gibt es zwei Möglichkeiten, sich zu vermählen – standesamtlich oder kirchlich. Die kirchliche Eheschließung liegt komplett in der Macht der Kirchen. Sie können bestimmen, zu welchen Bedingungen sie wen trauen wollen. Das ist ja auch vollkommen in Ordnung. Der Staat greift in keiner Form ein. Für diejenigen, die nicht kirchlich heiraten wollen, gibt es die standesamtliche Trauung. Die römisch-katholische Kirche in Tschechien greift aber stark in die Debatte zu diesen weltlichen Trauungen ein und sagt uns, wie sie aussehen sollen. Die Kirche betreibt aktive Lobbyarbeit dafür, dass die weltliche Trauung für homosexuelle Paare nicht möglich gemacht wird.“

Filip Rambousek:
"Die Haltungen und Ambitionen von führenden Vertretern der katholischen Kirche werden etwa deutlich an einer Erklärung, die im Juni dieses Jahres von der tschechischen Bischofskonferenz verabschiedet wurde, Zitat:"

Zitat der Bischofskonferenz (Citace ČBK (mužský hlas)) (übersetzt ins Deutsche):
„Mit Sorge beobachten wir die Bestrebungen, gleichgeschlechtliche Beziehungen als ‚Ehe‘ zu legalisieren. Wir danken den Gesetzgebern, die sich einer solchen Änderung widersetzen. Die Ehe basiert auf der treuen Verbindung eines Mannes und einer Frau, die offen für die Aufnahme von Kindern sind. Als ein solches Bündnis genießt die Ehe die Unterstützung des Staates. Eine harmonische Familie, die aus Vater und Mutter besteht, ist das beste Umfeld für die Erziehung von Kindern. Woher nimmt unsere Gesellschaft den Mut, Kindern in Zukunft das Recht zu verweigern, ihre Mutter und ihren Vater zu haben und zu kennen? Ist das nicht eine neue Form von Gewalt gegen Kinder?“

Filip Rambousek:
"Neben einigen Kirchenvertreter*innen mischen in der Debatte rund um die Rechte von queeren Menschen auch konservative Lobbyverbände mit. Der stärkste ist die sogenannte „Allianz für die Familie“ (Aliance pro rodinu). Einige ihrer Mitglieder sind als Assistent*innen oder Berater*innen einflussreicher Politiker*innen der Bürgerdemokraten tätig – etwa im Justizministerium. Die Menschenrechtsbeauftragte Klára Šimáčková Laurenčíková sagt:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Ein Teil der katholischen Kirche und einige Lobbyorganisationen – wobei man hier unterscheiden muss, dass es sich nicht um ein und dasselbe handelt – setzen das Thema der Gleichberechtigung von LGBTQIA+ mit dämonischen Zuständen gleich. Sie verbreiten in der Öffentlichkeit und auch unter den Politikern Horrorszenarien, was mit unserer Gesellschaft passieren würde, wenn die Ehe für alle gesetzlich verankert wird. Wenn dann noch die andere Seite nicht dazu in der Lage ist, diese Informationen kritisch zu bewerten, fallen die Aussagen auf fruchtbaren Boden. Diese Angstmache kann dann funktionieren, die Unterstützung für LGBTQIA+ sinken und die Angst die öffentliche Meinung beeinflussen – oder genauer gesagt die Ansichten der Politiker.“

Filip Rambousek:
"Zugleich muss aber betont werden, dass die katholische Kirche – und auch die anderen christlichen Kirchen in Tschechien – keine homogenen Organisationen sind. Mehrere Angehörige christlicher Kirchen haben etwa in diesem Jahr die tschechische Regierung dazu aufgefordert, die Mitglieder der „Allianz für die Familie“ von allen Beratungsorganen und weiteren Strukturen des Staates auszuschließen. Die entsprechende Petition wurde von 17.000 Menschen unterzeichnet. Die evangelische Kirche der Böhmischen Brüder wiederum hat in diesem Jahr beschlossen, dass ihre Pfarrerinnen und Pfarrer homosexuelle Paare segnen dürfen. Und auch in der katholischen Kirche sind die Ansichten zur gleichgeschlechtlichen Ehe mannigfaltiger, als es auf den ersten Blick scheinen mag. Dies zeigt etwa der vergleichsweise moderate Ton des katholischen Priesters Miloš Szabo – wenngleich auch er auf die zentralen Unterschiede zwischen der kirchlichen und der weltlichen Auffassung von Ehe aufmerksam macht."

Miloš Szabo (übersetzt ins Deutsche):
„In der Kirche wird von der Unauflöslichkeit der Ehe gesprochen. Bevor jemand eine kirchliche Ehe eingeht, muss er damit übereinstimmen. Bevor er dies schriftlich bekräftigt, wird er bei der Trauung gefragt, ob er diese Form der Ehe eingehen möchte. Im Zivilrecht hingegen taucht diese Bedingung überhaupt gar nicht auf. Aber niemand aus der Kirche würde doch auf die Idee kommen, auf die Barrikaden zu gehen, weil Ehen abgeschlossen werden, die nicht den Bedingungen der Kirche entsprechen und dass man in so einem Fall doch nicht von einer Ehe sprechen könnte. Deshalb verstehe ich überhaupt nicht, warum die Kirche nun solch einen Radau macht, weil sich die Zivilgesellschaft weiterentwickelt – obwohl es um eine Entwicklung geht, die ich persönlich nicht gerade für glücklich halte, denn der Begriff ‚Ehe‘ bekommt dadurch eine ganz andere Bedeutung. Es wird wohl auch nicht zum letzten Mal sein, dass sich die Terminologie des Zivilrechts und des Kirchenrechts voneinander unterscheidet. Ich werde auf gar keinen Fall eine Petition für die Ehe für alle unterschreiben. Das heißt aber nicht, dass ich damit ein Problem hätte, wenn sie in der Zivilgesellschaft eingeführt werden würde.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Wie also ist es um die Lage queerer Menschen in Tschechien bestellt? Und wie steht das Land im internationalen Vergleich da? Das hänge natürlich auch davon ab, mit wem man sich vergleiche, sagt Adéla Horáková."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn man Tschechien mit Ungarn, Polen oder der Slowakei vergleicht, stehen wir natürlich sehr gut da. Wenn man aber Deutschland, Österreich oder Großbritannien nimmt, sieht es schon nicht mehr so toll aus. Ich habe das Gefühl, dass die Politiker Tschechiens eigentlich weniger gern Vergleiche zu Polen, Ungarn und der Slowakei anstellen. Sobald es aber um das Thema LGBTQIA+ geht, um gleichgeschlechtliche Paare und Regenbogenfamilien, wird geradezu gewetteifert, wer sich am schnellsten an Ungarn oder Polen orientiert.“

Filip Rambousek:
"Auch die Regierungsbeauftrage für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, hält die aktuelle rechtliche Stellung von LGBTQIA+ für nicht hinreichend."

Klára Šimáčková Laurenčíková(übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien gibt es zwar etwa die registrierte Lebenspartnerschaft, wenngleich in einer eingeschränkten Form. Wir haben aber etwa keinen Rechtsschutz von queeren Menschen vor Hasskriminalität. Und nach wie vor muss man sich sterilisieren lassen, um beim Amt eine Geschlechtsänderung zu beantragen. An beidem wird gearbeitet – am besseren Schutz gegen Hasskriminalität und an einer Abschaffung der verpflichteten Kastrierung. In den anderen Visegrád-Staaten sind einige dieser Teilfragen bereits geklärt, aber dort gibt es dann dafür noch nicht einmal die Möglichkeit, die Partnerschaft registrieren zu lassen. Ich würde also nicht sagen, dass Tschechien sonderlich positiv heraussticht. Es besteht auf jeden Fall Luft nach oben.“

Filip Rambousek:
"Mit dieser Einschätzung stimmt auch die Juristin Adéla Horáková überein. Vor allem die Zwangssterilisation sei ein drängendes Problem, auf das unterschiedliche Nichtregierungsorganisation bereits seit vielen Jahren aufmerksam machen."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien ist eines der letzten europäischen Länder, in dem es so etwas noch gibt. Sogar Polen und Ungarn haben diese Bedingung bereits abgeschafft. Was das angeht, stehen wir also viel schlechter da. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat die tschechische Regelung bereits als Verstoß gegen die Europäische Menschenrechtskonvention deklariert. Bei den Vereinten Nationen wird ein solches Vorgehen mit Folter gleichgesetzt. Es handelt sich um einen erzwungenen Eingriff in den Körper eines Menschen. Diese Leute bedrohen niemanden, sie stören niemanden, sie wollen einfach nur einen Buchstaben auf ihrem Personalausweis ändern lassen. Und als Voraussetzung dafür zwingt der Staat die Menschen, sich einer derart schwerwiegenden Operation zu unterziehen.“

Filip Rambousek:
"In einem Gesichtspunkt kann Tschechien gegenüber Polen, Ungarn oder der Slowakei aber Punkte gut machen. So wolle die breite Öffentlichkeit hierzulande schon seit Langem die Rechte von LGBTQIA+ stärken, sagt Michal Pitoňák."

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien ähnelt in dieser Hinsicht eher Staaten in Westeuropa. Dies zeigt etwa die Landkarte der öffentlichen Meinung, die vom Thinktank ‚Queer Geography‘ veröffentlicht wird. Tschechien denkt wie Deutschland oder Österreich – und nicht wie Polen, Ungarn und die Slowakei. In dieser Hinsicht unterscheiden sich die Gesellschaften der vier Visegrád-Länder deutlich voneinander.“

Filip Rambousek:
"Auch Adéla Horáková schätzt die gesamtgesellschaftliche Stimmung gegenüber queeren Menschen in Tschechien positiv ein."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Vereinfacht kann man sagen, dass das Problem nicht bei den Menschen auf der Straße herrscht. Natürlich fallen auch hierzulande feindselige Äußerungen, und Menschen werden diskriminiert. Das sind Probleme, auf die wir ständig aufmerksam machen. Es handelt sich aber nicht um eine Eigenschaft der gesamten tschechischen Gesellschaft. Die meisten Anfeindungen kommen leider aus dem tschechischen Parlament und von Vertretern der Kirche.“

Filip Rambousek:
"Deshalb kann Horáková zufolge nicht ausgeschlossen werden, dass Tschechien den gleichen Weg einschlägt wie Ungarn oder Polen. Dort hat sich die Situation für LGBTQIA+ in den vergangenen Jahren immer weiter verschlechtert."

Adéla Horáková (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt viele konkrete Gründe für diese Befürchtungen, da reicht es sich anzuschauen, welche Gesetze hierzulande im Abgeordnetenhaus eingebracht werden und wie sich Politiker quer durch das Parteienspektrum äußern – ganz gleich, ob sie in der Regierung sind, oder nicht. Die queeren Menschen in den Visegrád-Staaten haben es wegen der Regierungen nicht leicht. Im weltweiten Kontext verkommt Osteuropa langsam zu einem homophoben Freilichtmuseum.“

Filip Rambousek:
"Dies belegen auch die Ergebnisse der regelmäßigen Studien, die in 50 Ländern vor allem in Europa vom queeren Konsortium ILGA-Europe durchgeführt werden. Michal Pitoňák sagt:"

Michal Pitoňák (übersetzt ins Deutsche):
„2013 lag Tschechien unter den rund 50 Ländern auf dem 18. Platz. 2023 belegte das Land aber nur noch Rang 33. Der Trend geht also nach unten. Und der Grund dafür ist offensichtlich. Seit 2006 wurde hierzulande – mit Ausnahme der registrierten Lebenspartnerschaft von 2016 – nichts für queere Menschen unternommen. In anderen Staaten hingegen verschlafen die Politikerinnen und Politiker die Entwicklung nicht. Und sie schrecken auch nicht davor zurück, Entscheidungen zu treffen, die sie den Bürger mitunter erst einmal erklären müssen.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Die dritte Folge von „Sechsmal Tschechien“ ist an ihrem Ende angelangt. In der nächsten Ausgabe schaue ich mir an, wie es hierzulande um die Lage der nationalen Minderheiten bestellt ist.

Bis zum nächsten Mal, Ihr Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Klára Šimáčková Laurenčíková ist eine tschechische Spezialpädagogin, ab Mai 2022 Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Petr Fiala und ab Februar 2023 Nationale Koordinatorin für die Anpassung und Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und stellvertretende Ministerin für europäische Angelegenheiten der Tschechischen Republik. 2009 bis 2010 war sie stellvertretende Ministerin für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und von 2011 bis 2022 Ombudsfrau der FAMU. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der tschechischen Grünen Partei.

Quelle

Adéla Horáková ist Anwältin und eines der Gesichter der Initiative "It's Only Fair" (Jsme fér, Wir sind fair), die sich für die Ehe von Schwulen und Lesben in der Tschechischen Republik einsetzt ("Ehe für alle"). Sie ist Mitglied des Exekutivausschusses von PROUD (Plattform für Gleichheit, Anerkennung und Vielfalt) und Vorstandsmitglied des Prager Wirtschaftsforums. In der PROUD arbeitet sie ehrenamtlich als Anwältin, um Menschen vor Diskriminierung zu schützen, und bietet Rechts- und Kommunikationsdienstleistungen an. Bevor sie sich dem LGBTQIA+-Aktivismus anschloss, arbeitete sie 12 Jahre lang als Rechtsanwältin mit Schwerpunkt Wirtschaftsrecht in erstklassigen Anwaltskanzleien in der Tschechischen Republik.

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Dr. Michal Pitoňák absolvierte die naturwissenschaftliche Fakultät der Karlsuniversität in Prag mit den Schwerpunkten Biologie (B.Sc., M.Sc.), Geographie (B.Sc., M.Sc.), Sozialgeographie und Regionalentwicklung (RNDr., Ph.D.). In seiner Dissertation eröffnete er erstmals das interdisziplinäre Thema der so genannten Geographien der Sexualitäten in der tschechischen Geographie, in dessen Rahmen er vor allem die so genannte soziale Heteronormativität und deren Einfluss auf die soziale Organisation und Lebensqualität nicht-heterosexueller Menschen in der Tschechischen Republik untersuchte. Im Zuge der weiteren Vertiefung seines Interesses an diesem Forschungsgebiet befasste sich Dr. Pitoňák mit Themen wie der raum-zeitlichen Aushandlung nicht-heterosexueller Identitäten, Homophobie in Schulen, Queer-Theorie, Theorien über Minderheitenstress und dessen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Nicht-Heterosexuellen, der sozialen Epidemiologie von HIV/AIDS, Entstigmatisierung und LGBTQIA+-Psychologie, die er derzeit im Rahmen der so genannten "Sozialpsychologie der Heterosexualität" entwickelt. Syndemische Theorie, ein ganzheitlicher biopsychosozialer Ansatz mit dem Potenzial, transdisziplinäre Erkenntnisse zu gewinnen.

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Jiří Navrátil ist ein tschechischer Politiker, seit Oktober 2021 Mitglied der Abgeordnetenkammer der Tschechischen Republik, seit 2012 Abgeordneter und seit 2016 stellvertretender Gouverneur der Mährisch-Schlesischen Region, seit 2010 Abgeordneter und stellvertretender Bürgermeister der Gemeinde Mořkov in der Region Novojičín, Mitglied der KDU-ČSL.

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Miloš Szabo ist ein römisch-katholischer Priester, der ursprünglich aus der Slowakei stammt. Seit 1995 lebt er in Prag, wo er als Bezirksvikar des IV. Prager Vikariats und Pfarrer an der Kirche St. Prokop in Žižkov und seit Juli 2015 auch als Administrator excurrendo in der Pfarrei der Kirche der Erhöhung des Heiligen Kreuzes in Prag - Vinoř tätig ist. Seit Oktober 2015 ist er Dozent für Kirchenrecht und dessen Geschichte an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Karlsuniversität in Prag und gleichzeitig Pfarrer der St. Gothard Kirche in Prag 6-Bubeneč. Er ist Richter am Metropolitankirchengericht in Prag, Autor zahlreicher Bücher und wissenschaftlicher Artikel. Außerdem war er viele Jahre lang Projektleiter der Nacht der Kirchen und Mitglied des Teams für posttraumatische Intervention bei der Polizei der Tschechischen Republik in Prag.

Quelle

Folge 4: Die Lage nationaler Minderheiten in Tschechien

Romnja und Roma, Ukrainerinnen und Ukrainer, Vietnamesinnen und Vietnamesen, aber auch Vertreterinnen und Vertreter vieler weiterer nationaler Minderheiten sind bereits seit mehreren Jahren Teil der tschechischen Gesellschaft. Wie ist das Leben in Tschechien für sie? Wie gut kommen sie mit dem Rest der Gesellschaft aus? Inwiefern begegnen sie Vorurteilen, Rassismus und Diskriminierung? Und wie stark ist der Rechtsextremismus in Tschechien? Darüber sprechen wir mit der Regierungsbeauftragten für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, dem Experten für politischen Extremismus Jan Charvát, dem Sozialwissenschaftler Ivan Cuker – und vor allem mit Vertreterinnen und Vertretern einiger nationaler Minderheiten: der Regierungsbeauftragten für die Angelegenheiten der Roma, Lucie Fuková, der Roma-Historikerin Renata Berkyová und dem tschechisch-vietnamesischen Unternehmer Tung Nguyen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg und der Vertreibung der deutschen und ungarischen Minderheit ist die Tschechoslowakei eine ziemlich homogene Gesellschaft geworden. In den letzten dreißig Jahren wurde die tschechische Bevölkerung doch allmählich etwas bunter. Nach wie vor problematisch ist das Verhältnis der mehrheitlichen Bevölkerung zur Roma-Minderheit. Während viele einen Missbrauch des Sozialsystems durch die Roma beklagen und härteres Durchgreifen fordern, gibt es zunehmend auch Stimmen, die nach einer besseren Integration und dem Abbau der sozialen Benachteiligung rufen. Neben der Schaffung der Chancengleichheit wird auch die Pflege der Roma-Identität und -Kultur als Lösungsansatz gesehen.

Nach dem Ende der kommunistischen Herrschaft 1989 organisierten sich Roma einerseits verstärkt in Vereinen und Verbänden, andererseits bestand die gesellschaftliche Diskriminierung fort. So waren Roma bevorzugtes Angriffsziel neonazistischer Gruppierungen, wie beispielsweise im März 2010 in Vítkov in Mährisch-Schlesien, wo ein zweijähriges Mädchen bei einem Brandanschlag lebensgefährliche Verbrennungen erlitt. In Tschechien trat die politisch bedeutungslose, aber offensiv auftretende neonazistische Partei Národní strana um Petra Edelmannová wiederholt mit der Forderung nach einer „Endlösung der Zigeunerfrage“ auf, womit eine Deportation nach Indien gemeint war. In Ústí nad Labem wurde am 13. Oktober 1999 eine Mauer in der mehrheitlich von Roma bewohnten Matiční-Straße errichtet. Nach Protesten und der Zusage finanzieller Förderung für den Aufkauf von drei Einfamilienhäusern von Altanwesenden und für Sozialprogramme wurde die Mauer nach einigen Wochen am 24. November wieder abgebaut. Im Sozialen-Netzwerk facebook unterstützten im März 2010 85.000 Personen eine Kampagne gegen freiwilligen Schulunterricht auf Romani in einzelnen tschechischen Schulen. In der Presse wurde in der Vergangenheit über Sterilisationen von Romafrauen berichtet, die mit diesem Eingriff meist nicht einverstanden oder darüber im Vorfeld nicht informiert worden waren; diese Praktiken bestünden auch nach Ende der kommunistischen Ära noch fort. Wiederholt wurde außerdem über Ausreisewellen asylsuchender Roma nach Übersee, insbesondere nach Kanada, berichtet. Dies sei der Grund, warum es von Juli 2009 bis November 2013 eine Visumpflicht für tschechische Staatsbürger zur Einreise und Aufenthalt in Kanada gab.

Generell leben Roma verglichen mit der durchschnittlichen Dominanzgesellschaft in einer schlechtergestellten Umgebung. Zum Teil wurden sie in den Städten mit anderen finanziell schwachen Einwohnern zusammen angesiedelt, wodurch arme Stadtwohngebiete wie Most-Chanov oder Litvínov-Janov entstanden sind. Zum anderen Teil ziehen bessergestellte Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft aus den einkommensschwachen Gebieten weg. Es werden immer noch überdurchschnittlich viele Roma-Kinder auf Sonderschulen zugewiesen, womit ihnen die Chance auf höhere berufliche Qualifikationen mangelt. Eine Vertretung der Roma im tschechischen oder slowakischen Parlament fehlt, was auch dadurch begünstigt wird, dass ein Gruppenzusammenhalt nicht sehr stark ausgeprägt ist. Eine Umsetzung der Minderheitenrechte wie beispielsweise muttersprachlicher Schulunterricht, Sprachgebrauch bei Behörden usw. ist in Tschechien bis jetzt noch nicht vollständig erfolgt.

Die in den 1990er Jahren fehlenden sozialen Programme unterstützten das Entstehen sozialer Brennpunkte in ärmeren Gegenden Tschechiens, insbesondere in Nordböhmen und Nordmähren. In den letzten Jahren sind vermehrt Konflikte mit sozialem und rassistischem Hintergrund zu verzeichnen, beispielsweise 2011 im Schluckenauer Zipfel oder in Krupka.

Dennoch, eine Untersuchung der Meinungsforschungsorganisation CVVM im Jahr 2019 ergab, dass das Verhältnis zwischen Roma und Tschechen derzeit so gut ist wie seit 20 Jahren nicht mehr. 23 % der befragten Personen nehmen das Zusammenleben von Tschechen und Roma positiv wahr, was das beste Ergebnis aller Zeiten ist. Als Grund dafür wird das gestiegene Interesse der Medien an der Berichterstattung über Roma-Themen vermutet. Einigen zufolge spielte dabei auch die beliebte Fernsehserie Most! eine Rolle, die Anfang 2019 vom tschechischen Fernsehen ausgestrahlt wurde und sich um Roma-Themen drehte.

Neben den ca. 260.000 (ca. 2,2 % der Bevölkerung) Roma leben in Tschechien auch 80.000 Menschen mit vietnamesischen Wurzeln, mehr als 200.000 Slowaken und vor dem Februar 2022 auch mehr als 200.000 Ukrainer.

Die Vietnamesen in Tschechien bilden nach den Ukrainern und Slowaken die drittgrößte ausländische Bevölkerungsgruppe in Tschechien. Es wird vermutet, dass sich inoffiziell deutlich mehr Vietnamesen in Tschechien aufhalten. Eine Schätzung von ARTE spricht von ca. 200.000 Vietnamesen. Die vietnamesische Minderheit ist nicht als isolierte Gruppe zu sehen, sondern u. a. durch innereuropäische Migration eng verknüpft mit den Vietnamesen in Polen. In mehreren Verträgen zwischen der Tschechoslowakei und Vietnam wurde ab den 1950er Jahren die Zusammenarbeit zwischen den beiden Ländern vereinbart. Bestandteil war auch, dass einige, vornehmlich männliche, Vietnamesen als Arbeiter, Lehrlinge und Studenten in die Tschechoslowakei kommen konnten. Insbesondere in den 1970er und 1980er Jahren wurden die Anwerbebemühungen für Arbeiter verstärkt. Mit dem Stellen von Arbeitern beglich der vietnamesische Staat teilweise seine Schulden. Eine Integration dieser Gruppe war allerdings ausdrücklich nicht gewünscht, weshalb sich die vietnamesische Gemeinschaft in Tschechien tendenziell nach außen abschloss. Mit dem Transformationsprozess infolge der Wende ab 1989 wurde der Rechtsstatus der Migrantengruppe unsicher. In der Folgezeit mussten viele das Land verlassen oder andere Aufenthaltstitel erwerben. Trotz der rechtlichen Unsicherheiten kamen in dieser Zeit viele Vietnamesen nach Tschechien, die die Deutsche Demokratische Republik verlassen mussten. Mittlerweile lebt in Tschechien auch eine Generation Vietnamesen, die dort geboren und aufgewachsen ist. Bis heute ziehen allerdings kontinuierlich Vietnamesen nach Tschechien. Viele Vietnamesen sind im Groß- und Einzelhandel, der Gastronomie und einfachen Dienstleistungsbetrieben wie Frisiersalons und Nagelstudios beschäftigt, die zumeist auch in vietnamesischer Hand sind. Es existieren in Tschechien teilweise eigenständige vietnamesische Handelsketten, so beispielsweise im Geschäfts- und Kulturzentrum SAPA in Prag einige Großhandelsgeschäfte, von denen viele vietnamesische Kleinbetriebe ihre Waren beziehen. Die vietnamesischen Einzelhandelsgeschäfte sind in Tschechien beinahe flächendeckend vertreten und bieten in einigen strukturschwachen ländlichen Regionen eine Einzelhandelsgrundversorgung an.

Quellen:
Roma in Tschechien und der Slowakei
Vietnamesien in Tschechien

Ergänzend noch ein Auszug aus "Zemřel, protože byl Rom" (übersetzt: Er starb, weil er Romani war) von Apolena Rychlíková veröffentlicht in Věčná devadesátá (Die ewigen Neunziger), S. 177-179:

"Die Ideologie der sozialistischen Gesellschaft der Staatsrepublik war auf formale Gleichheit ausgerichtet." Dies könnte auch erklären, warum der Rassismus erst in den 1990er Jahren aufflammte, und zwar so stark. Es gibt keine Studien darüber, inwieweit Fremdenfeindlichkeit und Rassenintoleranz in der vorrevolutionären Gesellschaft vorhanden waren. Das plötzliche Auftreten von rassistischer Gewalt und Rassenhass unmittelbar nach der Samtenen Revolution deutet jedoch darauf hin, dass Vorurteile gegen Roma und andere ethnische Gruppen in der tschechischen Gesellschaft schon seit langem vorhanden waren. Nach Ansicht des Politikwissenschaftlers und Extremismusexperten Jan Charvát handelte es sich dabei jedoch um eine Mischung aus sich wiederholenden urban legends und klassischen ethnischen Vergehen. Doch eine Rolle dabei, dass die Roma stärker in die Gesellschaft eingebunden waren, spielte auch die Vollbeschäftigung der Gesellschaft, und dass sie ein fester Bestandteil der meisten Stadtviertel waren und es - zumindest in der Tschechischen Republik - noch keine Ghettos gab.

"Die meisten Menschen sind den Roma regelmäßig begegnet, in der Schule, auf der Straße, im öffentlichen Raum und am Arbeitsplatz. Es gab einige Bemühungen um eine Trennung, aber sie erreichten nicht das Niveau von heute. Außerdem muss man bedenken, dass es damals keine Meinungs- und Pressefreiheit gab, so dass die eventuellen Scharmützel zwischen Roma und Nicht-Roma, die dann in den 1990er Jahren als kriminelle Sensationen aufbereitet wurden, die Bevölkerung überhaupt nicht erreichten", so der Politikwissenschaftler. Die Gründe, warum der Rassismus, der sich vor allem gegen Roma richtete, praktisch unmittelbar nach der Samtenen Revolution um sich griff, sind seiner Meinung nach vielfältig. Charvát selbst erinnert sich jedoch daran, dass es in der Zeit vor 1989 ein gewisses Misstrauen gegenüber Menschen aus Vietnam gab. Es gab auch eine Reihe von mehr oder weniger absurden Aberglauben über sie. Bei den Roma, so Charvát, sei das aber nicht anders gewesen.

"Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Roma oft in gering qualifizierten oder ungelernten Positionen gearbeitet haben. Mit dem Beginn der Privatisierung waren sie oft die ersten, die ihre Arbeitsplätze verloren. Dadurch entstand plötzlich der Eindruck, dass sie im Sozialismus ausgebeutet wurden", so der Politikwissenschaftler. Auch Probleme im Bildungswesen und die Rassendiskriminierung, die ihre Wurzeln in den 1980er Jahren hatte, traten immer deutlicher zu Tage. Die Roma wurden immer häufiger als Angehörige von Sonderschulen wahrgenommen, und das Bildungswesen begann sich zu segregieren. Eine der treibenden Kräfte in den Jahren nach der Revolution war auch die Rückkehr des Nationalismus, zumindest eine Zeit lang.

Ihm zufolge lässt sich der Rassismus der frühen 1990er Jahre in mehrere Wellen unterteilen, von denen die schlimmste in der zweiten Hälfte der 1990er Jahre abklang, als die Gesellschaft erkannte, wie gefährlich diese Tendenzen waren. Bis dahin war Gewalt, auch auf der Straße, jedoch relativ normal. Körperliche Übergriffe auf der Straße, denen Roma zum Opfer fielen, waren keine Seltenheit. Um die Mitte der 1990er Jahre trat eine Flaute ein. Plötzlich gab es Morde, Neonazis, die auf der Straße herumlungerten, Aufmärsche und aggressives Verhalten, das normale Menschen bedrohte. Die Presse und Menschenrechtsorganisationen wurden aufmerksam. Auch die Polizei begann zu handeln, erklärt Charvát die Gründe für den Durchbruch im Bereich der rassistischen Gewalt. Aber der Tribut, den viele dafür zahlen mussten, ist tragisch hoch.

Quelle: Zemřel, protože byl Rom von Apolena Rychlíková, In: Věčná devadesátá, (Hrsg.: Veronika Pehe, Apolena Rychlíková) Cpress, Brno 2023, S. 177-179

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Romnja und Roma, Ukrainerinnen und Ukrainer, Vietnamesinnen und Vietnamesen, aber auch Vertreterinnen und Vertreter vieler weiterer nationaler Minderheiten sind bereits seit mehreren Jahren Teil der tschechischen Gesellschaft. Wie ist das Leben in Tschechien für sie? Wie gut kommen sie mit dem Rest der Gesellschaft aus? Inwiefern begegnen sie Vorurteilen, Rassismus und Diskriminierung? Und wie stark ist der Rechtsextremismus in Tschechien? Darüber sprechen wir mit der Regierungsbeauftragten für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, dem Experten für politischen Extremismus Jan Charvát, dem Sozialwissenschaftler Ivan Cuker – und vor allem mit Vertreterinnen und Vertretern einiger nationaler Minderheiten: der Regierungsbeauftragten für die Angelegenheiten der Roma, Lucie Fuková, der Roma-Historikerin Renata Berkyová und dem tschechisch-vietnamesischen Unternehmer Tung Nguyen.

Das Gebiet, auf dem sich heute die Tschechische Republik befindet, war im Hinblick auf ethnische Zugehörigkeit und Kultur in der Geschichte zumeist sehr mannigfaltig. Noch in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit hätten die Tschechinnen und Tschechen nur etwa die Hälfte der Bevölkerung ausgemacht, betont der Politikwissenschaftler Jan Charvát von der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Prager Karlsuniversität."

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Zwischen den Weltkriegen, aber auch schon davor, trafen in den Böhmischen Ländern meist zumindest die tschechische, die deutsche und die jüdische Kultur aufeinander. Prag wurde als Kreuzung der Kulturen wahrgenommen, Mitteleuropa war ethnisch stark durchmischt. Während der Zeit Österreich-Ungarns war es gang und gäbe, dass Tschechen im gesamten Gebiet von der Ostsee bis zur Adria lebten – und genauso kamen aus all diesen Regionen Menschen hierher.“

Filip Rambousek:
"Diese kulturelle und ethnische Vielfalt ging aber im 20. Jahrhundert verloren – vor allem aufgrund des Holocausts und der anschließenden Vertreibung der deutschen Bevölkerung. Seitdem ist die tschechische Gesellschaft in ethnischer Hinsicht recht homogen."

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Die Tschechen haben sich an diese Einheitlichkeit gewöhnt. Weiter befeuert wurde sie auch durch das kommunistische Regime. Das hat natürlich einen Einfluss darauf, wie das Zusammenleben verschiedener Ethnien heute hierzulande funktioniert. Die Erfahrungen mit Vielfältigkeit sind einfach abgerissen. Wenngleich diese Unterbrechung aus historischer Sicht nicht sonderlich lang ist, ist die Erfahrung bereits für Generationen verloren gegangen. Für uns ist so etwas ungewöhnlich, wir wenden uns dagegen. Das zeigt sich etwa an der seit langem negativen Haltung von Tschechinnen und Tschechen zur Roma-Minderheit. Ähnliche Phänomene gibt es dabei auch anderswo in Europa. Wir Menschen haben einfach die Tendenz, einen Sündenbock zu suchen, an dem gezeigt werden kann, was alles falsch läuft. Deshalb behaupten wir, dass die Roma arm seien und sich nicht um sich selbst kümmern könnten. Und dass sie viele schlimme Dinge täten, die ein Tscheche nie tun würde. Wenn doch, dann sei das doch ganz etwas anderes, als wenn so etwas ein Rom mache.“

Filip Rambousek:
"Obwohl die tschechische Gesellschaft heute nicht mehr so vielfältig ist wie zu Zeiten Österreich-Ungarns, kann man keinesfalls sagen, dass sie komplett homogen ist. Ihren Anteil haben nicht nur die bereits erwähnten Romnja und Roma, sondern auch Vietnamesinnen und Vietnamesen, die auf Grundlage bilateraler Abkommen bereits ab dem Ende der 1950er Jahre in die Tschechoslowakei gekommen sind. Offiziell würden in Tschechien heute 14 nationale Minderheiten anerkannt, sagt die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková."

Klára Šimáčková Laurenčíková(übersetzt ins Deutsche):
„Die nationalen Minderheiten bilden rund zehn Prozent der Bevölkerung Tschechiens. Die Gesellschaft hierzulande wird auch immer vielfältiger. Nationale Minderheiten und Menschen aus anderen Kulturen und Ländern machen aber keinen so großen Anteil aus wie in anderen europäischen Ländern, etwa wie in Deutschland oder Österreich. Die offiziellen 14 nationalen Minderheiten, die in Tschechien unterschieden werden, sind die ukrainische, die slowakische und die deutsche Minderheit, die Roma und die Polen, aber auch die russische, ungarische, bulgarische, weißrussische, kroatische, griechische, vietnamesische und russinische Minderheit. All diese Gruppen sind im Regierungsrat für nationale Minderheiten vertreten.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Die größten nationalen Minderheiten in Tschechien sind die ukrainische, die slowakische, die Roma-Minderheit und die Vietnamesinnen und Vietnamesen. Die slowakische Minderheit ist im Grunde unsichtbar, denn die Menschen aus der Slowakei und aus Tschechien sind sich kulturell, sprachlich und auch in vielen weiteren Aspekten sehr nah. Studierende aus der Slowakei können an tschechischen Hochschulen etwa in ihrer Sprache Prüfungen ablegen. Der ukrainischen Minderheit werden wir uns in der letzten, sechsten Folge dieses Podcasts noch genauer widmen. In dieser Folge soll es vor allem um die Romnja und Roma sowie um die vietnamesische Minderheit gehen. Beide Gruppen sind sehr unterschiedlich, mit einer jeweils anderen Geschichte. Und dennoch stehen sie in mancherlei Hinsicht vor ähnlichen Hindernissen und Herausforderungen. Die Romnja und Roma leben bereits lange als Minderheit hierzulande. Sie kamen bereits vor vielen Jahrhunderten in die Böhmischen Länder. Im Laufe der Zeit wurden sie dabei des Öfteren Ziel politischer Repressionen – auch in der Tschechoslowakei der Zwischenkriegszeit, wie die Historikerin Renata Berkyová vom Institut für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften schildert:"

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„Der Gipfel war ein Gesetz von 1927, das die sogenannten ‚Wanderzigeuner‘ betraf, sich aber eigentlich pauschal gegen einen erheblichen Teil der Roma-Bevölkerung richtete. Zusammen mit diesem Gesetz erfolgte die Registrierung der sogenannten ‚Zigeuner‘. Dies trug später, zu Beginn des Zweiten Weltkriegs, dazu bei, dass die Roma schneller in Konzentrationslagern interniert werden konnten.“

Filip Rambousek:
"Die repressive Politik gegen die Roma-Minderheit in der zweiten Hälfte der 1920er Jahre passt damit so gar nicht zum Bild der Tschechoslowakei als demokratischer Insel inmitten Europas."

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„Der erste tschechoslowakische Präsident Tomáš Garrigue Masaryk wird oft als demokratisch eingestellte Persönlichkeit gefeiert. Wenn wir aber über die Geschichte der Roma und ihre Integration in die sogenannte große tschechoslowakische Geschichte sprechen, dann darf man nicht unter den Tisch fallen lassen, dass es gerade die Unterschrift von Präsident Masaryk war, durch die 1927 das Gesetz gebilligt wurde. Dadurch ließ er die spätere Registrierung und Kriminalisierung der Roma zu.“

Filip Rambousek:
"Die Rassenverfolgung von Sinti und Roma erreichte während der Besetzung durch Nazi-Deutschland ein tragisches Ausmaß. Auf dem Gebiet des „Protektorats Böhmen und Mähren“ entstanden gleich zwei Konzentrationslager für Sinti und Roma – eines in Lety bei Písek und eines im südmährischen Hodonín bei Kunštát / Kunstadt. Die Historikerin Renata Berkyová sagt:"

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„Auf dem Gebiet des Protektorats Böhmen und Mähren lebten rund 6500 tschechische Sinti und Roma. Nach dem Krieg kamen nur etwa 600 von ihnen aus den Konzentrationslagern zurück. Das heißt, dass 90 Prozent der Sinti und Roma mit tschechischen Wurzeln den Krieg nicht überlebten.“

Filip Rambousek:
Die meisten der tschechischen Sinti und Roma starben im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau. Ein Teil von ihnen kam aber auch in Folge der katastrophalen Lebensumstände in den Konzentrationslagern in Lety und Hodonín ums Leben. Die Leitung dort hatte die tschechische Gendarmerie inne. Nach dem Krieg wurde der Völkermord an den Roma in der Tschechoslowakei lange Zeit verschwiegen. An der Stelle, an der sich das Konzentrationslager in Lety bei Písek befunden hatte, wurde in den 1970er Jahren sogar eine große Schweinemast errichtet. Erst nach 1989 begann man, offen über den Genozid an den Sinti und Roma zu sprechen."

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„In den 1990er Jahren wurde die tschechische Gesellschaft mit der Existenz der beiden Konzentrationslager in Lety und Hodonín und überhaupt mit der Rassenverfolgung zur Zeit des Protektorats konfrontiert. Es wurde zwar ein Denkmal am Ort eines Massengrabes in der Nähe des Lagers in Lety gebaut – auf dem einstigen Lagergelände stand allerdings immer noch die Schweinemast. Die Roma verlangten aber auch Entschädigungen und eine öffentliche Anerkennung des Völkermordes an den Sinti und Roma. Und zu diesem Zeitpunkt wurde die Debatte relativiert und der Genozid in Frage gestellt – und das selbst durch führende Politiker.“

Filip Rambousek:
"Der ehemalige Staatspräsident Václav Klaus etwa zweifelte noch 2005 an, dass es sich im Falle der Anlage in Lety um ein Konzentrationslager gehandelt habe. Stattdessen betonte er, dass das Gelände in den ersten Jahren seiner Existenz als Strafarbeitslager gedient hätte. Die Debatte um den Roma-Holocaust spiegelte also die vorherrschenden Vorurteile vieler Tschechinnen und Tschechen gegen die Romnja und Roma wider. Die ablehnende Haltung führte in den 1990er Jahren gar zu einer Reihe rassistisch motivierter Angriffe – die man aus der Zeit vor 1989 nicht kannte. Der Politikwissenschaftler Jan Charvát erläutert:"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Es kam zu mehreren rassistischen Gewalttaten, bis hin zu Morden. Als es innerhalb des Jahres 1995 gleich drei derartige Angriffe gab, sah sich die Regierung gezwungen, eine anti-extremistische Politik zu formulieren. Seit dieser Zeit erscheinen etwa regelmäßig die Extremismusberichte. In den 1990er Jahren wurden häufig Menschen mitten auf der Straße angegriffen, und oft handelte es sich bei den Opfern um Roma. Ein Problem lag darin, dass die Polizei in der ersten Hälfte der 1990er Jahre nicht wirklich bereit war, das Problem anzugehen. Auch danach dauerte es noch lange, bis sie lernte, wie man mit rassistisch motivierten Gewalttaten umgehen muss. Es war wirklich eine wilde Zeit. Ich kann mich noch erinnern, dass Anfang der 1990er Jahre Gewalt in Prag allgegenwärtig war. Wenn man heute an diese Zeit zurückdenkt, werden oft die freie Wirtschaft und die Möglichkeiten des Reisens betont. Rassistisch motivierte Angriffe werden gern übersehen. Das liegt daran, dass nur einige Menschen den Raum bekommen, um öffentlich über die 1990er Jahre zu reden. Vor allem sind das Leute, die in der heutigen Gesellschaft ihren festen Platz haben und an ihre großartige Zeit als junge Unternehmer zurückdenken oder an ihre Reisen. Wenn wir aber andere Menschen fragen würden, dann würden sie uns davon erzählen, wie sie in den 1990er Jahren vor Gruppen von Skinheads weglaufen mussten.“

Filip Rambousek:
"Rassistisch motivierte Angriffe, aber auch soziale Ausgrenzung und Diskriminierung in zahlreichen Lebensbereichen trugen zu einer Massenauswanderung der Romnja und Roma bei, insbesondere nach Großbritannien und Kanada. Schätzungen zufolge haben seit den 1990er Jahren mehr als 75.000 Angehörige der Minderheit Tschechien in Richtung Westen verlassen. Lucie Fuková ist Regierungsbeauftragte für Angelegenheiten der Roma-Minderheit."

Lucie Fuková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Roma, die heute hier leben, stammen aus der Ostslowakei und kamen nach 1946 nach Tschechien. Sie ließen sich hauptsächlich in den industriell geprägten Gegenden im Norden Böhmens und Mährens nieder, um dort zu arbeiten. Roma wohnen heute jedoch auch an vielen weiteren Orten in Tschechien. Schätzungen gehen von bis zu 250.000 Roma aus, die in Tschechien leben. Aber diese Zahl ist sehr im Wandel begriffen, denn in den 1990er Jahren verließen viele Angehörige der Minderheit Tschechien und gingen in den Westen.“

Filip Rambousek:
"Die Romnja und Roma in Tschechien seien heute noch immer mit erheblichen sozialen Hindernissen und in einigen Fällen mit systematischer Diskriminierung konfrontiert, betont Menschenrechtsbeauftragte der Regierung, Šimáčková Laurenčíková."

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das zeigt sich etwa an der Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt sowie in den Ungleichheiten im Bildungswesen. Die vorurteilsbehaftete Einstellung der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber Roma trägt ihren Teil dazu bei.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Im Jahr 2007 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte zu dem Schluss, dass Roma-Schülerinnen und -Schüler im tschechischen Bildungssystem diskriminiert werden. Allein wegen ihrer ethnischen Zugehörigkeit wurden die Kinder nämlich häufiger in sogenannten Sonderschulen untergebracht. Diese Praxis der Segregation bestehe leider bis heute, betont Lucie Fuková, die Regierungsbeauftragte für die Angelegenheiten der Roma-Minderheit."

Lucie Fuková (übersetzt ins Deutsche):
„In Tschechien gibt es immer noch mehr als 130 getrennte Schulen. Roma-Eltern sehen sich oft mit der Tatsache konfrontiert, dass sich normale Schulen mit einem gewissen Standard weigern, ihre Kinder aufzunehmen. In gängigen Grundschulen werden zudem häufig getrennte Klassen eingerichtet. Das ist unvorstellbar, aber es passiert wirklich. Daneben bestehen aber auch positive Beispiele. Wir haben etwa viele erfolgreiche Mittelschüler und Universitätsstudenten aus der Minderheit, viele Roma sind in ihrem Beruf erfolgreich. Aber all diese Menschen kostet das bedeutend größere Anstrengungen als die Menschen aus der Mehrheitsgesellschaft, einfach weil sie gegen viele soziale Barrieren und diskriminierende Praktiken ankämpfen müssen. Ein jeder Rom, ob nun Schüler oder Student, ist in seiner Bildungslaufbahn aufgrund seiner ethnischen Zugehörigkeit schon einmal auf ein Problem gestoßen.“

Filip Rambousek:
"Auch im Bereich des Wohnens begegnen die Romnja und Roma Hindernissen. Dass sie heute vielmals in schlechteren Wohnungen leben, hat auch historische Gründe. So ließen sich viele von ihnen nach dem Zweiten Weltkrieg in den Industrieregionen im Norden Böhmens und Mährens nieder. Nach 1989 waren diese Gegenden stark von der wirtschaftlichen Transformation betroffen. Mit dem Auseinanderbrechen der Tschechoslowakei und der Gründung Tschechiens im Jahr 1993 verloren zudem viele der Romnja und Roma, die ursprünglich aus der Slowakei stammten, ihre Staatsangehörigkeit. Dies habe ihre soziale und wirtschaftliche Lage deutlich verschlechtert, sagt Lucie Fuková."

Lucie Fuková (übersetzt ins Deutsche):
„Zudem gingen damals so einige große Firmen bankrott, in denen viele Roma arbeiteten – und sie wurden dann oft als erste entlassen. Einige von ihnen verloren auch jegliche staatliche Hilfen, denn durch den Verlust der Staatsangehörigkeit hatten sie vom einen auf den anderen Tag keinen Anspruch mehr auf Sozialleistungen. Als Folge dieser Entwicklung zogen viele Roma in sogenannte sozial abgehängte Gegenden um. Aufgrund der mangelnden Unterstützung vom Staat gerieten sie oft in eine schwierige finanzielle Lage und verschuldeten sich. Zu dieser Zeit begannen einige Gemeinden zudem, Roma gezielt Orte umzusiedeln, an denen sie gemeinsam mit anderen Menschen am Rand der Mehrheitsgesellschaft lebten – zum Beispiel mit ehemaligen Häftlingen. So entstanden nach und nach Gegenden, in denen hauptsächlich sozial und ethnisch ausgegrenzte Menschen lebten.“

Filip Rambousek:
"Eines der Symbole für Rassismus und Segregation wurde eine Mauer in der Matiční-Straße in Ústí nad Labem / Aussig. Sie wurde Ende der 1990er Jahre errichtet, um mehrere Wohnhäuser, die überwiegend von Romnja und Roma bewohnt wurden, vom Rest der Stadt abzutrennen. Nach einer Welle der Kritik aus Tschechien und dem Ausland wurde die Mauer jedoch nach einigen Wochen wieder entfernt. Sozial ausgegrenzte Gebiete waren auch mehrfach das Ziel von Neonazi-Aufmärschen. So kam es 2008 zu einem versuchten Anti-Roma-Pogrom im nordböhmischen Litvínov / Leutensdorf. Der Angriff von mehreren Hundert Rechtsextremisten auf die dortige Wohnsiedlung Janov konnte nur von der Polizei gestoppt werden. Knapp ein Jahr später verübte eine Gruppe von Neonazis einen Brandanschlag auf eine Roma-Familie in Vítkov / Wigstadtl im Kreis Mährisch-Schlesien. Bei dem Anschlag erlitten drei Menschen Verbrennungen, am schlimmsten traf es ein zweijähriges Mädchen. Glücklicherweise sei die Anzahl derartiger Angriffe inzwischen deutlich zurückgegangen, sagt der Politikwissenschaftler Jan Charvát:"

Jan Charvát (übersetzt ins Deutsche):
„Seitdem sich der subkulturelle Teil der rechtsextremen Szene praktisch aufgelöst hat, also etwa seit 2013, sind rassistisch motivierte tätliche Angriffe weitestgehend verschwunden.“

Filip Rambousek:
"Das heißt jedoch keinesfalls, dass das Problem vorurteilsbedingter Gewalt völlig gelöst ist. Klára Šimáčková Laurenčíková, die Menschenrechtsbeauftragte der tschechischen Regierung:"

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Ich denke, dass die Tendenz zu vorurteilsbehafteter Gewalt und zu vorurteilsbedingtem Hass in die Mehrheitsgesellschaft übergeschwappt ist und auch in den sozialen Medien ihren Niederschlag findet. Daher halte ich es für wichtig, den Einfluss der sozialen Medien genauer zu analysieren und ernsthaft zu prüfen, wie die Verbreitung von Hass und Gewalt wirksamer reguliert werden kann.“

Filip Rambousek:
"Die Regierungsbeauftragte für die Angelegenheiten der Roma, Lucie Fuková, spricht hinsichtlich der aktuellen gesellschaftlichen Stellung von Romnja und Roma in Tschechien von einem „allgegenwärtigen Antiziganismus“. Durch diesen würden die Mitglieder der Minderheit daran gehindert, vollwertig in der Gesellschaft anerkannt zu werden. Dies belegen auch die Ergebnisse soziologischer Studien. Wenngleich die vorurteilsbehaftete Einstellung gegenüber den Romnja und Roma nach und nach abflacht, wird die Minderheit immer noch eher negativ wahrgenommen – und das selbst bei jüngeren Leuten im Alter von bis zu 30 Jahren, die sonst eher tolerant eingestellt sind. Ivan Cuker ist Sozialwissenschaftler und hat unlängst an einer Studie des Meinungsforschungsinstituts Median mitgewirkt. Darin wurde die Haltung junger Menschen gegenüber Minderheit untersucht. Cuker sagt:"

Ivan Cuker (übersetzt ins Deutsche):
„Etwa ein Drittel der jungen Menschen würde es stören, wenn ein Rom oder eine Romni in ihrer Nachbarschaft wohnt. Ein Viertel der jungen Leute wollen keinen Rom oder keine Romni als Kollegen oder Kollegin in der Arbeit. Und nach wie vor würde es 40 Prozent der Befragten stören, wenn jemand aus ihrer Familie einen Rom oder eine Romni heiratete. Wir sehen also, dass die Trennung zwischen ‚wir‘ und ‚sie‘ immer noch präsent ist. Dadurch werden Barrieren geschaffen und die realen, oft aber vielmehr gefühlten Unterschiede zwischen den ethnischen Gruppen betont.“

Filip Rambousek:
"Ein gewisser Abstand zu Romnja und Roma, Misstrauen und latenter Rassismus zeigen sich auch im Zugang der Behörden. So sagte 2021 die tschechische Regierung Romnja, die in der Vergangenheit Opfer von Zwangssterilisierung geworden waren, das Recht auf eine Entschädigungszahlung zu. Zu den Eingriffen war es in den 1970er und 1980er Jahre gekommen, aber auch nach 1989. Der Entschädigungsprozess sei aber viel zu bürokratisch organisiert, er sei beschwerlich und unwürdig, beschwert sich die Regierungsbeauftragte für die Angelegenheiten der Roma, Lucie Fuková:"

Lucie Fuková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Romnja müssen gegen einen Verwaltungsmoloch ankämpfen. Der Entschädigungsprozess ist sehr langwierig. Es gibt Fälle von Frauen, die einen Antrag gestellt haben und während des Verfahrens verstorben sind. Die Wartezeit auf eine Wiedergutmachung scheint unendlich lang zu sein. Die Romnja haben jahrelang dafür gekämpft, eine Entschädigung und die Anerkennung der Zwangssterilisation zu erreichen. Ich verstehe nicht, warum das jetzt jemand auf einer Behörde anzweifelt – und dass die Frauen das überhaupt beweisen müssen.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"In der bereits erwähnten Median-Studie aus dem Jahr 2023 hat sich gezeigt, dass Romnja und Roma sowie Vietnamesinnen und Vietnamesen gänzlich unterschiedlich wahrgenommen werden. Während die Romnja und Roma vom Rest der Gesellschaft eher negativ gesehen werden, bewerten die meisten das Zusammenleben mit den Menschen der vietnamesischen Minderheit als positiv. Die Vietnamesinnen und Vietnamesen kamen vor allem von den 1960er Jahren bis in die 1980er Jahre in die Tschechoslowakei. Grundlage dafür waren mehrere bilaterale Abkommen zwischen den beiden sozialistischen Staaten. Die meisten von ihnen blieben nach 1989 in der Tschechoslowakei. Und es kamen auch viele weitere vietnamesische Familien aus anderen Staaten des früheren Ostblocks ins Land, etwa aus der ehemaligen DDR. Heute wird die Anzahl von Menschen mit vietnamesischen Wurzeln in Tschechien zumeist mit 100.000 beziffert. Am stärksten vertreten ist die Minderheit in Prag, aber auch im Nordwesten Böhmens, also an der Grenze zu Sachsen. Viele von ihnen sind Unternehmer, oftmals betreiben sie kleine Läden mit Lebensmitteln, die dann „večerka“ also auf Deutsch etwa „Spätkauf“ genannt werden. In den vergangenen Jahren ist in Tschechien schon die zweite Generation von Menschen mit vietnamesischen Wurzeln herangewachsen. Dies sind Menschen, die hierzulande geboren wurden oder in jungen Jahren hierher kamen und in Tschechien zur Schule gegangen sind. Sie sprechen perfekt Tschechisch und unterscheiden sich von ihren Eltern in vielerlei Hinsicht. Diese jungen Vertreterinnen und Vertreter der Minderheit sind heute wichtige Vermittlerinnen und Vermittler zwischen der tschechischen und der vietnamesischen Kultur. Einer dieser jungen Menschen ist der tschechisch-vietnamesische Unternehmer Tung Nguyen…"

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
„Ich stehe im Einkaufs- und Kulturzentrum Sapa, einem ehemaligen Industrieareal am südlichen Stadtrand von Prag. Und hier bei mir steht Tung Nguyen. Hallo!“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Hallo!“

Filip Rambousek:
„Tung ist heute unser Guide und zeigt uns, was es hier im Sapa alles zu entdecken gibt. Wenn man sich umschaut, erkennt man gleich die frühere Nutzung als Industriegebiet. Heute sieht es hier aber ganz anders aus. Es gibt viele kleine Stände und Läden. Was kann man hier alles finden? Was ist das Besondere am Sapa?“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt hier viele neue Gebäude, einige Hallen des ehemaligen Fleischkombinats wurden restauriert. Viele Bauten wurden schnell hochgezogen, vor allem die Blechhallen, die wir uns heute auch noch anschauen werden.“

Filip Rambousek:
„Wo gehen wir als erstes hin? Das dort hinten wird wohl die Markthalle sein?“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Die Führungen meiner Organisation, Sapa Trip, beginnen meist am Eingangstor. Dann folgen weitere spannende Orte. Wir schauen uns am Tor die unterschiedlichen Symbole an, die aus Vietnam und weiteren asiatischen Ländern kommen. Und natürlich werfen wir auch einen Blick in die Markthallen. Denn Sapa ist vor allem ein Handelszentrum, in dem Waren von A bis Z verkauft werden – von Textilien über Elektronik bis hin zu Spielzeugen.“

Filip Rambousek:
„Na dann, los geht’s! Wir steigen bereits unters Dach…“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Das hier ist eines dieser Areale, das sehr schnell gebaut wurde. In Prag und anderswo in Tschechien gibt es heute viele dieser Handelszentren. In den 1990er Jahren konzentrierten sie sich aber an einem Ort. Deshalb gibt es hier diese Hallen aus Blech. In ihnen werden Textilien, Koffer, Spielzeuge und alles Mögliche verkauft. Im Sapa gibt es aber auch viele Restaurants, die echte vietnamesische Küche anbieten. Dort drüben sehen wir das ursprüngliche große Fleischkombinat. Dort befinden sich weitere Läden. Und hier sind wir nun am Haupttor, das so oft in den Medien gezeigt wird. An dem Tor finden sich in den Zierelementen viele vietnamesische und asiatische Symbole. Auch der Schriftzug ‚Sapa‘ ist damit versehen, auf Vietnamesisch ist dieser Name eine Abkürzung für ein Einkaufszentrum. Die Zeichen sollen das gesamte Areal schützen. Gegenüber dem Tor steht ein Brunnen, der sozusagen Yin und Yang symbolisieren soll.“

Filip Rambousek:
"Als wir gerade durch die Halle mit der Kleidung gegangen sind, ist mir aufgefallen, dass dort viele Vertreterinnen und Vertreter der vietnamesischen Minderheit waren, aber auch viele Besucherinnen und Besucher der Mehrheitsgesellschaft. Ist das Sapa heute ein Ort, an dem unterschiedliche Kulturen aufeinandertreffen?"

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Vor acht Jahren haben wir die Organisation Sapa Trip gegründet. Damals waren hier kaum Leute unterwegs, die nicht zur vietnamesischen Community gehören. Das Gelände war eben ein Großmarkt. Hier waren vor allem vietnamesische Unternehmer zugegen, die in Prag oder anderen Städten Tschechiens kleine Läden betreiben und ihre Waren einkaufen. Nur 20 Prozent der Händler waren Menschen, die nicht zur vietnamesischen Minderheit gehörten. Natürlich tauchten hier aber auch einige Kulinarik-Freaks auf, die authentische vietnamesische Küche probieren wollten. Aber das waren eher Einzelfälle. In den vergangenen acht Jahren hat sich dies aber stark verändert. Heute kommen Menschen aus der Gegend, aber auch von viel weiter her ins Sapa. Sie erledigen hier ihre Einkäufe und gehen vietnamesisch essen. Ein Freund von mir, der hier einen Friseursalon betreibt, sagt, dass seine Kunden heute zur einen Hälfte Tschechen sind, die andere Hälfte sind Vietnamesen.“

Filip Rambousek:
"Gemeinsam mit Ihren Kollegen von Sapa Trip veranstalten Sie Führungen durch die Marktanlage für die breite Öffentlichkeit. Was ist das Ziel? Was wollen Sie den Besucherinnen und Besuchern mit auf den Weg geben?"

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Sapa Trip ist ein soziales Projekt. Wir wollen Vorurteile und Barrieren abbauen und das Areal Sapa so vorstellen, wie es wirklich ist. Unsere erfahrenen Guides führen die Gruppen durch das gesamte Handels- und Kulturzentrum. Im Preis inbegriffen ist auch eine Verkostung vietnamesischer Spezialitäten. Wir wollen Leuten von außerhalb zeigen, wie das Sapa funktioniert, was es hier alles zu sehen gibt, aber auch, wie die vietnamesische Minderheit in Tschechien lebt. Die Guides berichten den Teilnehmern der Touren deshalb auch von ihrem eigenen Privatleben. Sie erzählen, was es für sie bedeutet, der sogenannten zweiten Generation von Vietnamesen in Tschechien anzugehören, also einer Gruppe von Menschen, die zwar vietnamesische Wurzeln hat, aber in Tschechien geboren wurde.“

Filip Rambousek:
„Wie verändern sich die Beziehungen zwischen der vietnamesischen Minderheit und dem Rest der Gesellschaft? Sind Sie selbst noch immer mit Vorurteilen konfrontiert? Oder haben Sie in den vergangenen Jahren in diesem Bereich eine Besserung wahrgenommen? Wie ist eigentlich Ihr Leben hier in Tschechien?“

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Ich persönlich denke schon, dass es sich gebessert hat – vor allem in den Großstädten, die sozial deutlich vielfältiger sind und deren Einwohner oft einen höheren Bildungsstand haben. Wenn man die Menschen von nebenan fragt, wird die Mehrheit sagen, dass die Vietnamesen in Tschechien gut integriert seien und es keine Probleme mit ihnen gebe. Das heißt aber nicht, dass die Vorurteile gegenüber der vietnamesischen Minderheit komplett ausgeräumt sind. Wenn wir beispielsweise Werbung für Sapa Trip machen, taucht fast immer irgendwo ein vorurteilsbehafteter Kommentar auf. Es heißt dann, dass die Vietnamesen in Tschechien keine Steuern bezahlen, dass sie sich durch illegale Aktivitäten bereichern würden und so weiter. Diese Stereotype treten leider immer wieder auf. Aber eine Besserung der Lage nehme ich dennoch wahr. Und es ist auf jeden Fall nicht so extrem wie in der Vergangenheit, als die Angehörigen der vietnamesischen Minderheit zum Ziel rassistisch motivierter Übergriffe wurden. In dieser Hinsicht ist die Lage also besser.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Heute bewertet die Mehrheit der Menschen in Tschechien das Zusammenleben mit der vietnamesischen Minderheit als sehr gut. Dies zeigen auch die aktuellen soziologischen Daten. Dennoch würden viele Tschechinnen und Tschechen einen gewissen Abstand zur vietnamesischen Community bewahren, meint Ivan Cuker vom Meinungsforschungsinstitut Median:"

Ivan Cuker (übersetzt ins Deutsche):
„95 Prozent der jungen Leute würde es nichts ausmachen, wenn ein Vietnamese ihr Nachbar wäre. Über 90 Prozent der Befragten hätten auch kein Problem damit, eine Bluttransfusion von einer Person mit vietnamesischer Ethnie anzunehmen. Als wir aber gefragt haben, ob es die Leute stören würde, wenn ein Vietnamese der Bürgermeister ihrer Gemeinde werden würde, hat dies mehr als ein Viertel der jungen Leute bejaht.“

Filip Rambousek:
"Es gibt also immer noch Hindernisse, durch die es den Vertreterinnen und Vertretern der vietnamesischen Minderheit nicht möglich ist, sich voll in die tschechische Gesellschaft einzugliedern – und das trifft auch auf die sogenannte zweite Generation der Vietnamesinnen und Vietnamesen zu."

Ivan Cuker (übersetzt ins Deutsche):
„Menschen, die in Tschechien geboren wurden, hier ihr ganzes Leben verbringen, in die Schule gehen, hierzulande arbeiten und so weiter, haben alle Voraussetzungen, um ein vollwertiges Mitglied unserer Gesellschaft zu werden. Aber nur weil sie anders aussehen, finden sich einige, die ihnen dies verleiden wollen und diese Menschen als Bürger zweiter Kategorie ansehen. Und das ist ein großes Problem. Denn langfristig kann das zu erhitzten Situationen führen – dann nämlich, wenn sich die Angehörigen der ethnischen Minderheiten bewusst werden, dass sie sich noch so viel anstrengen können, um die formellen und informellen Kriterien zu erfüllen, um in die Mehrheitsgesellschaft aufgenommen zu werden – aber dass der Erfolg, das heißt die allumfassende Aufnahme, immer noch ausbleibt.“

Filip Rambousek:
"Es scheint, als ob die tschechische Gesellschaft immer noch nicht wahrhaben will, dass sie allmählich immer vielfältiger wird und dass zu ihr eben auch Menschen mit vietnamesischen Wurzeln, Romnja und Roma, Ukrainerinnen und Ukrainer und Personen vieler weiterer Minderheiten gehören. Der Politikwissenschaftler Jan Charvát:"

Jan Charvát(übersetzt ins Deutsche):
„Für die Tschechen ist es schlichtweg einfacher, eine monokulturelle und einfarbige Gesellschaft zu wollen. Und das gilt für alle Bereiche. Es geht nicht nur um Fragen der Ethnie, sondern etwa auch um Meinungen. Im Grunde stört uns oft, dass Menschen unterschiedliche Ansichten haben. Wir können gar keine wirklichen Debatten mehr führen, dies verlangt auch niemand von uns, und wir verlangen es auch nicht von uns selbst. Das Ergebnis all dessen ist diese eigenartige tschechische Engstirnigkeit. Sie hindert uns daran, uns in dem zu zurechtzufinden, was um uns herum passiert, und adäquat darauf zu reagieren. Meiner Meinung nach geht es also nicht nur um die Haltung gegenüber Minderheiten. Es ist ein umfassenderes Problem.“

Filip Rambousek:
"Seit 2015 hat sich die Aufmerksamkeit der Medien und der rechtsextremen Szene verlagert. Vereinfacht ließe sich sagen, dass man sich nun nicht mehr auf die Romnja und Roma, sondern auf Geflüchtete fokussiert. Dennoch stehen die Angehörigen von Minderheiten immer noch vor sozialen Barrieren. Was müsste sich ändern, damit das Zusammenleben besser funktioniert? Die Historikerin Renata Berkyová verweist unter anderem auf das ungleiche Machtverhältnis zwischen der Roma-Minderheit und dem Rest der Gesellschaft. Dieses Missverhältnis spiegle sich dann auch in der offiziellen Minderheitenpolitik des Staates wider…"

Renata Berkyová (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn man einmal darüber nachdenkt, was der Begriff ‚Integration der Roma‘ eigentlich bedeutet, entsteht der Eindruck, dass der Ball bei den Roma liegt, dass sie es sind, die sich anpassen sollten – ganz gleich, ob wir das nun ‚Assimilierung‘ nennen oder euphemistisch ausgedrückt ‚Integration‘. Es sind immer die Roma, die mehr lernen sollen, die sich mehr anstrengen müssen, damit sie eine bessere Wohnung bekommen können oder damit sie gebildeter sind. Diese Sichtweise ist meiner Meinung nach falsch. In Wirklichkeit muss das Ganze vielmehr ein gemeinsamer Prozess sein. Und das Problem dabei ist unter anderem, dass in den Ansätzen, die die Spitzenpolitiker und weitere Entscheidungsträger formulieren, die Roma nicht als gleichwertig gelten. Dies befördert unterschwellig die negative Haltung der Gesellschaft gegenüber Roma. Und es befeuert die Unterscheidung von ‚Wir‘ versus ‚Sie‘, denn es sind eben die Roma, die sich anpassen müssen.“

Filip Rambousek:
"Die Erfahrungen des tschechisch-vietnamesischen Unternehmers Tung Nguyen stimmen in vielerlei Hinsicht damit überein."

Tung Nguyen (übersetzt ins Deutsche):
„Ich würde mir wünschen, dass wir keinen Unterschied mehr machen zwischen Tschechen und Vietnamesen, sondern dass wir von ‚uns‘ sprechen. Für eine erfolgreiche Integration reicht es nicht, dass sich die Vietnamesen anpassen. Auch die tschechische Seite muss sich beteiligen und darf keine Angst haben, zu kommunizieren. Es ist nicht wahr, dass die Vietnamesen eine geschlossene Community bilden. Sie haben nur Orte und Möglichkeiten geschaffen, um sich zu treffen und zu unterstützen. Wohl jeder in Tschechien hat seinen vietnamesischen Supermarkt, in dem er regelmäßig einkaufen geht. In jedem dieser Märkte steht ein Verkäufer hinter der Kasse. Aber wie viele Tschechen haben ihn schon einmal gefragt, woher er kommt? Wie viele haben ihn schon einmal auf ein Bier eingeladen? So etwas kommt wohl eher selten vor. Auf den Dörfern ist das besser, dort spielen die vietnamesischen Verkäufer mit den anderen Menschen aus dem Ort Fußball und gehen mit ihnen in die Kneipe. Sie sind schon so etwas wie halbe Tschechen. Aber in den größeren Städten passiert das nicht. Die Tschechen haben immer noch ihre Vorurteile: dass der vietnamesische Verkäufer sie nicht verstehen wird, dass er keine Zeit hat und er in seiner eigenen Bubble lebt. Aber das stimmt gar nicht. Die tschechische Seite muss offener sein und bereit, die Vietnamesen anzunehmen und als normale Menschen zu sehen. Ich kenne tschechische Familien, die die vietnamesischen Kinder von Bekannten auf Ausflüge mitnehmen oder zu sich nach Hause einladen. Das ist für mich gelungene Integration. Keine Angst zu haben, den anderen anzusprechen, ihn irgendwohin einzuladen, sich mit ihm zu unterhalten, wie mit einem normalen Freund – und ihn eben als seinen Nachbarn zu sehen und nicht als ‚den Vietnamesen‘. Die Tschechen sind unnötig schüchtern, sie haben Angst, dass die Vietnamesen eine geschlossene Community sind. Aber das ist wirklich nicht so. Es mag schon sein, dass diese Menschen vielleicht einen Teil ihres Lebens in Vietnam verbracht haben, aber heute haben sie ihren Lebensmittelpunkt hier in Tschechien. Und genau deshalb sind die Menschen mit vietnamesischen Wurzeln auch offen für neue Kontakte.“

Musikalische Blende

Filip Rambousek:
"Das war der vierte Teil von „Sechsmal Tschechien“. In der nächsten Folge geht es darum, wie die Tschechinnen und Tschechen zur Europäischen Union stehen.

Bis zum nächsten Mal, Ihr Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Lucie Fuková verfügt über Berufserfahrung sowohl im gemeinnützigen als auch im staatlichen Sektor. Sie arbeitete als Roma-Beraterin bei der Stadtverwaltung von Pardubice. Sie absolvierte ein Praktikum bei der Europäischen Kommission und koordinierte danach das Europäische Jahr der Chancengleichheit für alle im Jahr 2007 im Auftrag der Europäischen Kommission und des Regierungsbüros. Sie arbeitete für Slovo 21 als Beraterin für die Schaffung einer Plattform von Roma-NGOs und für die Gemeinde Pardubice als Beauftragte für soziale Inklusion im Rahmen des lokalen Aktionsplans für die Entwicklung des Bildungswesens. Bei den Parlamentswahlen 2013 führte sie die Kandidatenliste der Grünen Partei in der Region Pardubice an. Im Dezember 2022 wurde sie zur ersten Regierungsbeauftragten für Angelegenheiten der Roma-Minderheit ernannt.

Quelle

Renata Berkyová ist Doktorandin am Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte an der Karlsuniversität in Prag. Ihre Forschung befasst sich mit der Kriegs- und Nachkriegsgeschichte der Roma und Sinti in der ehemaligen Tschechoslowakei. Sie konzentriert sich auf die Wahrnehmung des Holocausts aus der Perspektive verschiedener Akteure, die Bemühungen der Roma um die Anerkennung ihrer rassistischen Verfolgung sowie die Entschädigung von Überlebenden und das öffentliche Gedenken an die Opfer.


Frau Berkyová ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Prager Forum für die Geschichte der Roma am Institut für Zeitgeschichte der Tschechischen Akademie der Wissenschaften, wo sie ihr Forschungsprojekt Romani Voices for the Recognition of the Genocide (2022-2023) durchführt, das von der Bader Philanthropies Foundation unterstützt wird. Neben ihrer Forschungstätigkeit ist Frau Berkyová aktiv an einer Reihe von Aktivitäten im Zusammenhang mit Bildungsarbeit und dem Gedenken an den Holocaust beteiligt, u. a. als Mitglied der Arbeitsgruppe des Museums für Roma-Kultur in Brünn, die eine Ausstellung für das Holocaust-Mahnmal der Roma und Sinti in Lety bei Písek gestalten wird. Sie arbeitet auch mit dem Roma- und Sinti-Zentrum in Prag an Aktivitäten zum Thema Holocaust zusammen und ist Mitglied des Redaktionsteams der tschechischen wissenschaftlichen Zeitschrift Romani Studies.

Sie interessiert sich sehr für die Art und Weise, wie Roma in der Öffentlichkeit dargestellt werden, und schreibt gelegentlich journalistische Artikel über Roma-Themen. Als Teil eines dreiköpfigen Teams bei Romea TV drehte sie den Dokumentarfilm "LETY" (2019) über das Gelände des ehemaligen Konzentrationslagers in Lety bei Písek und die Schweinefarm, die während der kommunistischen Ära auf dem Gelände errichtet wurde und bis 2018 voll in Betrieb war.

Quelle

Ivan Cuker ist Sozialwissenschaftler und Forscher bei dem Meinungsforschungsinstitut Median. Er promoviert an der Karls-Universität in Prag am Institut für soziologische Studien der Fakultät für Sozialwissenschaften.

Manh Tung Nguyens Familie stammt ursprünglich aus Vietnam, er wurde jedoch in der Tschechischen Republik geboren und verbrachte seine Kindheit auf dem Marktplatz. In jungen Jahren verlor er seine engste Familie, was ihn dazu zwang, als Zeitungsverkäufer für sich selbst zu sorgen und später die Schule abzubrechen. Trotz dieser Umstände ist er heute Unternehmer und hat 12 Unternehmen und 4 gemeinnützige Organisationen mitbegründet.

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Dr. Jan Charvát ist ein tschechischer Politikwissenschaftler, der sich auf politischen Extremismus spezialisiert hat.

Er ist Assistenzprofessor an der Fakultät für Sozialwissenschaften, im Institut für politische Studien der Karlsuniversität, Lehrstuhl für Politikwissenschaft. In der Vergangenheit arbeitete er auch am Lehrstuhl für Politikwissenschaft und Philosophie an der Jan-Evangelista-Purkyně-Universität in Ústí nad Labem.

Er studierte Politikwissenschaft an der Fakultät für Sozialwissenschaften der Karlsuniversität und politische Soziologie an der Högskolan Dalarna in Schweden. Er promovierte an der Fakultät für Sozialwissenschaften mit einer Arbeit über die Formen des politischen Extremismus in der Tschechischen Republik nach 1989. Sein Spezialgebiet sind politischer Extremismus und verwandte Themen (Radikalisierung, extreme Rechte, extreme Linke, Rassismus und Subkulturen).

Er hat zahlreiche Bücher, Beiträge und Aufsätze zu diesem Thema veröffentlicht. Zum Thema Extremismus arbeitet er seit langem mit dem Non-Profit-Sektor zusammen zum Beispiel mit den Organisationen People in Need, Hate Free Culture und In IUSTITIA.

Quelle

Klára Šimáčková Laurenčíková ist eine tschechische Spezialpädagogin, ab Mai 2022 Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Petr Fiala und ab Februar 2023 Nationale Koordinatorin für die Anpassung und Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und stellvertretende Ministerin für europäische Angelegenheiten der Tschechischen Republik. 2009 bis 2010 war sie stellvertretende Ministerin für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und von 2011 bis 2022 Ombudsfrau der FAMU. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der tschechischen Grünen Partei.

Quelle

Folge 5: Tschechien und die EU

2024 ist es 20 Jahre her, dass Tschechien der Europäischen Union beigetreten ist. Dennoch sind die Tschechinnen und Tschechen zurückhaltend hinsichtlich der EU-Politik. Nur 28 Prozent aller Einwohnerinnen und Einwohner interessieren sich laut einer Studie von Eurobarometer für die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament. Damit ist Tschechien unter den Mitgliedsstaaten Schlusslicht. Warum identifizieren sich die Menschen hierzulande nicht mit der Europäischen Union? Weshalb denkt ein großer Teil der Bevölkerung, Tschechien sollte eine „zweite Schweiz“ werden? Warum wird in den tschechischen Medien in Zusammenhang mit der EU mitunter der Begriff „Diktat aus Brüssel“ benutzt? Und wie haben sich die Ansichten zur EU seit 2004 verändert? Antworten auf diese Fragen suchen wir mit dem Politikwissenschaftler Jiří Pehe, der Analytikerin Helena Truchlá, dem Sozialwissenschaftler Martin Buchtík, der Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Tschechien Monika Landmanová und mit Alexandr Vondra, der für die Bürgerdemokraten im Europaparlament sitzt.

Die Tschechische Republik ist der Europäischen Union am 1. Mai 2004 beigetreten, der bisher größten Erweiterung der Europäischen Union mit dem Beitritt von Estland, Zypern, Ungarn, Lettland, Litauen, Malta, Polen, der Slowakei und Slowenien.

Die Tschechische Republik beantragte 1996 den Beitritt zur Europäischen Union, die 1993 gegründet worden war. Die mehrjährigen Verhandlungen gipfelten 2003 in einem Referendum über den Beitritt und der Unterzeichnung des Beitrittsvertrags in Athen. Damit wurde die Tschechische Republik Teil des Europäischen Wirtschaftsraums, der den freien Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen und Kapital gewährleistet. Der Beitritt zum Schengen-Raum, d. h. die Abschaffung der staatlichen Grenzkontrollen, erfolgte 2007. Das Verfahren für die Einführung der gemeinsamen Währung ist noch nicht festgelegt worden. 

„Zurück nach Europa“ war eine der Hauptforderungen der Samtenen Revolution. Dieser Wunsch wurde auch erfüllt, zunächst durch den Beitritt Tschechiens zur NATO (1999) und später durch den Beitritt zur EU (2004). Im Juni 2003 stimmten mehr als 77 % der Wählerinnen und Wähler für den Beitritt zur EU. Seitdem schwankt die Stimmung. Der ehemalige Präsident Václav Klaus (2003–2013) verlieh den EU-Kritikerinnen und -Kritikern eine starke Stimme. 2009 weigerte er sich, seine Unterschrift unter den Lissabon-Vertrag zu setzen, womit er den EU-weit ausgehandelten Kompromiss zur Vertiefung der europäischen Einigung über Monate blockierte. Das Land baute sich ein Image eines Troublemakers in der EU, der immer mal wieder im Schulterschluss mit den sgn. Visegrad-Ländern agiert und blockiert. Noch immer ist Tschechien der Währungsunion nicht beigetreten. Eine tiefere Integration scheint nicht erwünscht zu sein. Die Anzahl der entschlossenen EU-Gegnerinnen und -Gegner in der Bevölkerung deckt sich jedoch fast genau mit der Anzahl der EU-Enthusiasten – und Vertreterinnen und Vertreter dieser zwei Pole sind insgesamt in einer Minderheit. Die Mehrheit der Bevölkerung (über 60 %) hat keine starke Meinung zur EU. Die EU ist für die Tschechen ein zweitrangiges Thema, das im Hintergrund der globalen Entwicklungen mitschwingt. 

So sank die Zufriedenheit mit der EU in der Wirtschaftskrise. Mit der Erholung der Wirtschaft kam aber kein erneuter Anstieg, sondern es folgte eine weitere Talfahrt unter anderem als Folge der MIgrationskrise. Einen Anstieg der Zufriedenheit mit der EU erlebte das Land in der Zeit seiner ersten EU-Ratspräsidentschaft und auch in den letzten Jahren seit 2016 und 2017. Eine Umfrage vom 2019 zeigte, dass sich nur ca. 10 % der Bevölkerung einen sofortigen Austritt aus der EU wünscht. Eine klare Mehrheit ist für weitere Mitgliedschaft in der EU, die aber reformiert werden sollte. Wichtige Meinungsbildner waren auch die zweite EU-Ratspräsidentschaft Tschechiens und die russische Aggression gegen die Ukraine, die die Zustimmungswerte für die EU deutlich verbesserten. Inwieweit diese Effekte von Dauer oder nur kurzfristig sind, wird sich erst zeigen. 

Die Regierung hatte über die letzten Jahre einen pragmatischen Kurs gegenüber der Europäischen Union eingeschlagen. Unter Andrej Babis hatte die Regierung einen zunehmend europakritischen Kurs verfolgt, mit der aktuellen Regierung unter Petr Fiala kehrt Tschechien zu einer europa-freundlichen Rhetorik zurück. Jedoch sind die Positionen in Kernfragen wie Klima und Migration nicht weit von seinem Vorgänger entfernt. Eine weitere Integration der Europäischen Union sehen viele im „eurorealistischen“ Teil der konservativen Regierungspartei ODS kritisch.

In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 hatte Tschechien die EU-Ratspräsidentschaft übernommen.  Diese hat viel positive Kritik erfahren: So konnten trotz der neu entstandenen Herausforderungen durch den Krieg in der Ukraine viele Projekte umgesetzt werden, unter anderem das Schengen-Visa-Verbot an Russen, sowie Ausbildungsmissionen für ukrainische Soldaten. Auch setzte sich die tschechische Ratspräsidentschaft für die erforderlichen Reformen im Hinblick auf die EU-Erweiterung ein. Die tschechische Regierung strebt nun eine aktivere Rolle innerhalb der EU an. So betrachtet sich Tschechien als eines der größeren osteuropäischen Länder, als Mittler zwischen den alten und neuen EU-Mitgliedern. Dazu gehört die Unterstützung der Ukraine sowie das Bestreben der EU-Erweiterung in Südosteuropa.

Quellen: 
Außenpolitik Tschechien bei der Landeszentrale für politische Bildung Baden Würtemberg 
Artikel auf cs.wikipedia.org​​​​​​​

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"In diesem Jahr feiert Tschechien 20 Jahre seit dem Beitritt zur Europäischen Union. Dennoch sind die Tschechinnen und Tschechen zurückhaltend hinsichtlich der EU-Politik. Nur 28 Prozent der Einwohnerinnen und Einwohner interessieren sich laut einer Studie von Eurobarometer für die bevorstehenden Wahlen zum Europäischen Parlament. Damit ist Tschechien Schlusslicht unter den Mitgliedsstaaten. Warum identifizieren sich die Menschen hierzulande nicht mit der Europäischen Union? Weshalb denkt ein großer Teil der Bevölkerung, Tschechien sollte eine „zweite Schweiz“ werden? Warum wird in den tschechischen Medien in Zusammenhang mit der EU mitunter der Begriff „Diktat aus Brüssel“ benutzt? Und wie haben sich die Ansichten zur EU seit 2004 verändert? Antworten auf diese Fragen suchen wir zusammen mit dem Politikwissenschaftler Jiří Pehe, der Analytikerin Helena Truchlá, dem Sozialwissenschaftler Martin Buchtík, der Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Tschechien, Monika Ladmanová, und mit Alexandr Vondra, der für die Bürgerdemokraten im Europaparlament sitzt.

Nach der Samtenen Revolution hatte die tschechische Gesellschaft zwei Hauptziele, um die kommunistische Ära hinter sich zu lassen. Martin Buchtík ist der Sozialwissenschaftler und leitet das Meinungsforschungsinstitut STEM:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„‚Freie Wahlen‘ und ‚Zurück nach Europa‘ – das waren die beiden Parolen, die sich durch das Jahr 1990 zogen. Die freien Wahlen wurden hierzulande schon zu Beginn der 1990er Jahre eingeführt. Nebenbei sei erwähnt, dass die Wahlen bis heute eines der wenigen Dinge sind, deren Legitimität die tschechische Gesellschaft überhaupt nicht anzweifelt. 2004 sind wir dann zurück nach Europa gekommen.“

Filip Rambousek:
"Im Mai 2004 wurde Tschechien gemeinsam mit neun weiteren Ländern Mitglied der Europäischen Union. Wie aber der Politikwissenschaftler Jiří Pehe betont, hatte die EU bereits vor 2004, während des Beitrittsprozesses, einen großen Einfluss auf die Modernisierung des tschechischen Staates. Tschechien musste nämlich die Beitrittskriterien erfüllen. Dies betraf vor allem den Stand der Demokratie im Land, die Marktwirtschaft, die Rechtsstaatlichkeit und die staatliche Verwaltung. In all diesen Aspekten habe Tschechien viel nachzuholen gehabt, betont Jiří Pehe, der die New York University in Prag leitet:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„In politischer Hinsicht wurde Tschechien für seine Haltung zu Minderheiten kritisiert. Brüssel übte Druck aus, damit vor allem die Stellung der Roma besser wurde. Im Bereich Wirtschaft ging es um die Annahme eines Gesetzes zu Bankrotten, um die Schaffung eines Kapitalmarktes und generell um ein transparentes Handelsumfeld. Im Hinblick auf die Rechtstaatlichkeit sollte die Reform der Justiz abgeschlossen werden, mit der schon zu Beginn der 1990er Jahre begonnen wurde. Erwartet wurde auch eine Dezentralisierung der Macht. Die Forderungen im Bereich staatliche Verwaltung bezogen sich vor allem auf ein Gesetz zum öffentlichen Dienst, das mit den europäischen Standards in Einklang stehen sollte.“

Filip Rambousek:
"Die europäischen Institutionen sahen in allen Bereichen einen hinreichenden Fortschritt, und die Tschechische Republik kam einer EU-Mitgliedschaft damit immer näher. Die Beitrittsabsichten mussten aber noch durch ein Referendum bekräftigt werden."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Gegen Ende des Jahres 2002 hatte Tschechien den Beitrittsprozess abgeschlossen, im Juni 2003 fand dann das Referendum statt. Und in dieser Zeit tauchten in der Politik hierzulande auch die ersten ernstzunehmenden eurokritischen Stimmen auf. Vor allem sind dabei Václav Klaus und sein Umfeld zu nennen. Er war zunächst Premier und ab 2003 tschechischer Staatspräsident. Klaus traute sich zwar noch nicht, gegen einen EU-Beitritt zu argumentieren, und er forderte die Menschen auch nicht dazu auf, im Referendum dagegen zu stimmen. Später gestand er aber ein, dass er nicht für den Beitritt gestimmt hatte. In diesem Moment begann sich ein negativer und zugleich utilitaristischer Blick auf die Mitgliedschaft zu entwickeln. Später hat sich dieser Ansatz in Tschechien leider stark durchgesetzt, und dies geht gerade auf Václav Klaus und sein Team zurück. Sie versuchten den Beitrittsprozess aus buchhalterischer Sicht zu bewerten. Sie zählten auf, was man gewinne und was man verliere, wobei permanent hervorgehoben wurde, was durch eine EU-Mitgliedschaft alles verloren ginge. Dieser Ansatz vernachlässigte jedoch völlig die politische und philosophische Dimension einer Mitgliedschaft, die genauso wichtig war – wenn nicht sogar wichtiger.“

Filip Rambousek:
"Trotz manchen euroskeptischen Stimmen sprachen sich die tschechischen Bürgerinnen und Bürger in Referendum eindeutig für einen Beitritt zur EU aus. Mehr als 77 Prozent der teilnehmenden Wählerinnen und Wähler votierten dafür. Dieses Ergebnis muss aber die tatsächliche Stimmung im Land nicht unbedingt wiedergegeben haben, denn ein Teil der Gegnerinnen und Gegner der europäischen Integration blieb vermutlich zuhause – die Wahlbeteiligung lag nämlich bei nur rund 55 Prozent. Der Soziologe Martin Buchtík glaubt jedoch, dass das Ergebnis wohl kaum anders ausgefallen wäre, wenn mehr Bürgerinnen und Bürger zu den Urnen gegangen wären. Die Tschechinnen und Tschechen wollten also in die EU. Und damit wurde ein wichtiges Ziel der Samtenen Revolution realisiert."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Als das dann erledigt war, haben wir uns aber nicht weiter damit beschäftigt. Die Politiker und auch der Rest der Gesellschaft setzten sich nicht mehr mit der weiteren Ausrichtung unseres Landes auseinander. Wir wurden Mitglied der EU, damit waren wir ‚zurück in Europa‘, und diesen Punkt konnten wir somit abhaken. Die EU geriet damit hierzulande in Vergessenheit.“

Filip Rambousek:
"Auch dies ist vielleicht einer der Gründe dafür, warum Tschechien seit Langem zu den euroskeptischsten Staaten zählt. Die Menschen hierzulande würden der EU nur wenig Vertrauen schenken, erläutert Martin Buchtík:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Wir Tschechen haben oft nicht das Gefühl, in der EU etwas bewirken zu können. Wirklich viele hierzulande denken, dass ‚über uns, ohne uns‘ entschieden wird – also fast schon so wie beim Münchner Abkommen von 1938. Wir wissen nicht, wie die EU funktioniert, und auch nicht, was uns die Mitgliedschaft eigentlich bringt. In unseren Erhebungen der vergangenen etwa zehn Jahre zeigt sich, dass die meisten Menschen in Tschechien die EU mit Kleinigkeiten in Verbindung bringen. Jeder erinnert sich noch daran, dass die Gurken gerade sein sollen und die Bananen krumm und dass dies die Europäische Union angeordnet hat. Im Grunde sind das Anekdoten. Aber es sind gerade diese Anekdoten, die die Menschen in Tschechien am häufigsten mit der EU in Verbindung bringen: Energiesparlampen, die Leistung von Staubsaugern, und dass der in Tschechien produzierte Rum nicht mehr ‚Rum‘ heißen darf. Es gibt etliche dieser Mythen. Und genau deshalb stören sich die Menschen in Tschechien an der Europäischen Union – weil sie sich angeblich nur mit Nebensächlichkeiten beschäftigt.“

Filip Rambousek:
"Obwohl Tschechien durch die Mitgliedschaft in der EU und in der Nato politisch und militärisch fest in westlichen Strukturen verankert wurde, sei sich die Gesellschaft hierzulande mitunter immer noch nicht ganz sicher, wohin sie gehören wolle, meint Buchtík:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Etwa 45 Prozent der Menschen in Tschechien sagen, sie wollen zum Westen gehören, was eng mit der EU-Mitgliedschaft verbunden ist. Rund drei bis vier Prozent wollen zum Osten gehören. Und der Rest will eine zweite Schweiz sein, eine Brücke zwischen Ost und West. Das ist in diesem Teil Europas allerdings nichts Ungewöhnliches. Die Leute in der Slowakei, in Ungarn oder in Serbien sagen das Gleiche. Spannend ist aber, dass sich die Vorstellung von Tschechien als ‚zweiter Schweiz‘ hierzulande bereits in der Zwischenkriegszeit stark aufkam. Es ist ein Leitmotiv, das sich durch unsere Geschichte zieht. Mittlerweile ist es so weit gekommen, dass die Schweiz für die Tschechinnen und die Tschechen das zweitbeliebteste Land ist – gleich nach der Slowakei. Dabei wissen wir über die Schweiz im Allgemeinen nur, dass die Natur dort schön ist, wie auch in Tschechien, und dass dort Kühe weiden, die manchmal auch lila sind, aus deren Milch sich hervorragender Käse und großartige Schokolade herstellen lassen. Es gibt dort Banken, womöglich sogar Goldschätze, und es werden dort teure Uhren hergestellt. Und das war es dann aber auch schon mit unseren Kenntnissen über dieses Land.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Die jeweiligen Ansichten über die geopolitische Stellung Tschechiens überschneiden sich in gewisser Hinsicht mit der Haltung der tschechischen Bevölkerung zur Europäischen Union. Eine westliche, proeuropäische Haltung präferieren rund 40 Prozent der Tschechinnen und Tschechen, wobei etwa ein Viertel für eine Vertiefung der europäischen Integration ist. Weitere 20 Prozent haben keine Meinung zur EU – entweder weil sie sich nicht im Informationsdschungel orientieren können, oder weil sie sich nur um ihr eigenes Leben kümmern. Die verbleibenden 40 Prozent sind Kritiker der EU. Laut Sozialwissenschaftler Buchtík sind dies vor allem Menschen, die finanziell nicht gut gestellt sind und die die innenpolitischen Veränderung nach 1989 kritisch beäugen."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Diese 40 Prozent unterteilen sich in 30 Prozent Gegner und 10 Prozent radikale Gegner, die entweder sehr engagiert sind oder aber gänzlich resigniert haben. Ein Teil von ihnen steht unter dem Einfluss russischer Propaganda. Aber generell ist diese Gruppe sehr vielfältig. Man kann nicht behaupten, dass es eine geschlossene, ausschließlich prorussische Gruppe ist. Oftmals handelt es sich um ältere Leute mit wirtschaftlichen Problemen. Zwei Fünftel der erwachsenen Menschen in Tschechien fahren zudem nicht ins Ausland. Sie haben dafür entweder kein Geld, bringen nicht die nötigen Sprachkenntnisse mit oder werden durch Krankheiten daran gehindert. Für diese Menschen sind Vorteile wie Reisefreiheit, Roaming oder grenzüberschreitender Warenverkehr nur abstrakte Begriffe, mit denen sie nicht viel anfangen können.“

Filip Rambousek:
"Das geringe Vertrauen eines Teils der tschechischen Gesellschaft in die EU hängt aber nicht nur von sozioökonomischen Faktoren ab, sondern geht auch auf die Haltung einiger hochrangiger Politikerinnen und Politiker zur europäischen Integration zurück:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Es gab hier keine starken Fürsprecher, die erklärt haben, weshalb eine Mitgliedschaft in der EU für uns nutzbringend ist. Stattdessen war da Staatspräsident Václav Klaus, der die Europäische Union sehr kritisch gesehen hat. Das zeigte sich etwa bei der Ratifizierung des Vertrags von Lissabon, den Klaus lange Zeit nicht unterschreiben wollte. In Tschechien wurde keine ausgewogene Debatte geführt. Es fehlte eine Stimme, die gesagt hätte, dass es wichtig ist, in der EU zu sein. Das war zwar allgemeine Meinung, aber in Wirklichkeit erhob niemand seine Stimme in diesem Sinn.“

Filip Rambousek:
"Eine der wichtigsten proeuropäischen Stimmen hierzulande war nach der Samtenen Revolution zweifellos der demokratisch gewählte Staatspräsident Václav Havel. Ab 2003, als er von Václav Klaus im Amt beerbt wurde, ging sein Einfluss auf die öffentliche Meinung aber zurück. Mit dem EU-Beitritt seien in Tschechien auf einmal mehrere prominente Eurokritikerinnen und Eurokritiker aufgetaucht, meint der Politologe Jiří Pehe:"

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Obwohl wir freiwillig der EU beigetreten sind und uns noch dazu sehr um eine Mitgliedschaft bemüht haben, stellten zahlreiche Politiker die EU in eine Reihe mit jenen Großmächten, mit denen Tschechien in der Vergangenheit unangenehme Erfahrungen gemacht hat – also Österreich-Ungarn, später Deutschland und zuletzt die Sowjetunion. Politiker wie Václav Klaus verglichen die Europäische Union sogar mit dem Rat für gegenseitige Wirtschaftshilfe, einem der Machtinstrumente, mit dem die Sowjetunion die Wirtschaft der sozialistischen Staaten unter ihre Kontrolle bringen wollte. Das beweist natürlich ein komplettes Missverständnis und eine Fehlinterpretation dessen, was europäische Integration in Wirklichkeit ist. Dennoch konnte diese Auffassung in Tschechien Wurzeln schlagen. Die meisten Menschen wissen nämlich nicht wirklich viel über die Funktionsweise der EU und bilden sich ihre Meinung auf Grundlage dessen, was die politische Führungsriege verlautbaren lässt.“

Filip Rambousek:
“Die gesamte europäische Gesetzgebung wird dabei in Anwesenheit von Vertreterinnen und Vertretern aller Mitgliedsstaaten verhandelt und verabschiedet. Das Problem besteht aber darin, dass die meisten der tschechischen Politikerinnen und Politiker den Verhandlungen in der EU lange Zeit zurückhaltend gegenüberstanden. An Sitzungen in Brüssel teilzunehmen hätten viele Vertreter Tschechiens oft als unangenehme Pflicht gesehen und nicht als Möglichkeit, europäische Politik mitzugestalten, glaubt Pehe:”

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien hat nie gelernt, in der EU so zu handeln, dass hinterher nicht das Gefühl aufkommt, die Politik wäre ein Diktat von oben, sondern dass wir uns als aktive Mitglieder der Union fühlen, wir alle an einem Tisch sitzen und mit unseren Partnern verhandeln können. Dieser passive Zugang hat sich vor allem in den ersten Jahren unserer Mitgliedschaft gezeigt, teilweise gibt es ihn aber auch heute noch.“

Filip Rambousek:
“Den verzerrten Blick auf die EU reproduzieren in gewisser Weise auch einige tschechische Medien. Selbst in der seriösen Presse tauchen regelmäßig Schlagzeilen auf wie „Brüssel hat befohlen“ oder „Brüssel hat verboten“, ohne aber die Teilnahme tschechischer Vertreterinnen und Vertreter an den Verhandlungen herauszustellen oder die Rolle der einzelnen EU-Institutionen. Laut Helena Truchlá, Analytikerin für europäische Angelegenheiten im deutschen Bundestag und ehemalige Journalistin, liegt das auch an der Struktur der Redaktionen in tschechischen Medien. Diese sind nämlich oft in innen- und außenpolitische Abteilungen unterteilt."

Helena Truchlá (übersetzt ins Deutsche):
„EU-Themen werden von der außenpolitischen Abteilung bearbeitet. Dort läuft die Berichterstattung aber ein wenig anders ab. Man verlässt sich dort viel stärker auf Agenturmeldungen, es gibt weniger Freiheit für eigene Themen und wenig Raum dafür, selbst an die Quellen zu gehen, Informationen aus erster Hand zu bekommen und herauszufinden, worum es wirklich bei dem jeweiligen Thema geht. All diese Zugänge sind dabei in den Inlandsredaktionen Gang und Gäbe. Ich denke, es würde helfen, wenn die tschechischen Politiker die Europapolitik so angehen würden wie die Innenpolitik – das heißt zum Beispiel, dass sie aktiver und regelmäßiger an Treffen auf Ministerebene teilnehmen und angemessen darüber die Medien und die Öffentlichkeit informieren. Darin sehe ich noch ein großes Defizit. Durch Schritte in diese Richtung könnten europäische Themen wieder mehr in die innenpolitischen Redaktionen der tschechischen Medien gelangen. Und dadurch würde mehr und besser über die EU-Politik berichtet. Ich will damit gar nicht die Journalisten kritisieren, die über auswärtige Themen berichten. Es ist schlichtweg eine Frage der Kapazitäten. Die Redaktionen für Inneres sind personell zumeist einfach sehr viel stärker besetzt.“

Filip Rambousek:
“Weiterhin tragen die Medien hierzulande also eher zu einem verzerrten Bild der EU bei - als sei diese etwas Auswärtiges und Entferntes, ein anonymes „Brüssel“, das Tschechien unsinnige Vorschriften aufzwingt. Seit Langem die stärkste euroskeptische Partei sind die Bürgerdemokraten, die von Václav Klaus gegründet wurden. 2009, als Tschechien den Vorsitz im Rat der Europäischen Union innehatte, saßen die Bürgerdemokraten gerade in der Regierung. Tschechien stellte sich bei der Ratspräsidentschaft nicht nur mit einem selbstbewussten Slogan vor, der wortwörtlich „Wir versüßen es Europa“ lautete. Teil des Konzepts war auch ein provokatives Kunstwerk, das im Januar 2009 feierlich am Sitz des Rates der Europäischen Union in Brüssel enthüllt wurde. Heute ist das Kunstwerk im westböhmischen Plzeň / Pilsen zu sehen.”

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
„Ich befinde mich im Techmania Science Center in Pilsen – einem populärwissenschaftlichen Bildungszentrum und Museum – und stehe vor der riesigen Plastik mit dem Namen Entropa. Geschaffen hat sie der tschechische Künstler David Černý, und zwar anlässlich der EU-Ratspräsidentschaft der Tschechischen Republik im Jahr 2009. Bei mir ist Jiří Chroust, der Pressesprecher des Techmania Science Centers. Guten Tag.“

Jiří Chroust (übersetzt ins Deutsche):
„Guten Tag.”

Filip Rambousek:
„Zunächst einmal ist jeder Gast hier wohl überwältigt von den Dimensionen dieser Plastik. Wie groß ist sie? Und wie haben Sie diese überhaupt ins Gebäude bekommen? Man sieht, dass sie hier nur gerade so Platz hat.“

Jiří Chroust (übersetzt ins Deutsche):
„Die Plastik Entropa ist 16,5 Meter hoch und ebenso breit. Wenn man nach oben schaut, sieht man, dass die Decke unserer Ausstellungshalle gar nicht hoch genug ist. Wenn wir nicht die Lichtöffnungen im Dach hätten, die den Raum etwas größer machen, könnten wir dieses Kunstwerk wahrscheinlich gar nicht unterbringen.“

Filip Rambousek:
„Es ist eigentlich ein großer Spritzguss-Bausatz, der so aussieht, als ob man die einzelnen Teile herauslösen könnte. Und jedes Teil stellt einen Mitgliedsstaat der Europäischen Union dar.“

Jiří Chroust (übersetzt ins Deutsche):
„Das haben Sie treffend beschrieben, denke ich. Vielleicht erinnert sich der eine oder andere Zuhörer an den Plastikmodellbau, bei denen die einzelnen Teile aus einem Rahmen herausgetrennt wurden. Im Fall von Entropa besteht dieser Modellbausatz aus den damaligen 27 Mitgliedstaaten der Europäischen Union zusammen.“

Filip Rambousek:
„Die Mitgliedstaaten werden zumeist mit Hilfe von Stereotypen charakterisiert. Deutschland zum Beispiel wird als dichtes Autobahnnetz mit kleinen Autos dargestellt, die sich gelegentlich in Bewegung setzen. Oben rechts ist ein riesiger Karton mit der Aufschrift Ikea zu sehen, der Schweden repräsentiert, und direkt darunter befindet sich Bulgarien, auf wenig schmeichelhafte Weise dargestellt als eine Reihe von Hocktoiletten, die auf Tschechisch türkische Klos heißen. Die Vertreterinnen und Vertreter Bulgariens waren darüber verständlicherweise nicht sehr erfreut. Damals gab es sogar einen kleinen diplomatischen Streit. Welches der 27 Teile des Puzzles hat Sie am meisten angesprochen? Haben Sie irgendwelche Favoriten?“

Jiří Chroust (übersetzt ins Deutsche):
„Einen Favoriten habe ich nicht, aber ich kann Ihnen sagen, welches dieser Länder uns am meisten Probleme gemacht hat – das war Österreich. Wie Sie hier unten rechts sehen, ist Österreich als grünes Land abgebildet, aus dem die Kühltürme eines Kernkraftwerks herauswachsen. Aus diesen Türmen entweicht gelegentlich Rauch, und der hat ständig unsere Brandmelder aktiviert. Wir mussten also die Rauchmenge so regulieren, dass die Sensoren sie nicht mehr wahrgenommen haben.“

Filip Rambousek:
"Lassen Sie uns noch ergänzen, dass Großbritannien mit einem leeren Kasten in der oberen linken Ecke der Skulptur vertreten ist – eine Art Omen für den Brexit. Das ganze Projekt war ein großer Schwindel von Seiten David Černýs. Laut der ursprünglichen Vereinbarung sollten sich an Entropa insgesamt 27 Künstlerinnen und Künstler beteiligen, einer aus jedem Mitgliedsstaat. Selbst Alexandr Vondra, der Hauptkoordinator der tschechischen Ratspräsidentschaft von den Bürgerdemokraten (ODS), wusste bis zum letzten Moment nicht, dass nur Černý selbst und ein paar seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die riesige Skulptur geschaffen hatten. Und wie erinnert sich David Černý mit dem Abstand von fünfzehn Jahren an Entropa?"

David Černý (übersetzt ins Deutsche):
„Es war eine große Herausforderung. Zeitweise war es großartig, aber manchmal war ich mir nicht sicher, ob Alexandr Vondra mich nicht fertig machen würde – ich sollte aber dazusagen, dass wir befreundet sind, ich übertreibe also ein wenig. Im Nachhinein betrachtet hat es ziemlich viel Spaß gemacht. Der wohl lustigste Moment war, als bei der Enthüllungszeremonie von Entropa ein bulgarischer Journalist vor mehreren tausend Gästen fragte, was wir tun würden, wenn Bulgarien protestieren würde. Wir antworteten, dass es in diesem Fall möglich sei, den Teil der Skulptur, auf dem Bulgarien abgebildet ist, zu verdecken. Dann ergriff ein britischer Journalist vom Guardian das Wort und fragte, was wir tun würden, wenn Großbritannien ebenfalls protestieren würde. Ich erinnere daran, dass Großbritannien bei Entropa absichtlich nicht vorkommt. Daraufhin brachen alle in schallendes Gelächter aus. Tausende Menschen lachten und klatschten. Am Ende wurde es also eine riesige Party, und das war gut so. Als wir ankamen, hatten wir aber keine Ahnung gehabt, was passieren würde. Ob nicht zum Beispiel Pflastersteine fliegen. Zuvor hatte uns Alexander Vondra nämlich einen Haufen Droh-E-Mails von allen möglichen europäischen Staatsmännern auf den Tisch geknallt."

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Das provokante Kunstwerk, das sowohl positive als auch negative Reaktionen hervorrief, passt gut zum allgemein etwas peinlichen Charakter der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft im Jahr 2009. Der Politikwissenschaftler Jiří Pehe bewertet die erste tschechische Ratspräsidentschaft eher kritisch. Seiner Meinung nach entschied sich die damalige Regierung für eine unglückliche Strategie, die in dem Slogan „Wir werden es Europa versüßen“ ihren sinnbildlichen Ausdruck fand."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„‚Wir wissen alles besser, und jetzt, wo wir die Ratspräsidentschaft inne haben, werden wir Ihnen alles erklären.‘ So klang das damals. Am Ende stürzte die Regierung noch während des EU-Vorsitzes, und die Tschechische Republik wankte dem Ende ihrer eigentlich erfolglosen Präsidentschaft eher entgegen.“

Filip Rambousek:
"Die zweite tschechische Ratspräsidentschaft, die in die zweite Jahreshälfte 2022 fiel, nahm bereits einen viel besseren Verlauf. Unter anderem, weil sich vier von fünf Parteien der aktuellen Regierungskoalition eindeutig pro-europäisch positionieren."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Die liberal-konservative TOP 09, die Christdemokraten und die liberal-konservative Bürgermeisterpartei sind Teil der Fraktion der Europäischen Volkspartei, die zu den treibenden Kräften der europäischen Integration zählt. Die liberal-progressiven Piraten gehören zur Fraktion der Grünen, die ebenfalls eindeutig pro-europäisch eingestellt ist. Und dann sind da noch die Bürgerdemokraten, die 2009 beschlossen haben, die Europäische Volkspartei zu verlassen und stattdessen den Europäischen Konservativen und Reformisten beizutreten. Diese Fraktion wurde lange Zeit von den britischen Konservativen dominiert, die den Austritt des Vereinigten Königreichs aus der Europäischen Union anstrebten. Nach dem Brexit ist der Hauptpartner der Bürgerdemokraten in dieser Fraktion die polnische Partei ‚Recht und Gerechtigkeit‘.“

Filip Rambousek:
"Es ist daher nicht überraschend, dass es in der derzeitigen Regierungskoalition keinen Konsens über eine vertiefte europäische Integration und die Einführung des Euro in Tschechien gibt. Während die vier kleineren Parteien dafür wären, seien die Bürgerdemokraten nach wie vor zurückhaltend, sagt Jiří Pehe."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Die Wirtschaftskrise der letzten Jahre, die mit der Corona-Pandemie ihren Anfang nahm und durch den Krieg in der Ukraine, die steigenden Energiepreise und die Inflation weiter verschärft wurde, hat deutlich gezeigt, dass es für die Tschechische Republik wirtschaftlich vorteilhafter wäre, Teil der Eurozone zu sein. Diese Ansicht findet heute sogar innerhalb der Bürgerdemokraten selbst starken Widerhall. Aber es ist eine Art Relikt aus der Zeit von Václav Klaus, dass sich die Bürgerdemokraten dazu zwingen, im Hinblick auf eine tiefere europäische Integration zurückhaltend zu bleiben.“

Filip Rambousek:
"Die stärkste Oppositionspartei ist derzeit die Partei Ano von Ex-Premier Andrej Babiš. Ursprünglich hatte sie sich als pro-europäische und liberale Kraft profiliert, ist aber in den letzten Jahren auf national-konservative Positionen umgeschwenkt. Trotzdem ist sie weiterhin Mitglied der liberalen Fraktion im Europäischen Parlament."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Ob die Tschechische Republik pro-europäisch sein wird, hängt in hohem Grad von der Ano ab. Und zwar ob sich die Partei auf die euroskeptischen Positionen zubewegt, die bisher vor allem von den Bürgerdemokraten vertreten wurden, oder ob sie zumindest teilweise für eine weitere Integration offenbleibt.“

Filip Rambousek:
"Am äußersten Rand des politischen Spektrums steht die Partei „Freiheit und direkte Demokratie“ von Tomio Okamura, die programmatisch antieuropäisch ist und sich offen für den Austritt der Tschechischen Republik aus der EU ausspricht. Die Unterstützung für diese rechtsextreme Partei lag in den vergangenen Jahren bei etwa zehn Prozent. Nach Ansicht des Soziologen Martin Buchtík haben vor allem zwei große Krisen aus jüngster Zeit dazu beigetragen, dass europaskeptische Einstellungen hierzulande wieder populär geworden sind:"

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Die globale Wirtschaftskrise und die Krise in der Eurozone haben nicht nur zu einer Verunsicherung gegenüber dem Euro geführt, die mit den Gerüchten über die Tilgung der griechischen Schulden zusammenhängt, sondern auch zu einer Verunsicherung über die zukünftige Ausrichtung der Tschechischen Republik. Im Jahr 2013 stürzte die damalige Mitte-Rechts-Regierung, die gleichzeitig die unbeliebteste Regierung in der modernen tschechischen Geschichte war. Und natürlich hatte auch die sogenannte Migrationskrise große Auswirkungen, obwohl sie sich in Tschechien nicht wirklich bemerkbar gemacht hat. Es gab fast keine Flüchtlinge hier. In diesem Zusammenhang lässt sich anekdotisch eine Umfrage erwähnen: 2016 stürzte die Popularität von Angela Merkel, die zuvor in den Augen der Tschechen ein außenpolitischer Star gewesen war, zeitweise unter die von Wladimir Putin ab. Das war ausschließlich eine Folge der sogenannten Migrationskrise.“

Filip Rambousek:
"Zur gleichen Zeit habe auch die Europäische Union einen vergleichbaren Popularitätsrückgang erlebt, ergänzt Martin Buchtík."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Wenn wir uns anschauen, wie die Menschen hierzulande in einem hypothetischen Referendum über den Austritt der Tschechischen Republik aus der Europäischen Union abgestimmt hätten, wissen wir, dass der kritischste Zeitraum um das Jahr 2015 herum war. Wäre zu diesem Zeitpunkt ein Referendum abgehalten worden, hätte die Tschechische Republik die EU wahrscheinlich verlassen."

Filip Rambousek:
"Martin Buchtík betont aber auch, dass es sich um eine hypothetische Frage handelt, die nur das Stimmungsbild der tschechischen Öffentlichkeit zum damaligen Zeitpunkt widerspiegelt. Hätte das Referendum tatsächlich stattgefunden, hätte es auch ganz anders ausgehen können. Eine gewisse kritische Distanz zur Europäischen Union zieht sich jedoch wie ein roter Faden durch die gesamte 20-jährige Geschichte der tschechischen EU-Mitgliedschaft. Laut Alexander Vondra, der für die Bürgerdemokraten im EU-Parlament sitzt, gibt es dafür tiefere historische Gründe."

Alexander Vondra (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische Erfahrung mit der Geschichte ist verbunden mit einem natürlichen Maß an Skepsis gegenüber visionären Großprojekten. Mit so etwas waren wir im Kommunismus konfrontiert, aber auch in vorhergehenden historischen Perioden, zum Beispiel während der nationalen Wiedergeburt. Am Ende gab es immer eine Konfrontation mit einer Realität, die diesen großen Plänen nicht standhielt. Deshalb halte ich es für wichtig, dass die Europäische Union ihre Pläne nicht zu idealistisch und utopisch gestaltet. Die Tschechen haben ihre eigenen historischen Erfahrungen, und solche Pläne werden ihnen immer verdächtig vorkommen. Manchmal werden Befürchtungen laut, dass die Tschechen die Europäische Union aufgeben werden. Ich glaube nicht, dass dies der Fall sein wird. Selbst wenn die Europäische Union in Schwierigkeiten geraten würde und sich aufzulösen drohte, werden die Tschechen zwar weiterhin motzen, aber sie werden bis zum letzten Atemzug treue Mitglieder bleiben – so wie sie auch der Habsburgermonarchie treu waren.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Trotz der reservierten Haltung eines Teils der tschechischen Öffentlichkeit gegenüber der Europäischen Union ist offensichtlich, dass die EU-Mitgliedschaft für die Tschechische Republik in vielerlei Hinsicht von Vorteil ist. Ganz oben stehen für den EU-Abgeordneten Vondra die fünf Grundfreiheiten:"

Alexander Vondra (übersetzt ins Deutsche):
„Der freie Verkehr von Personen, Waren, Dienstleistungen, Kapital und Informationen. Das ist etwas Großartiges für uns. Tschechien ist wie Deutschland ein exportorientiertes Land, das viel mehr produziert, als es bei sich verkaufen kann. Wir sind auf offene Märkte, auf Exporte, auf grenzüberschreitende Zusammenarbeit angewiesen. Diese Freiräume sind fantastisch. Wir dürfen sie nicht verlieren.“

Filip Rambousek:
"Erwähnt werden muss aber auch, dass Tschechien seit 20 Jahren Nettoempfänger von EU-Geldern ist, die in die Entwicklung von Bildung, Gesundheit, Verkehrsinfrastruktur und Umweltschutz geflossen sind, aber genauso in die Wirtschaft und die Beschäftigung. Dennoch war es lange Zeit nicht möglich, die tschechische Öffentlichkeit vom Nutzen der Europäischen Union zu überzeugen. Nach Ansicht von Martin Buchtík könnte dies auch mit der geopolitischen Lage der Tschechischen Republik zusammenhängen."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Im Gegensatz zu anderen Ländern des ehemaligen sozialistischen Blocks bedeutet die EU für uns nicht in erster Linie eine geopolitische Sicherheit – zumindest nicht so stark wie für die baltischen Staaten. Wir sehen sie auch nicht als großes wirtschaftliches Zugpferd. In der Tat verstehen wir uns lieber als eine Art Musterschüler des ehemaligen Ostblocks.“

Filip Rambousek:
"Das geringe Interesse der tschechischen Öffentlichkeit an der europäischen Politik lässt sich gut an der niedrigen Beteiligung an den Wahlen zum Europäischen Parlament ablesen. Im Jahr 2014 gingen lediglich 18 Prozent der Wählerinnen und Wähler zu den Urnen. Nur in der Slowakei lag die Beteiligung damals noch niedriger. Dazu die Analystin Helena Truchlá."

Helena Truchlá (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische politische Klasse hat sich die Europäische Union nie ganz zu eigen gemacht, sie nie als ihr eigenes Terrain betrachtet. Die Vorstellung, dass wir Europa sind und dass die Wahl zum Europäischen Parlament bedeutet, unsere Leute in unser demokratisches Gremium zu wählen, das uns dann in die Lage versetzt, unser Leben in ganz bestimmten Bereichen zu beeinflussen, hat sich nie durchgesetzt.“

Filip Rambousek:
"Monika Ladmanová leitet die Vertretung der Europäischen Kommission in Tschechien. Ihrer Meinung nach ist es nur eine Frage der Zeit, bis die Tschechinnen und Tschechen mit der Europäischen Union vertrauter werden und sie als ihre eigene Sache anerkennen."

Monika Ladmanová (übersetzt ins Deutsche):
„Es sind erst 20 Jahre vergangen. Das mag dem einen wenig erscheinen, dem anderen viel. Fest steht, dass wir hier mittlerweile eine Generation junger Menschen haben, die in die Europäische Union hineingeboren wurden. Sie stellen unsere Mitgliedschaft nicht mehr in Frage. Wenn ich zu Debatten mit Studenten gehe, muss ich mir immer bewusst machen, dass es für sie ganz automatisch so läuft. Für mich ist das noch nicht automatisiert. Darum habe ich manchmal Angst, dass etwas völlig Unvorhersehbares passieren könnte. Ich denke, dass es Zeit braucht. Der Beitritt zur Europäischen Union war für viele Menschen etwas völlig Neues. Ich würde also nicht so schwarzsehen. Wir müssen uns einfach daran gewöhnen, und das dauert eine gewisse Zeit. Nun sind wir im 20. Jahr, und vielleicht kommt es ja gerade da zu einem Durchbruch – so wie bei einem Heranwachsenden in der Familie. Der macht in diesem Alter auch eine bestimmte Veränderung durch, und viele Dinge werden ihm klar.“ 

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Zu den Dingen, die es zu ändern gilt, gehöre die passive Haltung einiger tschechischer Politiker bei Verhandlungen mit der EU, meint die Analystin Helena Truchlá."

Helena Truchlá (übersetzt ins Deutsche):
„Die tschechische Europapolitik ist sehr reaktiv. Die Politiker warten, bis ein Vorschlag auftaucht und diskutiert wird. Im Gegensatz dazu sind Länder wie die Niederlande oder Dänemark, die von der Größe her mit Tschechien vergleichbar sind, viel aktiver und haben es geschafft, sich eine solche Position in der Europäischen Union zu erarbeiten, dass sie, wenn ein neues Thema diskutiert wird, von Anfang an dabei sind und den Vorschlag beeinflussen können, bevor er in den komplizierten Abstimmungsprozess kommt.“

Filip Rambousek:
"In dieser Hinsicht hat sich in letzter Zeit eine deutliche Verbesserung bemerkbar gemacht. In der zweiten Hälfte des Jahres 2022 hatte die Tschechische Republik den Vorsitz im Rat der Europäischen Union inne. Und diesmal habe sie ihre Aufgabe sehr gut gemeistert, findet der Politikwissenschaftler Jiří Pehe."

Jiří Pehe (übersetzt ins Deutsche):
„Plötzlich waren wir nicht mehr in der Position, in der wir uns 2015 befanden, als die Migrationskrise ausbrach und wir uns gemeinsam mit den anderen Visegrád-Ländern in der Reihe der Verweigerer gegenüber allem, was aus Brüssel kam, wiederfanden. Das Wort Migration wurde damals zum Symbol für alles Falsche und politisch missbraucht. Während ihrer Präsidentschaft im Jahr 2022 hat die Tschechische Republik dagegen die Führung bei den Verhandlungen über die Reform der Migrationspolitik übernommen. Dies lag unter anderem daran, dass Tschechien aus dem Schatten der anderen Visegrád-Länder herausgetreten ist. Die Lage in Ungarn und Polen war dermaßen grenzwertig, dass Tschechien sich nicht länger als organischer Teil dieser Gruppe präsentieren konnte und damit begann, seine eigenen Interessen in der Europäischen Union deutlicher zu artikulieren. Der tschechische Premier Petr Fiala kritisierte die ungarische und polnische Ablehnung der Asylreform, während die tschechische Regierung dazu beitrug, diese Reform durchzusetzen.“

Filip Rambousek:
"Der jüngste EU-Ratsvorsitz habe das Image der Tschechischen Republik in Europa deutlich verbessert, bestätigt auch Monika Ladmanová, die Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in Tschechien."

Monika Ladmanová (übersetzt ins Deutsche):
„Die Tschechische Republik wird – vor allem nach der erfolgreichen Präsidentschaft im zweiten Halbjahr 2022 – als absolut zuverlässiger, vertrauenswürdiger und konstruktiver Partner wahrgenommen. Funktionsfähig und voll professionell. Tschechische Diplomatinnen und Diplomaten, die an den Vertretungen des Landes in Brüssel arbeiten, sind absolute Profis. Das Gleiche gilt natürlich auch für jene Tschechinnen und Tschechen, die direkt in den europäischen Institutionen arbeiten.“

Filip Rambousek:
"Doch nicht einmal die erfolgreiche Ratspräsidentschaft hat die Einstellung der tschechischen Bürgerinnen und Bürger gegenüber der Europäischen Union grundlegend verändert. Zwar hatte die russische Invasion in der Ukraine einen gewissen Einfluss, der zu einer verstärkten Wahrnehmung der EU und der NATO als Garanten für die Sicherheit führte. Die jüngsten Daten zeigen jedoch, dass dieser Effekt nur kurzfristig war. Das Vertrauen in die Europäische Union ist hierzulande sogar wieder deutlich gesunken, von 58 Prozent im Jahr 2022 auf 46 Prozent im Jahr 2023. Tschechinnen und Tschechen halten also weiterhin eine gewisse Distanz zur EU. Auch aus diesem Grund hätten sie nur eine unklare Vorstellung davon, wie die Zukunft der Union aussehen könnte, erläutert der Soziologe Martin Buchtík."

Martin Buchtík (übersetzt ins Deutsche):
„Die meisten Menschen in Tschechien glauben, dass die Europäische Union irgendwie reformiert werden sollte, dass sich etwas ändern sollte. Aber was, weiß keiner so genau, um diese Aufgabe sollen sich die Politiker kümmern. Es ist eines der wenigen Anliegen, die Tschechen und Tschechinnen den Politikern überlassen würden. Obwohl sie wollen, dass Tschechien Teil der EU bleibt. Gleichzeitig schenken sie Institutionen im Allgemeinen nicht viel Vertrauen, außer vielleicht dem tschechischen Verfassungsgericht. Für die meisten Menschen in Tschechien ist die Europäische Union weit weg und schwer fassbar. Deshalb haben sie auch eher eine oberflächliche Beziehung zu ihr. Trotzdem weckt das Thema Europäische Union manchmal starke Emotionen. Aber eine klare Meinung über ihre künftige Ausrichtung haben nur wenige Menschen in der Tschechischen Republik.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Damit ist der fünfte Teil des Podcasts „Sechsmal Tschechien“ am Ende. In der nächsten Ausgabe geht es um die Einstellungen der Tschechinnen und Tschechen zum Thema Flucht und Asyl. Bis zum nächsten Mal, Ihr Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Dr. Jiří Pehe ist Politikwissenschaftler und Schriftsteller. Er studierte Rechtswissenschaften und Philosophie an der Karls-Universität Prag, wo er im Jahr 1980 promovierte. Im September 1981 floh er aus der Tschechoslowakei über Jugoslawien nach Italien.
Nach einem kurzen Aufenthalt in einem Flüchtlingslager in der Nähe von Rom, wanderte er mit seiner Frau in die USA aus und wohnte in New York City. Dort wurde ihm politisches Asyl gewährt. Bis 1983 arbeitete er als Nachtwächter in einem Hotel. Er besuchte die School of International Affairs an der Columbia University in New York und promovierte im Jahr 1985. Von 1985 bis 1988 arbeitete er für Freedom House und schrieb unter anderem Texte für die New York Times.
Ab August 1988 arbeitete er als Analyst für das Forschungsinstitut von Radio Free Europe in München. Im November 1989 wurde er Leiter der Abteilung für Forschung und Analyse der Mitteleuropa Fragen. Nachdem Radio Free Europe im Jahr 1995 seinen Hauptsitz von München nach Prag verlegte, zog er zurück nach Tschechien. Vom 1995 bis 1997 arbeitete er als Direktor der Abteilung für Forschung und Analyse am Open Media Research Institute in Prag. Von 1997 bis 1999 war er Direktor der Politischen Abteilung der Kanzlei des tschechischen Präsidenten Václav Havel und später arbeitete er bis 2003 als präsidialer Berater für außenpolitische Fragen.
Seit 1999 leitet Jiří Pehe als Direktor die New York University in Prag. Er ist Mitglied des International Forum for Democratic Studies Research Council. Als politischer Beobachter und Analytiker kommentiert er für das tschechische Fernsehen und den Rundfunk sowie für internationale Medien aktuelle politische Entwicklungen und das Weltgeschehen.

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Helena Truchá war als Journalistin für Aktualne.cz, Hospodářské noviny und den MDR tätig. Ihre Schwerpunkte sind tschechische Außenpolitik, Migration, EU und digitale Gesellschaften. Truchlá studierte Politikwissenschaften an der Masaryk-Universität in Brünn. Aktuell arbeitet sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin für (Ost-)Europapolitik im Bundestag.

Dr. Martin Buchtík ist Sozialwissenschaftler und seit 2018 Direktor des analytischen Instituts STEM. Er konzentriert sich auf Themen im Zusammenhang mit der sich dynamisch verändernden Gesellschaft in einem breiteren Kontext und anderen Fragen wie öffentliche Meinungsbildung, Lebensqualität, Zusammenhalt und Ungleichheit. In der Vergangenheit leitete er das Zentrum für Meinungsforschung am Institut für Soziologie der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Er schloss sein Promotionsstudium an der Karlsuniversität mit Schwerpunkt auf soziologischer Forschungsmethodik ab.

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Monika Ladmanová ist seit Juli 2022 Leiterin der Vertretung der Europäischen Kommission in der Tschechischen Republik. Davor war sie seit 2014 Mitglied des Kabinetts von Věra Jourová, der heutigen Vizepräsidentin der Europäischen Kommission für Werte und Transparenz, und von 2014-2019 Kommissarin für Justiz, Verbraucherschutz und Gleichstellung.

Monika Ladmanová ist studierte Juristin mit langjähriger Erfahrung im Non-Profit-Sektor und in globalen Konzernen. Sie hat ihr gesamtes Berufsleben damit verbracht, europäische Werte zu fördern und im Bereich der europäischen Integration zu arbeiten.

Nach ihrem Studium an der UK Law School und der Columbia University New York arbeitete sie beim Tschechischen Helsinki-Komitee, einer gemeinnützigen Organisation, die sich für die Menschenrechte einsetzt. Anschließend war sie zehn Jahre lang im Vorstand des Open Society Fund Prague tätig und arbeitete an Projekten zur Stärkung der Demokratie, zur Beseitigung von Diskriminierung und zur Bekämpfung der Korruption. Danach arbeitete sie bei IBM Tschechien als Managerin für sozial nützliche Projekte.

Sie war im Vorstand mehrerer gemeinnütziger Organisationen in der Tschechischen Republik und im Ausland tätig und vertrat diese unter anderem bei der UNO in New York. Sie ist Autorin einer Reihe von Artikeln über Menschenrechte, Vielfalt und Gleichstellung der Geschlechter. Außerdem hat sie auf Konferenzen und internationalen Gipfeltreffen Vorträge zu diesen Themen gehalten.

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RNDr. Alexandr Vondra ist seit 2019 für die Bürgerdemokraten (ODS) Mitglied des Europäischen Parlaments. Während der Samtenen Revolution war er im November 1989 Gründungsmitglied des Bürgerforums (Občanské fórum) und deren Zeitung Informační servis, aus dem 1990 die Wochenzeitung Respekt hervorging. Von 1990 bis 1992 war er außenpolitischer Berater des letzten tschechoslowakischen Staatspräsidenten Václav Havel, von Juli 1992 bis März 1997 stellvertretender Außenminister der neu gegründeten Tschechischen Republik und von 1997 bis 2001 vertrat Vondra Tschechien als Botschafter in den USA. Zudem war er von 2006 bis 2012 tschechischer Senator, 2006–2007 Außenminister, 2007–2009 stellvertretender Premierminister und 2010–2012 Verteidigungsminister Tschechiens.

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David Černý ist ein tschechischer Bildhauer. Von 1988 bis 1994 studierte Černý im Kurt-Gebauer-Studio an der Akademie für Kunst, Architektur und Design in Prag und nahm 1995 und 1996 am unabhängigen Studienprogramm des Whitney Museums in New York teil. Bekanntheit erlangte Černý 1991, indem er einen sowjetischen Panzer rosa bemalte. Da das Denkmal für sowjetische Panzerbesatzungen zu dieser Zeit ein nationales Kulturdenkmal war, wurde sein ziviler Ungehorsam als Vandalismus angesehen und er wurde kurzzeitig festgenommen. Der Rosa Panzer steht jetzt im Eingangsbereich des Militärtechnischen Museums Lešany.

Von seiner Hand stammen einige bekannte Skulpturen in Prag, etwa die krabbelnden Kleinkinder an den Säulen des Fernsehturms und der auf dem Bauch eines kopfüber hängenden Pferdes sitzende heilige Wenzel in der Lucerna-Passage, eine Parodie auf das Reiterstandbild auf dem Wenzelsplatz. Ebenfalls von Černý stammt die Skulptur Quo Vadis, die einen Trabant mit vier Beinen darstellt. Mit dieser Skulptur würdigte Černý die Vorkommnisse vom September 1989, als tausende DDR-Bürger in die Deutsche Botschaft Prag flüchteten und dabei ihre Trabis in Prag zurückließen. Das Original der Skulptur befindet sich heute in der Sammlung des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, im Park der deutschen Botschaft in Prag steht eine Kopie.

Anlässlich der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft 2009 schuf Černý die Installation Entropa, die Vorurteile gegenüber den einzelnen EU-Mitgliedern darstellt. Damit löste er in mehreren Staaten Entrüstung aus, vor allem in Bulgarien, dessen Umrisse in Form einer Hocktoilette dargestellt wurden.

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Folge 6: Flucht und Migration

Seit Februar 2022 sind etwa 900.000 ukrainische Flüchtlinge in Tschechien angekommen. Knapp 400.000 davon haben in dem Land zumindest vorübergehend ein Zuhause gefunden und sind geblieben. Im Gegensatz dazu hat Tschechien während der sogenannten Flüchtlingskrise um das Jahr 2015 fast gar keine Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten aufgenommen. Wie ist es möglich, dass eine stark flüchtlingsfeindliche Stimmung plötzlich abgelöst wurde von einer relativen Freundlichkeit und Offenheit? Wie läuft die Integration der ukrainischen Flüchtlinge in die tschechische Gesellschaft? Und können die positiven Erfahrungen mit ukrainischen Flüchtlingen zu einer offeneren tschechischen Migrations- und Asylpolitik beitragen, die Expertinnen und Experten zufolge seit langem zu den restriktivsten in der Europäischen Union zählt? Diese Fragen stelle ich der Regierungsbeauftragten für Menschenrechte Klára Šimáčková Laurenčíková, dem Direktor der nichtstaatlichen Organisation für Flüchtlingshilfe (OPU) Martin Rozumek und der Migrationsexpertin Marie Jelínková von der Prager Karlsuniversität. Weitere Gesprächspartner sind der Soziologe Jaromír Mazák von der Meinungsforschungsagentur STEM, die Journalistin und Dokumentarfilmerin Apolena Rychlíková und die Leiterin des kommunalen Zentrums Svitlo Olha Cherepiuk, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 nach Tschechien gekommen ist.

Da Tschechische Republik nicht zu den Hauptzielländern von Geflüchteten gehört und auch nicht auf den wichtigsten Migrationsrouten für Geflüchtete nach West- und Nordeuropa liegt, hat sich die europäische Migrationskrise auf der tschechischen politischen Bühne hauptsächlich dadurch bemerkbar gemacht, dass ein Teil des politischen Spektrums begonnen hat, diesem Thema mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Seit 2015 ist die Migrationskrise in Tschechien zu einem der wichtigsten politischen Themen geworden. Eine Reihe politischer Parteien hat die Migrationskrise zu einem zentralen Thema ihres Programms gemacht, z. B. die Morgendämmerung - Nationale Koalition, die von Tomio Okamura geführte Bewegung für Freiheit und direkte Demokratie oder die rechtsextreme Partei Nationale Demokratie. Die konservative ODS und die Partei der Freien treten etwas gemäßigter gegen die Aufnahme von Geflüchteten auf. Der Präsident Miloš Zeman hat sich ebenfalls deutlich gegen die Einwanderung ausgesprochen. Es bildeten sich populistische Gruppierungen, politische Bewegungen und Initiativen, die sich gegen Muslime und Migration positionierten und oft auch sehr aggressiv gegen Personen mit anderen Ansichten auftreten und so zur Polarisierung der Gesellschaft beitragen. Einwanderungskritiker haben im tschechischen Kontext den Begriff "Sonnenmensch" etabliert.  Es handelt sich dabei um eine spöttische und abwertende Bezeichnung für eine Person, die dem Multikulturalismus zugeneigt ist, Asylbewerber willkommen heißt, positiv gegenüber Geflüchteten und eher links eingestellt ist. Einen politischen Gegenpol bildet in der Tschechischen Republik vor allem die Partei der Grünen. Während die damalige sozialdemokratisch geführte Regierung von Bohuslav Sobotka im Vergleich zum Rest der Europäischen Union eher als einwanderungsfeindlich galt, wurde sie innenpolitisch oft als zu offen gegenüber Asylbewerbern kritisiert. Auf EU-Ebene gehören die Länder der Visegrad-Gruppe zu den schärfsten Kritikern der Migrationspolitik der EU. Sie lehnen das Prinzip der Verteilung von Asylbewerbern in der gesamten Union ab und fordern den Schutz der Schengen-Außengrenze sowie ein funktionierendes Rückführungssystem für Wirtschaftsmigranten.

Obwohl laut Meinungsumfragen die Tschechische Republik seit Jahren zu den Ländern mit der negativsten Einstellung gegenüber der Aufnahme von Geflüchteten gehört, gilt das nicht pauschal für alle Migrationswellen. In den 1990er Jahren hat Tschechien tausende Geflüchtete aus Jugoslawien aufgenommen. Solidarität mit Geflüchteten aus der Ukraine ist auch relativ hoch. Mit ca. 480 Tausend aufgenommenen Geflüchteten aus der Ukraine besetzt Tschechien in Europa den Platz Drei. Aus einer 2016 durchgeführten Untersuchung geht dagegen hervor, dass über 80 % der Tschechen die Aufnahme von Geflüchteten aus dem Nahen Osten und Nordafrika ablehnen. Rund 70 % der Menschen stimmen auch der möglichen Wiedereinführung von Grenzkontrollen an den tschechischen Grenzen zu.

Artikel von Martin Rozumek vom 14. September 2015 übersetzt ins Deutsche:

Im 2015 haben viele Flüchtlinge versucht, von Ungarn aus über die Slowakei und die Tschechische Republik nach Deutschland zu gelangen, doch viele von ihnen scheitern auf dem Weg. Die tschechische Polizei kontrollierte Züge auf irreguläre Reisende, die das Land ohne tschechisches Visum durchqueren wollten. In der Nacht zum 31. August 2015 wurden 260 Flüchtlinge, hauptsächlich syrischer Herkunft, aus Zügen und Autos geholt. Anschließend wurden die Flüchtlinge in Abschiebehaftanstalten gebracht. Bislang gibt es in der Tschechischen Republik zwei solcher Abschiebegefängnisse. Eines befindet sich in Běla-Jezova (etwa 60 km von Prag entfernt) und das andere in Vyšni Lhoty (etwa 400 km von Prag entfernt). Aufgrund des Platzmangels in den regulären Auffanglagern werden nun auch in einem weiteren Aufnahmezentrum in Zastávka (ca. 19 km von Brünn entfernt) Flüchtlinge untergebracht. Das Auffanglager Běla-Jezova war ursprünglich für 260 Personen geplant. Es waren dort aber teilweise mehr als 700 Flüchtlinge untergebracht, vor allem aus Syrien, Afghanistan und dem Irak.

Die Haftbedingungen sind schrecklich und entsprechen in keiner Weise den internationalen Standards und den EU-Vorschriften. Nur ein einziger Arzt steht für alle Inhaftierten zur Verfügung. Darüber hinaus gibt es nur zwei Sozialarbeiter, die sich um mehrere hundert Flüchtlinge kümmern. Der gesamte Komplex ist von einem Maschendrahtzaun umgeben, und die Flüchtlinge haben keinerlei Möglichkeit, sich frei zu bewegen. Nicht einmal die Freiwilligen der Organisation für Flüchtlingshilfe (OPU), die hierher kommen, um Dienstleistungen wie Rechtsberatung und Rechtsvertretung anzubieten, können die Haftzentren ungehindert betreten. In einigen Fällen müssen sie stundenlang am Eingang des Bela-Gefangenenlagers warten, bis sie schließlich von einem bewaffneten Wachmann in einen kleinen Raum geführt werden, wo sie durch ein Fenster mit den Flüchtlingen kommunizieren. Ende Juni strich die Regierung die Mittel für Rechtsberatung und -vertretung für inhaftierte Asylbewerber und verstieß damit gegen die bestehenden EU-Asylverfahrens- und Rückführungsrichtlinien sowie gegen die Dublin-III-Verordnung. Dennoch kommen nach wie vor Juristen ausschließlich ehrenamtlich und mit geringen Spenden aus der tschechischen Öffentlichkeit in die Haftanstalten. Diese Juristen erhalten vom Sicherheitspersonal noch weniger Informationen als die ehrenamtlichen Sozialarbeiter. Die Juristen erhalten nicht nur unvollständige Informationen, sondern auch ungenaue Informationen. Kürzlich war eine Gruppe von Freiwilligen vor Ort und berichtete, dass sich derzeit mindestens 60 Kinder in der Haftanstalt in Bela Viele Kinder trugen keine Schuhe, waren unzureichend gekleidet und hatten sichtlich Hunger. Am nächsten Tag besuchten zwei Juristen die Einrichtung und erfuhren vom Sicherheitspersonal, dass nur etwa 10 Kinder in der Haftanstalt festgehalten wurden. Dies steht im klaren Widerspruch zu den Beobachtungen, die die Freiwilligen am Vortag vor Ort gemacht hatten.

Personen, die von außen kommen, haben keinen Zugang zu den Räumlichkeiten, in denen sich die Flüchtlinge befinden. Deshalb werden die Bedingungen in den Unterkünften nur unzureichend geprüft. Zelte, die auf dem Gelände errichtet wurden, um mehr Menschen unterzubringen, haben den Mangel an verfügbarem Platz für die inhaftierten Flüchtlinge noch verschärft. Manchmal sind die Flüchtlinge gezwungen, tagelang in ihren Zimmern zu bleiben, ohne Zugang zu natürlichem Licht oder Luft zu haben. Darüber hinaus ist nach Angaben der Flüchtlinge der Ernährungszustand vor Ort sehr schlecht. Aufgrund mehrerer Vorfälle werden die Menschen in den Haftanstalten während der Essenszeiten von bewaffneten Polizisten bewacht. Für diese unmenschlichen Bedingungen müssen die Asylbewerber 7200 tschechische Kronen pro Person und Monat zahlen. Umgerechnet in Euro sind das etwa 266 €. Viele Flüchtlinge können diese enorme Summe nicht aufbringen und erhalten bei ihrer Entlassung einen Schuldschein. Sie müssen ihr gesamtes Geld abgeben, mit dem sie den Aufenthalt bezahlen wollen, und auch ihre Mobiltelefone werden ihnen abgenommen, so dass sie Schwierigkeiten haben, ihre Familien über ihren Aufenthaltsort zu informieren.

Gemäß Artikel 5 Absatz 1 Buchstabe f der Europäischen Menschenrechtskonvention ist eine Inhaftierung zum Zwecke der Abschiebung nur dann zulässig, wenn der Staat eine klare Perspektive für die Abschiebung einer Person hat. Nach der Dublin-Verordnung hat das Aufnahmeland sechs Wochen Zeit, um eine solche Überstellung durchzuführen. Im Wesentlichen werden alle Flüchtlinge während des Transits verhaftet, nachdem sie zuvor durch Ungarn gereist sind, und Ungarn ist offiziell für das Asylverfahren dieser Menschen zuständig. Ungarn hat jedoch keine Kapazitäten, um weitere Flüchtlinge aus der Tschechischen Republik zurückzunehmen, was vom tschechischen Innenminister Milan Chovanec und der Sprecherin der tschechischen Polizei, Frau Rendlova, offen bestätigt wurde. Aufgrund der schwierigen Lage in Ungarn werden fast alle Flüchtlinge nach 6 bis 8 Wochen freigelassen, nachdem ihnen ihr restliches Geld abgenommen wurde, und erhalten die Aufforderung, das Land innerhalb von 7 bis 10 Tagen zu verlassen. Nach der Freilassung können sie die tschechischen Grenzen ungehindert passieren und ihre Reise zu ihrem ursprünglichen Zielort fortsetzen.

Darüber hinaus wurde die Anforderung von Artikel 28 der Dublin-III-Verordnung, im Falle der Inhaftierung von "Dublinern" objektive Kriterien zur Definition der Fluchtgefahr gesetzlich festzulegen, nicht in tschechisches Recht umgesetzt, und es gab bereits Urteile tschechischer Gerichte, die die Rechtswidrigkeit einer solchen Inhaftierung bestätigten.

Dies alles wirft die Frage auf, warum die Flüchtlinge überhaupt verhaftet werden. Seit der jüngsten Ankündigung der deutschen Regierung, Syrern die Möglichkeit zu geben, ihren Asylantrag in Deutschland zu stellen, hat die tschechische Polizei begonnen, Syrer aus den Haftanstalten zu entlassen. Iraker, Afghanen und andere Staatsangehörige werden jedoch weiterhin inhaftiert.

In der Zwischenzeit verhandelt das tschechische Innenministerium mit den Gemeinden in der Tschechischen Republik über die Einrichtung weiterer Auffanglager für Flüchtlinge auf der Durchreise nach Westeuropa.

Quelle: Refugees being treated like criminals in Czech detention centres, von Martin Rozumek, Executive Director of Organization for Aid to Refugees (OPU) | European Council on Refugees and Exiles (ECRE), 14.9.2015

Intro:
"Sechsmal Tschechien ein Podcast in sechs Folgen. Klima und Umwelt, Tschechiens Beziehung zu Russland, die Rechte der LGBTQIA+ und die Lage von Minderheiten, wie steht die Gesellschaft zur EU zu Flucht und Migration? Wir bieten einen Einblick in aktuelle politische Debatten. Sechsmal Tschechien ein Podcast der sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und von Radio Prag international."

Filip Rambousek:
"Seit Februar 2022 sind insgesamt etwa 900.000 ukrainische Flüchtlinge in Tschechien angekommen. Knapp 400.000 davon haben in dem Land zumindest vorübergehend ein Zuhause gefunden und sind geblieben. Im Gegensatz dazu hat Tschechien während der sogenannten Flüchtlingskrise um das Jahr 2015 fast gar keine Flüchtlinge aus dem Nahen und Mittleren Osten aufgenommen. Wie ist es möglich, dass eine stark flüchtlingsfeindliche Stimmung nun abgelöst wurde von einer relativen Freundlichkeit und Offenheit? Wie läuft die Integration der ukrainischen Flüchtlinge in die tschechische Gesellschaft? Und können die positiven Erfahrungen mit ukrainischen Flüchtlingen zu einer offeneren tschechischen Migrations- und Asylpolitik beitragen? Denn Expertinnen und Experten zufolge gehört Tschechien in diesem Bereich seit langem zu den restriktivsten in der Europäischen Union. Die genannten Fragen habe ich ich der Regierungsbeauftragten für Menschenrechte Klára Šimáčková Laurenčíková gestellt, dem Leiter der nichtstaatlichen Organisation für Flüchtlingshilfe (OPU) Martin Rozumek sowie der Migrationsexpertin Marie Jelínková von der Prager Karlsuniversität. Weitere Gesprächspartner sind der Soziologe Jaromír Mazák von der Meinungsforschungsagentur STEM, die Journalistin und Dokumentarfilmerin Apolena Rychlíková und die Leiterin des kommunalen Zentrums Svitlo Olha Cherepiuk, die nach dem russischen Angriff auf die Ukraine im Februar 2022 nach Tschechien gekommen ist.

Bereits vor dem Februar 2022 lebten etwa 200.000 Ukrainerinnen und Ukrainer in Tschechien. Auch aus diesem Grund habe sich ein großer Teil der ukrainischen Flüchtlinge nach der russischen Invasion zur Flucht nach Tschechien entschlossen, sagt Martin Rozumek, der Leiter der Organisation für Flüchtlingshilfe:"

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Nach unseren Schätzungen haben bisher etwa 900.000 ukrainische Flüchtlinge den Prager Hauptbahnhof passiert. Davon haben etwa 560.000 einen vorübergehenden Schutzstatus in der Tschechischen Republik erhalten, die übrigen sind in andere EU-Länder weitergereist. Derzeit halten sich etwa 380.000 ukrainische Flüchtlinge, hauptsächlich Frauen mit Kindern, in Tschechien auf. Das ist eine enorm hohe Zahl. Früher hat Tschechien aufgrund ihrer restriktiven Politik weniger als zweitausend Asylanträge pro Jahr bearbeitet, von denen schließlich nur ein paar hundert bewilligt wurden. Es handelt sich also um eine große Veränderung für das ganze Land. Ich muss sagen, dass mich die aufwallende Solidarität und der Umschwung in der tschechischen Gesellschaft sehr positiv überrascht haben.“

Filip Rambousek:"In den ersten Monaten nach dem russischen Einmarsch war die Unterstützung für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge gleichbleibend hoch. Jaromír Mazák ist Soziologe und wissenschaftlicher Leiter beim Meinungsforschungsinstitut STEM."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Das hat sich sowohl in der Stimmung gespiegelt, denn etwa 70 Prozent der Öffentlichkeit haben zu Beginn die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge unterstützt, als auch in konkreten Aktionen; wir haben eine große Welle der Solidarität erlebt. Seit Beginn des Krieges gegen die Ukraine bis heute haben die Tschechen etwa sechs Milliarden Kronen gesammelt. Der größte Teil dieser Summe, etwa 5 Milliarden, floss in die humanitäre Projekte, eine Milliarde in Waffen, Munition sowie Verteidigungsmittel.“

Filip Rambousek:
"Sechs Milliarden Kronen sind umgerechnet knapp 240 Millionen Euro. Jaromír Mazák weist gleichzeitig darauf hin, dass sich hinter den 70 Prozent Unterstützung viele außergewöhnliche Geschichten und konkrete Schicksale verbergen."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Zum Beispiel spendeten Menschen Computer für Mütter mit Kindern, damit sie per Videoschalte ihre in der Ukraine verbliebenen Ehemänner oder Väter anrufen konnten. Oder, ich habe aber auch mit einem jungen Mann gesprochen, der einen Lieferwagen hatte, den er als Camper nutzte. Der kam zu dem Schluss, diese Lebensphase sei nun vorbei, und dass andere diesen Wagen nun nötiger brauchten. Er fuhr ihn selbst in die Ukraine und stellte ihn der ukrainischen Armee zur Verfügung. Diese Geschichten veranschaulichen die tschechische Unterstützung für die Ukraine besser als jede Statistik. Die tschechische Gesellschaft hat zu Beginn die Ärmel hochgekrempelt und war sehr hilfsbereit und solidarisch.“

Filip Rambousek:
"Laut Mazák identifizieren sich die Tschechinnen und Tschechen wegen ihrer eigenen historischen Erfahrungen mit dem Einmarsch der Warschauer Pakt Truppen im Jahr 1968 mit den Ukrainerinnen und Ukrainern. Die Unterstützung für die Ukraine und die ukrainischen Flüchtlinge ist in der Tschechischen Republik nach wie vor relativ stark und stabil, auch wenn seit Beginn der russischen Invasion bereits über zwei Jahre vergangen sind."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„In der ganzen Zeit gab es nur einen einzigen starken Einbruch, und zwar gleich in der ersten Hälfte des Jahres 2022, als die öffentliche Unterstützung für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge von 70 auf etwa 55 bis 60 Prozent fiel. Dabei ist es allerdings auch geblieben. Etwa 53 Prozent der tschechischen Öffentlichkeit sind weiterhin für die Aufnahme ukrainischer Flüchtlinge. Wir sehen also, dass die Haltung der tschechischen Öffentlichkeit in diesen Fragen relativ stabil ist.“

Filip Rambousek:
"Unterstützung von Seiten der Öffentlichkeit bedeutet jedoch nicht automatisch, dass die Umsetzung der Flüchtlingshilfe gut gemeistert wird und die Integration der Flüchtlinge aus der Ukraine reibungslos verläuft. In den ersten Monaten habe die Hauptlast auf den Schultern der NGOs gelegen, erinnert sich Martin Rozumek."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
“Die Anfangsphase hat der Staat verschlafen. Die Hauptaufnahmestelle für Flüchtlinge war der Hauptbahnhof in Prag, wo unsere gemeinnützige Organisation für Flüchtlingshilfe in Zusammenarbeit mit der Prager Stadtverwaltung, dem Roten Kreuz und der Feuerwehr die komplette Organisation übernahm. Der Staat selbst hatte kein Konzept. In den ersten Monaten hat er völlig versagt, erst später ist er langsam aufgewacht. Außerdem ist die staatliche Migrationspolitik langfristig sehr restriktiv ausgelegt. Doch die Menschen aus der Ukraine waren nun einmal schon da, also musste der Staat irgendwie damit fertig werden.“

Filip Rambousek:
"Trotz der Defizite sei es dem Staat mit Unterstützung der gemeinnützigen Organisationen gelungen, der großen Mehrheit der ukrainischen Flüchtlinge menschenwürdige Lebensbedingungen zu sichern, meint die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte Klára Šimáčková Laurenčíková. Seit Februar 2023 ist sie zugleich die nationale Koordinatorin für die Eingliederung und Integration der Flüchtlinge aus der Ukraine."

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Wir haben es geschafft, relativ schnell und effektiv ein Registrierungssystem aufzubauen, den Ankommenden vorübergehenden Schutz zu gewähren, humanitäre Leistungen auszuzahlen, die Flüchtlinge in die Krankenversicherung einzugliedern und sogar den Arbeitsmarkt für sie zu öffnen. Im Augenblick arbeiten bereits 72 Prozent der Flüchtlinge im erwerbsfähigen Alter. In der Tschechischen Republik gibt es auch ein relativ großes Angebot an Sprachkursen. Über 70 Prozent der Flüchtlinge leben bereits in regulären Mietwohnungen, und wir freuen uns zudem darüber, dass es uns gelungen ist, die meisten Kinder im schulpflichtigen Alter in Regelschulen, das heißt, in den normalen Unterricht zu bringen. Es gibt keine separaten, homogenen Schulen für ukrainische Kinder."

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
“Ich befinde mich in einem historischen Palais auf dem Altstädter Ring und laufe die Treppenstufen nach oben in den dritten Stock. Genau hier, im Herzen von Prag, sitzt nämlich das kommunale Zentrum Svitlo, das Flüchtlingen aus der Ukraine hilft. Ich habe einen Termin mit der Leiterin Olha Cherepiuk. Guten Tag.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Guten Tag.”

Filip Rambousek:
“Vielen Dank, dass Sie sich Zeit für mich nehmen. Das kommunale Zentrum Svitlo hat hier seinen Sitz, angedockt an das „Skautské Institut“, also das Pfadfinderinstitut. Dürfen wir uns in Ihren Räumen umsehen?“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Natürlich. Das hier ist unsere Zentrale. Ich zeige Ihnen die beiden wichtigsten Räume. Das hier ist die Kinderecke, die auch als Werkraum dient. Hierher können Mütter an jedem Wochentag ihre Kinder bringen. Sie sind unter pädagogischer Aufsicht, während die Mütter einen Tschechisch-Kurs besuchen, einer Arbeit nachgehen oder zum Beispiel auch andere wichtige Dinge erledigen. Ihr Kind ist die ganze Zeit in guten Händen. Wir veranstalten hier auch Kurse für Kinder verschiedenen Alters. Wir haben wunderbare Lehrerinnen, unter deren Anleitung sich die Kinder in alle möglichen Richtungen ausleben können. Es gibt zum Beispiel Malkurse, aber auch viele andere Angebote.“

Filip Rambousek:
“Was wir hier sehen, sind wunderschöne Kinderteppiche und eine Menge Spielzeug. Aber auch Schreibtische, an denen die Kinder malen können. Und dort geht es weiter in einen zweiten großen Raum. Er sieht eher aus wie ein Klassenzimmer. Was passiert da?“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Hier finden Tschechisch- und Englischkurse statt. Wir fangen auch an, Seniorentreffs zu organisieren, aber auch IT-Kurse. Außerdem ist hier die Bibliothek. Wir haben Bücher in Tschechisch und Ukrainisch, für Erwachsene und für Kinder. Und es gibt einen Computer und einen Drucker. Das alles steht unseren Gästen zur freien Verfügung.“

Filip Rambousek:
“Dafür, dass es nur zwei Räume sind, organisieren Sie wirklich unglaublich viel. Das Programm ist sehr dicht – von den verschiedensten Events und Hilfsmaßnahmen über Beratung bis hin zur Arbeit mit den Kindern.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Das stimmt. Wir machen viel. Zu unseren Angeboten gehören z. B. sozialpsychologische und rechtliche Beratung, gruppentherapeutische Angebote für Kinder und Erwachsene, Kunsttherapie oder Märchentherapie. Wir organisieren aber auch Vorbereitungskurse für Aufnahmeprüfungen in Mathematik und Tschechisch, Vorschulkurse oder Englischkurse für Kinder. Momentan beginnen die Kurse zur Eingliederung in den Arbeitsmarkt. Was wir auch ermöglichen wollen, sind die unterschiedlichsten sportlichen Aktivitäten – Zumba, Bachata oder Yoga, für Kinder auch noch Aikido. Das hat sich als sehr wirksam erwiesen. Wir sehen, wie glücklich und begeistert diese Menschen sind, wenn sie die Möglichkeit haben, sich körperlich zu betätigen und gleichzeitig Zeit in ihrer Community zu verbringen.“

Filip Rambousek:
“Sie waren von Anfang an dabei beim kommunalen Zentrum Svitlo, also seit April 2022. Kann man sagen, dass Sie es mit aufgebaut haben?“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Genauso ist es. Svitlo ist Ende April 2022 entstanden. Ich erinnere mich, als wir die neuen Räume bekommen haben. Sie waren völlig leer und wir mussten sie erst einmal ausmalen, reinigen und Möbel auftreiben. Es war wirklich viel Arbeit. Aber das war es wert. Ich denke, das kommunale Zentrum Svitlo ist zu einem sicheren Ort für Menschen geworden, die aus der Ukraine geflohen sind. Alle fühlen sich wohl hier.“

Filip Rambousek:
“Wenn wir von einem sicheren Ort sprechen – Sie selbst gehören zu den Menschen, die die Ukraine nach dem Februar 2022 verlassen mussten. Wie fühlen Sie sich in Tschechien? Kommen Sie gut zurecht, vielleicht auch dank des kommunalen Zentrums? Oder stoßen Sie auch auf Hindernisse?“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
“Ich bin Ende Februar 2022 nach Tschechien gekommen. Ich wollte mein Kind retten, ich habe einen Sohn, der inzwischen acht Jahre alt ist. Für Tschechien habe ich mich entschieden, weil meine Eltern hier leben. Ich bin mir nicht sicher, ob ich es geschafft hätte, irgendwohin zu gehen, wo ich niemanden kenne. Ich bin dem Umfeld, das ich habe, sehr dankbar. Es ist so eine Art soziale Bubble, in der ich mich wohl fühle. Ich spüre die Unterstützung der Menschen, mit denen ich zusammenarbeite. Als ich Anfang April 2022 hierher ins Pfadfinder-Institut gekommen bin, konnte ich fast gar kein Tschechisch, ich hatte keinen Tschechisch-Kurs besucht. Aber dank meiner Kollegen, dank ihrer Unterstützung konnte ich mich hier selbst verwirklichen. Das kommunale Zentrum Svitlo ist für mich sehr wichtig. Die Leute, die hierherkommen, lachen immer und sagen, es sei mein zweites Baby – vielleicht ist es nicht einmal das zweite, sondern sogar das erste. Ich verbringe wirklich sehr viel Zeit hier. Und ich weiß, dass Svitlo auch für viele andere Menschen wichtig ist, die regelmäßig hierherkommen. Das ist für mich das Wichtigste: Dass ich die Möglichkeit habe, anderen Menschen zu helfen. Und dass ich etwas tun kann, um der Ukraine zu helfen. Dass ich Menschen helfen kann, die nach Tschechien geflohen sind.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
„Trotz zahlreicher positiver Erfahrungen muss Olha Cherepiuk auch sagen, dass das Leben als ukrainischer Flüchtling in Tschechien in vielerlei Hinsicht schwierig ist. Viele Geflüchtete sehen sich oft etwa mit Vorurteilen konfrontiert.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
„Ich habe schon von mehreren solchen Vorfällen gehört. Mütter beklagen sich etwa, dass sie mit ihrem Kind über die Straße gehen und Ukrainisch reden, und dann von jemandem angebrüllt werden: ‚Ihr blöden Ukrainer! Was wollt ihr hier? Geht zurück nach Hause!‘ Die Tschechen denken oft, dass die Ukrainer ihnen ihr Geld wegnehmen. Wenn man sich aber einmal die aktuellen Zahlen anschaut, stellt man fest, dass 70 Prozent der geflüchteten Ukrainer einer offiziellen Arbeit nachgehen. Ich selbst arbeite hier seit März 2022 und die ganze Zeit über bezahle ich Steuern sowie meine Sozial- und Krankenversicherung – genauso wie der absolute Großteil der ukrainischen Geflüchteten, die hier Arbeit haben.“

Filip Rambousek:
„Neben den Vorurteilen stoßen die Ukrainerinnen und Ukrainer auch auf systematische Probleme, etwa im Bereich der Bildung.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt relativ wenige Plätze in den Schulen und Kindergärten. Dabei soll ja gerade die Bildung den Kindern helfen, Tschechisch zu lernen und sich erfolgreich in die Gesellschaft zu integrieren. Natürlich verstehen wir aber, dass es nicht so einfach möglich ist, innerhalb eines halben Jahres zum Beispiel zehn neue Schulen zu bauen, in denen Platz für alle Kinder ist.“

Filip Rambousek:
„Durch die Geflüchteten aus der Ukraine wurde zudem offenbar, in welchen Bereichen es in Tschechien schon seit Langem systematische Mängel gibt, sagt die freie Journalistin und Dokumentarfilmemacherin Apolena Rychlíková:“

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das Bildungssystem, die Wohnungspolitik, der Arbeitsmarkt – das sind die Bereiche, die darüber entscheiden, ob Integration erfolgreich verläuft. Aktuell gibt es zum Beispiel sehr viele Kinder, die nicht in das Bildungssystem integriert sind. Es gibt Schulen, in denen es ganze Klassen nur mit Ukrainern gibt. Das kann in Zukunft zu Problemen führen. Wir sollten die Geflüchteten aus der Ukraine bilden, sicherstellen, dass sie Tschechisch lernen, sie vor mafiösen Praktiken wie Schwarzarbeit schützen und sicherstellen, dass sie einen adäquaten Wohnraum bekommen. Ohne diese grundlegenden Dinge kann ein Mensch allein wenig ausrichten. Staatliche Hilfe ist deshalb enorm wichtig. Wir können nicht alles nur den Ehrenamtlichen und den NGOs überlassen, die nur beschränkte Befugnisse und auch begrenzte Finanzmittel haben.“

Filip Rambousek:
„Gerade die staatlichen Mittel für die Flüchtlinge aus der Ukraine gehen in der letzten Zeit aber eher zurück – ganz gleich, ob es um humanitäre Zuschüsse für sie geht oder um die finanzielle Unterstützung solidarischer Haushalte, die ukrainische Geflüchtete aufgenommen haben. Der tschechische Staat erhöht damit den Druck auf die Flüchtlinge, in kommerzielle Mietverhältnisse umzuziehen. Aber dieser Schritt ist oft gar nicht so einfach, wie auch der Fall von Olha Cherepiuk zeigt.“

Olha Cherepiuk (übersetzt ins Deutsche):
„Ich kann mir leider nicht leisten, eine Wohnung für meinen Sohn und mich anzumieten. Die Miete in Prag kostet 25.000 Kronen, das heißt, mir würden gerade einmal 5000 Kronen für alle anderen Ausgaben übrigbleiben. Das würde noch nicht einmal für das Straßenbahnticket und die Freizeitaktivitäten und das Mittagessen für meinen Sohn reichen. Unsere Lage ist also wirklich kompliziert.“

Filip Rambousek:
"Und in dieser schwierigen Situation ist Olha Cherepiuk nicht alleine. Denn aktuellen Daten von Februar 2024 zufolge leben bis zu 57 Prozent aller ukrainischen Flüchtlinge in Tschechien unter der Armutsgrenze. Dies könnte eines der größten Hindernisse für eine gelungene Integration sein, warnt Marie Jelínková, Migrationsforscherin an der Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Prager Karlsuniversität:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Integration kann dann gelingen, wenn Migranten Teilhabe am normalen Leben in der Gesellschaft haben. Wenn man aber sehr arm ist, in Lebensmittelbanken gehen muss, um seine Kinder ernähren zu können und man eine Miete hat, die man mit seinem Lohn nur knapp bezahlen kann, kann mich sich nur schwerlich so in die Gesellschaft eingliedern, wie es für alle Seiten ideal wäre.“

Filip Rambousek:
"Nicht außer Acht gelassen werden darf dabei, dass in Folge der zweitstelligen Inflationsraten 2022 und 2023 die Reallöhne für den Großteil der Haushalte in Tschechien gestiegen sind. In der ganzen Gesellschaft ist der Anteil von Menschen gewachsen, die von Armut bedroht sind. Und das habe wiederum einen Einfluss auf die Haltung gegenüber den Geflüchteten aus der Ukraine, betont der Soziologe Jaromír Mazák."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Manche Tschechen sehen in den Flüchtlingen Konkurrenten, etwa auf dem Arbeits- oder dem Wohnungsmarkt. Da die Ukrainer zumeist unter ihren Qualifikationen im Niedriglohnsektor arbeiten, stellen sie vor allem für die Menschen eine Konkurrenz dar, die selbst materiell schlecht dastehen. Das sind die Menschen, die die ukrainischen Flüchtlinge dann mitunter negativ wahrnehmen.“

Filip Rambousek:
"Einer der Orte, an denen dieser Konkurrenzkampf zu einem gesellschaftlichen Konflikt anwachsen kann, seien die Arbeitsämter, die seit Langem personell unterbesetzt sind und sich derzeit am Rande ihrer Kapazitäten befinden, sagt die Journalistin Apolena Rychlíková:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„In dem Moment, in dem Tschechen und Tschechinnen etwas auf dem Arbeitsamt erledigen müssen – zumeist etwa Wohngeld beantragen – bekommen sie das Gefühl, dass den Ukrainerinnen und Ukrainern mehr Aufmerksamkeit entgegengebracht wird und sie deshalb später an ihre Zuschüsse herankommen. Das sind reale Situationen, zu denen es regelmäßig kommt, und natürlich kann das bei einem Teil der tschechischen Öffentlichkeit zu Unmut führen.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Trotz all dieser Probleme darf nicht vernachlässigt werden, dass sich Tschechien den Ukrainerinnen und Ukrainern gegenüber relativ entgegenkommend verhalten hat. Auch die Zustimmung in der Öffentlichkeit ist mehr oder weniger stabil. Die meisten der Geflüchteten leben in gängigen Mietswohnungen und gehen zur Arbeit. Aus den aktuellen Daten lässt sich schlussfolgern, dass sie immer weiter in die Gesellschaft integriert werden. Nicht zu allen Gruppen von Flüchtlingen haben sich die Tschechen und Tschechinnen aber derart solidarisch verhalten. Besonders gut zeige dies das Schicksal der aus der Ukraine geflohenen Romnja und Roma, betont Marie Jelínková:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Ganz gleich ob Aufenthaltsgenehmigungen, oder die Besorgung einer Unterkunft – all das, was für die Ukrainer schnell erledigt wurde, war auf einmal ein Riesenproblem. Die ukrainischen Roma wurden offiziell und inoffiziell abgelehnt und es wurde ihnen nahegelegt, nicht in Tschechien zu verbleiben.“

Filip Rambousek:
"Den ukrainischen Romnja und Roma blieb nichts anderes übrig, als für einige Zeit in Prag und Brünn auf dem Hauptbahnhof zu übernachten – unter gänzlich unwürdigen Bedingungen, wie die Journalistin Apolena Rychlíková erläutert:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Auf dem Prager Hauptbahnhof waren damals mehrere Dutzend geflüchtete Roma aus der Ukraine – darunter auch drei Monate alte Kinder. Sie mussten auf der Erde schlafen und bekamen eine asiatische Suppe aus heißem Wasser und abgepackte Toasts zu essen – der Nährwert dieses Essens ging gegen Null. Diese Menschen wurden Opfer des massiven Rassismus in der tschechischen Gesellschaft. Niemand wollte sie aufnehmen. Die Politiker verbreiteten Gerüchte darüber, dass es sich um ungarische Bürger handele, die die doppelte Staatsbürgerschaft hätten. Später zeigte sich, dass dem nicht so war, aber keiner der Politiker zog daraus die Verantwortung. Die geflüchteten Roma gingen in der Zwischenzeit woanders hin – wohin, weiß keiner.“

Filip Rambousek:
"Einen vergleichsweise restriktiven Zugang verfolgt Tschechien auch im Hinblick auf Asylbewerber aus dem Nahen und Mittleren Osten und aus Afrika. Martin Rozumek von der Organisation für Flüchtlingshilfe spricht in dieser Hinsicht von einer „Zweigleisigkeit“ der tschechischen Migrations- und Asylpolitik. Geflüchtete aus verschiedenen Ecken der Erde werden unterschiedlich wahrgenommen. Während die Menschen aus der Ukraine gesonderte Schutzvisa ausgestellt bekämen, müssten alle anderen in einem regulären Verfahren Asyl beantragen, was in Tschechien überaus schwierig sei, so Rozumek:"

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Zu allen Geflüchteten, die keine Ukrainer sind, verhält sich Tschechien wesentlich schlechter. Ich würde sogar sagen, dass sich ihre Situation noch verschlechtert, denn derzeit haben sie keinen Zugang zu unabhängiger Rechtshilfe. Man muss ein Asylverfahren durchlaufen, dass sehr restriktiv ist und im Grunde nicht funktionsfähig, denn fast niemand bekommt am Ende tatsächlich Asyl. Man braucht sich also gar nicht zu wundern, dass es im vergangenen Jahr in Deutschland 352.000 Asylanträge gab und in Tschechien nur etwa 1000. Unser Asylsystem ist eben einfach nicht funktionsfähig und sehr restriktiv.“

Filip Rambousek:
"Und dabei geht es nicht nur um die Haltung der Behörden. Auch der Großteil der Bürgerinnen und Bürger unterscheidet laut Martin Rozumek zwischen ukrainischen Geflüchteten und den Flüchtlingen aus anderen Ländern."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Am negativsten wird von der tschechischen Gesellschaft ein alleinstehender Mann aus einem muslimischen Land wahrgenommen. Seine Chancen auf Asyl bei den tschechischen Beamten sind so verschwindend gering, dass das eine Schande ist. Ich wundere mich überhaupt nicht, dass im Grunde genommen alle weiter Richtung Westen gehen. Die Wahrscheinlichkeit, in Tschechien Asyl zu bekommen, integriert und in die Gesellschaft aufgenommen zu werden ist extrem gering.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Noch in den 1990er Jahren sei die Haltung der tschechischen Gesellschaft zu Geflüchteten positiver gewesen, betont Martin Rozumek. Die politische Führung des Landes und der Großteil der Bevölkerung waren bereit, zu helfen. Ob es sich um einen Christen handelte, oder einen Muslim, war damals allen egal."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Ich erinnere mich noch daran, wie wir Ende der 1990er Jahre während des Kosovo-Krieges die Flucht von Tausenden Menschen nach Tschechien organisiert haben. Dabei ging es um Muslime ohne Ausbildung aus dem Kosovo. Sie wurden auf verschiedene Unterkünfte in Böhmen und Mähren verteilt. Die Inhaber der Einrichtungen waren froh, dass sie wegen der Verträge mit dem Innenministerium für einige Zeit ein garantiertes Einkommen hatten. Nach dem Ende des Konflikts, gingen diese Menschen zurück in den Kosovo. Ein Beispiel wie aus dem Lehrbuch, alles hat wunderbar funktioniert. Und während des Krieges in Bosnien in der ersten Hälfte der 1990er Jahre war das ganz ähnlich. Tschechien hat damals, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne Probleme zu machen, 5600 Bosniaken aufgenommen.“

Filip Rambousek:
"Die Hilfe für die Menschen vom Balkan zeigt, dass es in Tschechien eine Zeit gab, in der die Themen Asyl und Migration nicht die Gemüter erhitzten."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Bis 2015 war das ein ruhiges Thema, für das sich auch die Politik nicht interessierte. Mit der Krise in Syrien 2015 änderte sich dies aber grundlegend. Die Politiker entdeckten das Thema Migration für sich und fingen an, ausländerfeindliche Töne anzuschlagen. Sie wollten damit möglichst viele Wähler verängstigen, um dann behaupten zu können, dass sie sie beschützen werden. Sie kündigten an, Wachen an die Grenze zu schicken und die Flüchtlinge in Internierungslager zu stecken, was dann auch passierte. Mit einem Mal wurden das Riesenthemen, die in jeden Wahlen aufgegriffen wurden. Es war, als wenn Tschechien auf einmal die Migration für sich entdeckt hätte.“

Filip Rambousek:
"Die tschechische Reaktion auf die sogenannte europäische Migrationskrise 2015 war sehr überspitzt, erinnert sich die Journalistin und Dokumentarfilmemacherin Apolena Rychlíková:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Was sich hier 2015 und 2016 abgespielt hat, als Menschen nach Europa kamen, die vor einem Krieg geflohen waren, ist für mich bis heute sehr schmerzhaft und unverständlich. Die politische Führung hat eine Umgebung geschaffen, in der unfassbar viele rassistisch eingefärbte Desinformationen verbreitet werden konnten.“

Filip Rambousek:
"Zu der verzerrten Wahrnehmung trugen dabei in bedeutendem Ausmaß auch die Medien bei, betont Apolena Rychlíková:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„In den Jahren 2015 und 2016 wurden wir Tag für Tag mit Titelseiten von Zeitungen konfrontiert, auf denen das Foto eines Menschen mit schwarzer Hautfarbe und einem missmutigen Blick prangte. Es war dabei komplett egal, von wo das Foto stammte. Es konnte ruhig aus einer Fotobank mit Bildern aus dem Krieg im Kongo sein. Es gab also häufig gar keinen Zusammenhang zu den Geflüchteten. Ihre visuelle Darstellung war deshalb sehr stark von Vorurteilen geprägt.“

Filip Rambousek:
"Auch die Migrationsexpertin Marie Jelínková sieht die damalige mediale Darstellung der Geflüchteten als problematisch an:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Erzählung über die Flüchtlinge begann damit, dass sie vor den Grenzen Europas stehen. Es wurde gar nicht erklärt, warum diese Menschen hierherkommen. In Zusammenhang mit den Geflüchteten etwa aus Syrien war in den Medien von den ‚Horden vor den Toren Europas‘ die Rede. Das befeuerte die Wahrnehmung von Flüchtlingen als Sicherheitsrisiko und überschattete die Perspektive, das man Menschen schützen muss, die vor einem Krieg fliehen.“

Filip Rambousek:
"Mit anderen Worten wurden die Flüchtlinge in den Medien als ein Problem für die Sicherheit und die Behörden dargestellt und nicht als ein Thema von menschenrechtlicher Bedeutung. Damit zusammen hängt auch, dass die Flüchtlinge selbst und ihre Geschichten in den tschechischen Medien nur sehr wenig Raum bekamen – im Unterschied zu Sicherheitsexpertinnen und Sicherheitsexperten und Politikerinnen und Politikern. So kam zu den Themen Asyl und Migration etwa immer wieder der damalige sozialdemokratische Innenminister Milan Chovanec zu Wort, der eine sehr strenge Haltung gegenüber Asylantragstellern forderte und verpflichtende Quoten zur Umverteilung von Geflüchteten innerhalb der EU entschieden ablehnte. Im Interview für den privaten Fernsehsender TV Barrandov sagte Chovanec 2017:"

Milan Chovanec (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt einen Unterschied zwischen einem Flüchtling und einem Wirtschaftsmigranten und dazwischen, ob man europäisches Recht einhalten will, oder nicht. Ich bin mir sicher, dass 95 Prozent der tschechischen Bevölkerung bereit wäre, eine Mutter mit drei Kindern, die vor einem Krieg flüchtet, für kurze Zeit aufzunehmen, um sie zu schützen. Aber es darf keinen unendlichen Strom von Migranten geben, die machen, was sie wollen, die durch fünf sichere Länder hindurchreisen, keinen Halt machen, das europäische Recht nicht respektieren. In der Vergangenheit, als die Menschen aus der Ukraine zu uns kamen oder vor 15 Jahren, als es die große Migrationswelle aus dem ehemaligen Jugoslawien gab, da haben wir allen geholfen. Aber es muss klare Regeln dafür geben.“

Filip Rambousek:
"Seit 2015 sind in der tschechischen Öffentlichkeit die Stimmen gegen Flüchtlinge lauter gewesen als alle anderen. Unter diesen Umständen war es ganz und gar nicht einfach, öffentlich seine Unterstützung für die Aufnahme von Geflüchteten zum Ausdruck zu bringen und auf die Verletzung von Menschenrechten hinzuweisen, wie dies etwa Martin Rozumek und Apolena Rychlíková taten…"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Unfassbar wenige Menschen hatten damals den Mut, anzusprechen, dass es hier Leute gibt, die Hilfe brauchen. Kaum jemand traute sich, in die politische Konfrontation zu gehen. Die tschechischen Politiker waren allen Neuankömmlingen gegenüber sehr feindlich gesinnt. Nichtregierungsorganisationen wurden zur Zielscheibe für politischen Hass. Man sprach sogar darüber, dass sie überhaupt gar keine Fördergelder mehr bekommen sollten. In der Gesellschaft war viel Rassismus zu spüren und die Abwesenheit von Solidarität. Ich war damals als Freiwillige tätig und habe Flüchtlingen geholfen. Damals war es ganz normal, dass wir Helferinnen und Helfern angegriffen und beleidigt wurden. Mehrmals war ich in einem Auffanglager und habe gesehen, dass die Menschen dort in erschütternden Bedingungen festgehalten werden, die dem Völkerrecht widersprechen. Tschechien hat sogar Kinder in die Lager hinter dem Stacheldrahtzaun eingesperrt. Nach einiger Zeit wurden die Geflüchteten dann entlassen und reisten meistens nach Deutschland weiter. Tschechien ekelt diese Menschen heute einfach nur noch an. Sie kamen hierher, wurden ins Gefängnis gesteckt, in nicht haltbare Bedingungen, und fuhren wieder. Die Tschechische Republik hat es nicht geschafft, noch nicht einmal die grundlegenden internationalen Verpflichtungen einzuhalten. Das Land hat sich sogar bewusst dafür entschieden, dass es diese nicht einhalten wird. So etwas wäre im Falle der Geflüchteten aus der Ukraine undenkbar. So verhält sich heute nur noch Orbán, in dieser Hinsicht ist er sich selbst treu. Aber die tschechischen Politiker, die ihn vor 2022 bewundert hatten, mussten nun zurückrudern, weil es nun um Menschen ‚aus unserem zivilisatorischen Umfeld‘ geht. Das ist allerdings ein wirklich schlechter Zugang zu Menschen, die Hilfe brauchen.“

Filip Rambousek:
"Auch Tschechiens derzeitiger Premier Petr Fiala, der heute zu den größten Unterstützern der Ukraine und der Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Land zählt, hatte 2015 zur Frage von Migration und Asyl eine ganz andere Auffassung, erinnert Apolena Rychlíková:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Petr Fiala hört das heute nicht gerne, aber in der Zeit, in der er lediglich Vorsitzender der Bürgerdemokraten und Oppositionsführer war, fuhr er nach Ungarn zu Viktor Orbán und ging mit ihm am Stacheldrahtzaun spazieren. Und er war nicht alleine. Das war nicht nur eine Frage der extremen Rechten. Die gesamte demokratische Bühne rutschte damals in die Rhetorik gegen die Geflüchteten ab – inklusive der demokratischen und der radikalen Linken. Dies führte zu einer Spaltung der Gesellschaft in einen konservativen und einen liberalen Kern. Und diese Trennung stellt bis heute eine der zentralen Grenzen in der tschechischen Gesellschaft und in der Politik des Landes dar.“

Filip Rambousek:
"Trotz der überwiegend negativen Haltung von tschechischer Öffentlichkeit und der Politik den Flüchtlingen gegenüber, habe es aber eine Reihe von Nichtregierungsorganisationen und Bürgerinitiativen gegeben, die sich bemühten, den Geflüchteten zu helfen, wie Marie Jelínková erläutert:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Freiwilligen auf dem Prager Hauptbahnhof haben sich etwa organisiert und die Initiative ‚Hlavák‘ gegründet. Sie hat mehrere Monate lang ununterbrochen den Menschen auf der Flucht geholfen. Nach dem Februar 2022 war die Organisation natürlich auch sehr aktiv. Viele Studenten und weitere Freiwillige sind vorher auch in die Flüchtlingslager auf den Migrationsrouten gefahren, um dort anzupacken.“

Filip Rambousek:
"2015 und 2016 halfen in den Flüchtlingslagern auf dem Balkan Hunderte Freiwillige aus Tschechien. Ihre Initiative wurden vor allem vom damaligen sozialdemokratischen Premierminister Bohuslav Sobotka gewürdigt. Er war einer der wenigen Spitzenpolitiker, der nicht auf die vereinfachende und generalisierende Ablehnung von Flüchtlingen ansprang, wie sie im Großteil der tschechischen Öffentlichkeit verbreitet war."

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Die Themen Asyl und Migration seien seit 2015 dauerhafter Bestandteil der öffentlichen Debatte, sagt der Direktor der Organisation für Flüchtlingshilfe, Martin Rozumek:"

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Das Thema Migration stößt in der tschechischen Gesellschaft auf viel Anklang. Vor allem Politiker der populistischen Partei Ano und der Rechtsaußenpartei SPD, aber auch andere, versuchen das Thema entweder für ihre Zwecke zu verwenden oder aber darüber zu schweigen. Denn auch positiv eingestellte Politiker haben heutzutage Angst, Dinge zu sagen, mit denen sie die Aufnahme von Menschen auf der Flucht unterstützen, weil sie befürchten, dass dies ihren politischen Selbstmord bedeuten könnte.“

Filip Rambousek:
"Die Flüchtlinge aus der Ukraine stellen dahingehend eine Ausnahme dar. Denn zu allen anderen ist das tschechische Asylrecht extrem streng und feindlich gesinnt."

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Tschechien steht anderen Ländern wie Ungarn, der Slowakei, Slowenien in nichts nach… und man könnte hier noch viele weitere Länder in Richtung Osten und Süden nennen. Das erste faire Asylsystem für die Geflüchteten ist das in Deutschland und vielleicht noch das in Österreich. Wobei ich mir mit Österreich gar nicht einmal so sicher bin, denn es gibt dort eine relativ große Sekundärmigration nach Deutschland.“

Filip Rambousek:
"Das Ziel der restriktiven Asylpolitik des tschechischen Staates ist laut Rozumek, potentielle Asylbewerber zu verschrecken, damit sie gar nicht erst auf die Idee kommen, sich in Tschechien niederzulassen. Das Ergebnis dieses Ansatzes illustrieren die Zahlen…"

Martin Rozumek (übersetzt ins Deutsche):
„Es gibt lächerlich wenige Anträge auf Asyl in Tschechien und fast niemandem wird es gewährt. Die Zahl der festgehaltenen Personen, die gen Westen reisen wollen, ist ebenso sehr niedrig. Genauso die Zahlen derjenigen, die sich aktuell in den Internierungslagern befinden. Meistens sind das Menschen, die versuchen, illegal zu ihren Verwandten in Deutschland zu gelangen. In Tschechien gibt es zwei solche Zentren. In dem einen befinden sich 30 Leute, von dem zweiten habe ich keine aktuellen Informationen. In den Einrichtungen ist also fast niemand. Der Staat versucht, dafür zu sorgen, dass potentielle Asylbewerber gar nicht erst nach Tschechien kommen. Und wenn sie es doch schaffen, dann sollen sie schnellstmöglich gen Westen weiterreisen. Das haben diese Menschen ohnehin vor, denn dort leben ihre Familien.“

Filip Rambousek:
"In ihrer harten Linie zur Migration sehen sich die Tschechinnen und Tschechen bestätigt, wenn sie nach Deutschland schauen. Die tschechischen Medien heben oft Probleme hervor, die es im Nachbarland mit der Integration von syrischen und anderen Flüchtlingen gibt. Dieses Phänomen sei vor allem zwischen 2016 und 2020 zu beobachten gewesen, sagt die Analytikerin Marie Jelínková:"

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„Immer wenn es zu einer Straftat kam, vor allem zu einer sexuellen Charakters, war das für die meisten der tschechischen Leitmedien ein interessantes Ereignis. Gänzlich unbeleuchtet blieb hingegen der Prozess der Integration als solcher. Wie gut oder schlecht gelang die Integration der Menschen aus Syrien auf dem Arbeitsmarkt? Was konnte im Bereich des Wohnens erreicht werden? Ich weiß, dass das kein leichter Prozess war und es einige Probleme gab. Manches ist aber auch gelungen. Und diese Perspektive wurde in den tschechischen Medien nahezu komplett ausgelassen.“

Filip Rambousek:
"2015 hatten alle vier Visegrád-Staaten eine ähnlich harte Einstellung zu den Flüchtlingen. Tschechien, Ungarn, Polen und die Slowakei lehnten die Idee einer Umverteilung von Flüchtlingen nach Quoten innerhalb von Europa strikt ab. Mit den Geflüchteten aus der Ukraine haben sich die Zugänge der einzelnen Visegrád-Staaten im Februar 2022 aber deutlich geändert, sagt Marie Jelínková."

Marie Jelínková (übersetzt ins Deutsche):
„In der Slowakei haben die ukrainischen Flüchtlinge wesentlich weniger Rechte zugesprochen bekommen als in Tschechien. Auch aus diesem Grund sind dort nur wenige von ihnen geblieben. In Ungarn wiederum werden schon seit Langem die Rechte der Zivilgesellschaft gänzlich ausradiert, was in Tschechien nicht passiert. Polen wiederum ist wegen seiner engen historischen Beziehungen zur Ukraine speziell. Die Nähe zur Ukraine ist dort viel größer als in Tschechien – nicht nur in geographischer Hinsicht.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"2015 und 2022 war die tschechische Gesellschaft wegen der Migration mit Krisensituationen konfrontiert – und in jedem der beiden Fälle verhielt sie sich gänzlich anders. Im ersten Fall reagierten die Tschechinnen und Tschechen sehr zurückweisend. Die Politik, die Medien, aber auch die ganz normalen Bürgerinnen und Bürger brachten nur wenig Verständnis auf für die Menschen, die vor dem Krieg flohen. 2022 hingegen wurden die Ukrainerinnen und Ukrainer mit einer Welle der Solidarität willkommen geheißen. Wie kann das sein? Was sagt dieser Zwiespalt über die tschechische Gesellschaft aus? Apolena Rychlíková stellt nicht gerade ein gutes Zeugnis aus…"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Das mit zweierlei Maß gemessen wurde, sagt viel über die starken Vorurteile gegenüber Menschen anderer Hautfarbe, Religion oder aus einem anderen Kulturkreis aus. Diese Vorurteile kommen meiner Ansicht nach von der politischen Elite. Sie spürt, dass ihr dieser negative, hasserfüllte und in gewisser Weise auch rassistische Populismus Punkte bei den Wählern bringen kann.“

Filip Rambousek:
"Die Zuwanderung von Flüchtlingen aus dem Nahen Osten endete zudem nicht 2015 oder 2016 – Menschen aus Syrien und anderen Ländern kommen bis heute in die Europäische Union. Der unterschiedliche Zugang Tschechiens zu Menschen aus verschiedenen Regionen der Welt führte zu einer Reihe paradoxer Situationen – vor allem nach dem Februar 2022, wie Rychlíková schildert:"

Apolena Rychlíková (übersetzt ins Deutsche):
„Es kam etwa dazu, dass Menschen aus der Ukraine kostenlose Eintrittstickets für den Zoo und Gratis-Fahrscheine für den Öffentlichen Personennahverkehr bekamen, was auch völlig in Ordnung ist. Zur gleichen Zeit mussten syrische Geflüchtete aber auf dem Hauptbahnhof übernachten – im Herbst, bei schlechtem Wetter, auf Isomatten, mit glänzenden Rettungsdecken bedeckt, damit sie nicht allzu sehr froren – und darunter waren auch Kinder.“

Filip Rambousek:
"Dem Soziologen Jaromír Mazák zufolge hängt der abweichende Zugang zu den Flüchtlingen aus unterschiedlichen Ländern damit zusammen, inwieweit sich die Tschechinnen und Tschechen mit der jeweiligen Gruppe identifizieren können. Die Geschichten der ukrainischen Geflohenen seien für die meisten Menschen in Tschechien verständlich und deshalb seien sie auch gewillt, zu helfen, meint Mazák:"

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Ich denke, in einigen westlichen Ländern stoßen die Gedanken von Universalismus und universellem Humanismus auf mehr Anklang. Das heißt, dass der Wert eines Menschenlebens immer gleich ist, ganz egal, von wo eine Person kommt. Im Vergleich mit diesem westlichen Zugang sind wir Tschechen vielleicht eher partikulär. Das heißt, wir unterscheiden zwischen dem, was uns nahe ist und uns etwas angeht, und dem, was weit weg ist, für uns als kleines Land sowieso nicht von Belang – und deshalb sollte auch niemand von uns verlangen, dass wir uns des Themas annehmen werden, da wir sowieso nichts ausrichten können. Das Hemd ist uns eben näher als der Rock. Das heißt, wir wollen eher die Dinge angehen, die uns nahe sind und von denen wir etwas verstehen.“

Filip Rambousek:
"Auch deshalb könnte man Jaromír Mazák zufolge nicht voraussetzen, dass eine gelungene Integration der Menschen aus der Ukraine automatisch auch zu einer größeren Offenheit der Tschechinnen und Tschechen gegenüber Menschen aus weiter entfernten Regionen führt."

Jaromír Mazák (übersetzt ins Deutsche):
„Manche legen das sogar als Beleg dafür aus, dass die Tschechen ja gar nichts gegen Migranten haben, sondern es ihnen nur wichtig ist, dass es sich um Migranten handelt, die kompatibel mit dem Leben in Tschechien sind und unser Land nicht bedrohen. Man muss in dieser Hinsicht also vorsichtig ein.“

Filip Rambousek:
"Die Regierungsbeauftragte für Menschenrechte, Klára Šimáčková Laurenčíková, ist da optimistischer. Sie glaubt, dass die erfolgreiche Integration mehrerer Hunderttausend Ukrainerinnen und Ukrainer Tschechien in vielerlei Hinsicht nach vorne bringen kann – und das auch in Sachen Menschenrechte und Politik."

Klára Šimáčková Laurenčíková (übersetzt ins Deutsche):
„Die Erfahrungen mit der Adaption und Integration der ukrainischen Geflüchteten sehe ich als eine Chance dafür, unsere Systeme für die Hilfe Bedürftiger zu verbessern. Damit meine ich etwa Finanzhilfen, funktionierende Sozialdienstleistungen oder eine Förderung mehrsprachiger Kinder in tschechischen Schulen. Diese Erfahrung kann aber auch die menschenrechtliche Perspektive auf Migration weiter öffnen. Ich würde mir sehr wünschen, dass wir ein Land werden, dass seine menschenrechtlichen Verpflichtungen, die es auf dem Feld der Migration hat, einhält. Und ich hoffe, dass wir möglichst verantwortungsbewusst im Dialog zu den zukünftigen Form humanitärer Hilfe und etwa Entwicklungszusammenarbeit agieren. Denn es sollte keine Länder geben, die durch Migration über Jahre hinweg mehr belastet werden als andere. Die Last sollte hingegen gerecht auf alle Staaten verteilt werden. Man muss dafür den Mut finden und darf keine Angst davor haben, politische Schritte zu gehen, die von einem Teil der Öffentlichkeit kontrovers aufgefasst werden könnten. Denn wir müssen diese Schritte gehen – weil es einfach richtig ist und im Kontext der Menschenrechte gerecht.“

[Musikalische Blende]

Filip Rambousek:
"Der sechste – und zugleich letzte – Teil des Podcasts „Sechsmal Tschechien“ ist damit an seinem Ende angelangt. Alle sechs Folgen können sie sich jederzeit online anhören: auf den Webseiten von Radio Prag International und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung sowie in allen gängigen Podcast-Apps. Wenn Ihnen unser Podcast gefallen hat, würde ich mich freuen, wenn Sie ihn Ihren Freunden und Bekannten weiterempfehlen. Vom Mikrophon verabschiedet sich Filip Rambousek."

Zu Gast in dieser Folge:

Martin Rozumek ist Rechtsanwalt. Er arbeitete für das UNO-Flüchtlingswerk in Prag und in Pakistan. Heute ist er Direktor der tschechischen Nichtregierungsorganisation OPU (Organizace pro pomoc uprchlíkům), die Flüchtlingen Hilfe anbietet.

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Dr. Jaromír Mazák ist wissenschaftlicher Leiter bei der Meinungsforschungsagentur STEM. Als Soziologe befasst sich Jaromír Mazák mit Fragen der bürgerlichen und politischen Beteiligung und des sozialen Zusammenhalts. Innerhalb der Agentur STEM konzentriert er sich auf die Entwicklung neuer Forschungsthemen. Zuvor war er an der Karlsuniversität als Forscher und Hochschullehrer mit den Schwerpunkten politische Soziologie, Statistik und Datenanalyse tätig. An derselben Universität hat er auch in Soziologie promoviert. Er verbrachte zwei Trimester als Praktikant an der Universität Oxford und leitete mehrere Projekte zur Wirkungsevaluierung.

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Klára Šimáčková Laurenčíková ist eine tschechische Spezialpädagogin, ab Mai 2022 Menschenrechtsbeauftragte der Regierung von Petr Fiala und ab Februar 2023 Nationale Koordinatorin für die Anpassung und Integration von Flüchtlingen aus der Ukraine und stellvertretende Ministerin für europäische Angelegenheiten der Tschechischen Republik. 2009 bis 2010 war sie stellvertretende Ministerin für Bildung, Jugend und Sport der Tschechischen Republik und von 2011 bis 2022 Ombudsfrau der FAMU. Sie ist ein ehemaliges Mitglied der tschechischen Grünen Partei.

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Olha Cherepiuk ist Leiterin des Gemeindezentrums Svitlo in Prag. Sie kam nach Beginn der russischen Invasion mit ihrem kleinen Sohn aus der Ukraine in die Tschechische Republik. Sie war bei den Anfängen des Gemeindezentrums Svitlo dabei. Heute leitet sie es seit einem Jahr selbst und schafft einen dringend benötigten sicheren Raum im Zentrum Prags, indem sie Sprachkurse, Beratung und Clubs für Kinder aus der Ukraine organisiert.

Apolena Rychlíková ist eine preisgekrönte tschechische Journalistin und Dokumentarfilmerin. Sie war die erste Tschechin, die für den Europäischen Pressepreis nominiert wurde. Ihre Arbeit konzentriert sich auf Fragen der sozialen Ungleichheit, der Arbeit und des Arbeitsmarktes, des Geschlechts, der Stellung von Minderheiten, des Wohnungswesens. Darüber hinaus ist sie auch politische Kommentatorin und Analystin. Ihre investigative Arbeit konzentriert sich vor allem auf die Aufdeckung von Fällen sexueller Gewalt. Neben ihrer journalistischen Arbeit hat sie mit führenden Medienunternehmen an Podcasts und Filmen gearbeitet. Sie ist Mitautorin mehrerer Bücher und Dozentin an der Akademie der Darstellenden Künste. 

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Dr. Marie Jelínková arbeitet als Forscherin am Zentrum für Sozial- und Wirtschaftsstrategien an der Fakultät für Sozialwissenschaften in Prag und hält Vorlesungen am Lehrstuhl für öffentliche und soziale Politik an derselben Fakultät. Ihre Forschung konzentriert sich auf die Themen Migration und Integration von Menschen mit Migrationserfahrung und hat sich auf die Situation von Menschen ohne Aufenthaltsgenehmigung, den Zugang von Migranten zur Gesundheitsversorgung und die Ausbeutung von Arbeitskräften konzentriert. Im Oktober diesen Jahres veröffentlichte sie ihr Buch Local Policies for Migrant Integration and their Structural Mechanisms (Lokale Politiken zur Integration von Migranten und ihre strukturellen Mechanismen), in dem sie die Erfahrungen mit der Integration von Migranten aus der Perspektive von vier verschiedenen Ländern untersucht: der Tschechischen Republik, der Slowakei, Deutschland und Belgien.

Quelle