In Frauen Macht Geschichte geht es um Frauen, die für ihre Rechte kämpften: in den 1920er Jahren und heute, in Polen und in Deutschland, im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg. In sieben Folgen beleuchtet der Podcast Themen, die noch heute politisch kontrovers diskutiert werden – und Frauen in Deutschland und Europa bewegen.

Frauen macht Geschichte ist ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Die Inhalte haben Studierende und Wissenschaftlerinnen recherchiert – und gemeinsam mit der SLpB und dem Sounddesigner Bony Stoev dramaturgisch umgesetzt. Basierend auf dem Lektürekurs „Wissen - Praktiken - Visionen. Die deutsche und polnische Frauenbewegung von ihren Anfängen bis 1933“ sowie der SLpB-Eigenpublikation „Frauen in Sachsen“ und auf gemeinsamen Workshops und Table Reads wurden sieben Folgen zu spannenden Persönlichkeiten und frauengeschichtlich relevanten Themen erarbeitet. Kursleiterinnen an der TU Dresden waren Prof. Susanne Schötz (Professur für Wirtschafts- und Sozialgeschichte) und Dr. Angelique Leszczawski-Schwerk. Die Idee und das Konzept des Podcasts haben Silke Nora Kehl (SLpB) und Susanne Salzmann (TU Dresden) entwickelt. Produktion im Studio: Bony Stoev.

Teaser Frauen Macht Geschichte - Ein Podcast in sieben Folgen

In Frauen Macht Geschichte geht es um Frauen, die für ihre Rechte kämpften: in den 1920er Jahren und heute, in Polen und in Deutschland, im 19. Jahrhundert und nach dem Zweiten Weltkrieg. 

In sieben Folgen beleuchtet der Podcast Themen, die noch heute politisch kontrovers diskutiert werden – und Frauen in Deutschland und Europa bewegen: Es geht um die Geschichte des §218 in der Weimarer Republik und um das Recht auf Schwangerschaftsabbruch in Polen. Unsere Autorinnen nehmen biographische, soziale, gesundheitliche und politische Aspekte in den Blick. Und stellen eine der ersten Dresdnerinnen vor, die als Abgeordnete in den Reichstag einzog.

Ein wichtiges Thema ist die politische Partizipation von Frauen: Die erste polnische First Lady kämpfte als bewaffnete Schmugglerin gegen Russland. Gilt sie zu Recht als Ikone der polnischen Frauenbewegung? Und welche Rolle spielten die Frauen, die 1946 in den ersten Sächsischen Landtag der Nachkriegszeit einzogen? Hatten sie im kommunistisch geprägten Gesellschaftssystem genauso viel Macht und Gestaltungsspielraum wie Männer? Abschließend blicken wir auf das 19. Jahrhundert und die Initiatorin der deutschen Frauenbewegung, Louise Otto-Peters. Was hat sie mit August Bebel gemein und wieso hat er im kollektiven Gedächtnis einen größeren Platz als sie? Wer schreibt Geschichte, wer bleibt in Erinnerung?

Folge 1: Der §218 in der Weimarer Republik (1/2)

Rauschende Partys, gesellschaftlicher Aufbruch, kulturelle Blüte – und gleichzeitig extreme Armut in Arbeiterfamilien, zerstörte Leben nach dem Ersten Weltkrieg, Inflation. Und die erste Demokratie in Deutschland: Mit der Weimarer Republik begann 1918/19 eine neue Epoche, in der gleich zu Anfang auch das aktive und passive Frauenwahlrecht eingeführt wurde. Unsere Autorinnen Hannah Schollmeier und Mina Weidner wollten wissen: Wie wurde in dieser Zeit über den §218 debattiert? Seit wann gibt es den Paragraphen überhaupt? Die beiden haben dazu geforscht und sind auf Anna Margarete Stegmann gestoßen, eine in Dresden lebende Ärztin. 1924 wurde sie Abgeordnete im Deutschen Reichstag und ihre Reden zum §218 und zur sozialen Frage sind schriftlich überliefert. Unter welchen Bedingungen Arbeiterfrauen und bürgerliche Frauen Familien gründeten, warum sie Schwangerschaften abbrachen, und was es bedeutete, unehelich schwanger zu werden: Darüber spricht Privatdozentin Dr. Silke Fehlemann im Interview mit unseren Autorinnen. PD Silke Fehlemann ist Historikerin und forscht im Bereich Neuere und Neueste Geschichte an der TU Dresden zu Frauen- und Familiengeschichte.

Anmerkung: Im Beitrag sagen unsere Autorinnen, dass Anna Margarete Stegmann von 1924 bis 1932 Reichstagstagsabgeordnete war. Es muss heißen: 1924 bis 1930. Dafür entschuldigen wir uns.

Mehr Informationen zu dieser Folge:

Für Folge 1 Der §218 in der Weimarer Republik (1/2) wurde folgende Literatur verwendet:

Quellen

Literatur

  • Archiv der deutschen Frauenbewegung: Eine tiefliegende Misogynie, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, URL: Eine tiefliegende Misogynie / Digitales Deutesches Frauenarchiv  [Zuletzt abgerufen am 29.10.2024].
  • Behren, Dirk von, Die Geschichte des §218 StGB, Gießen 2019.
  • Boak, Helen: Women in the Weimar Republic, Manchester 2013.
  • Deutsche Biographie: Art. Stegmann, Margarete, URL: Deutsche Biographie - Stegmann, Anna Margarete [zuletzt aufgerufen am 02.11.2024].
  • Dienet, Christiane: Das 20.Jahrhundert (I). Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau, in: Jütte, Robert (Hrsg.): Geschichte der Abtreibung von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993, S. 140-168.
  • Hagemann, Karen: Frauenalltag und Männerpolitik, Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990.
  • Soden, Kristine von: „§218 - streichen, nicht ändern!” Abtreibung und Geburtenregelung in der Weimarer Republik, in: Staupe, Gisela (Hrsg.): Unter anderen Umständen, Zur Geschichte der Abtreibung, Dresden 19962, S. 36-50.
  • Schroot, Tanja: Geburtenregelung in der Weimarer Republik, in: Metz-Becker, Marita (Hrsg.): Wenn Liebe ohne Folgen bliebe...: zur Kulturgeschichte der Verhütung, Marburg 2006, S. 35 – 41.
  • Scriba, Arnulf: Der Abtreibungsparagraph 218, in: Lebendiges Museum Online (02.09.2014), URL: LeMO Weimarer Republik – Alltagsleben -Abtreibungsparagraph 218 [zuletzt aufgerufen am 02.11.2024].
  • Usborne, Cornelie: Social Body, Racial Body, Woman’s Body. Discourses, Policies, Practices from Wilhelmine to Nazi Germany, 1912-1945, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 36/2 (2011), S. 140–61.

Zum Weiterlesen über die Weimarer Republik hinaus: Archiv der deutschen Frauenbewegung (Hrsg.): Unfruchtbare Debatten? 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch, Kassel 2021.

Musik:

Intro: Frauen. Macht. Geschichte.

Susanne Salzmann:
Hallo, mein Name ist Susanne Salzmann und ich sitze heute hier mit Mina und Hannah und wir sprechen über das Thema Abtreibung in der Weimarer Republik. Mina, möchtest du erstmal was zu dir sagen als Vorstellung?

Mina:
Ja, hi, ich bin Mina und ich studiere an der TU Dresden Geschichte auf Lehramt. Gemeinsam mit Hannah haben wir ein Seminar zur Frauenbewegung im frühen 20. Jahrhundert besucht und uns dann für dieses Thema entschieden.

Susanne Salzmann:
Hannah, wie sieht das bei dir aus?

Hannah:
Also ich bin Hannah, ich studiere auch Lehramt für Geschichte – und, wie Mina schon gesagt hat, wir haben uns das Thema Abtreibung in der Weimarer Republik ausgesucht und da ein bisschen Recherche betrieben.

Susanne Salzmann:
Und was hat Euch daran bewegt? Also Abtreibung ist ja nicht das Thema, auf das man jetzt wahrscheinlich zuallererst kommt, wenn man sich mit dem Thema Frauenbewegung, oder, na gut, vielleicht ist es naheliegend, aber was hat euch bewegt? Also warum habt ihr Euch ausgerechnet für dieses Thema entschieden?

Mina:
Ja, spannend an dem Thema ist eben, dass es auch nach 100 Jahren noch nicht an Aktualität verloren hat.

Hannah:
Genau, also in Deutschland ist es ja, wie gesagt, noch nicht mal 100 Jahre her, dass so das, was wir heute als modernes Abtreibungsgesetz bei uns ansehen und im Gegensatz zu vielen Ländern auch recht fortschrittlich ist. Und wenn man das vergleicht mit Roe v. Wade zum Beispiel in den USA letztes Jahr oder der Situation in Polen, die ja jetzt erst vor kurzem wieder sich gelockert hat, dann ist natürlich interessant zu sehen, woraus sich das entwickelt hat in den letzten 100, 200, 500 Jahren.

Mina:
Und weil es so ein großes Thema ist, haben wir es eben in zwei Folgen geteilt. Und in der ersten Folge wird es jetzt um Anna Margarete Stegmann gehen, eine relativ unbekannte, aber doch auch einflussreiche Frau, die sich während der Weimarer Republik dafür eingesetzt hat, dass die beiden Paragraphen 218 und 219 reformiert werden.

Susanne Salzmann:
Ja, dann freue ich mich auf die erste Folge jetzt mit euch beiden. Ihr habt dazu gearbeitet und ich bin sehr gespannt, wie Ihr das Thema jetzt beleuchtet.

Teaser: Frauen macht Geschichte. Ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden.

Hannah:
My Body, My Choice. Dieser Satz wird wichtig, wenn es um die Abtreibungsdebatte geht. In Deutschland werden Abtreibungen im Paragraph 218 geregelt. Darin steht, wer die Schwangerschaft nicht innerhalb von zwölf Wochen und nach intensiver Beratung beendet, muss das Kind austragen, zum Schutz des ungeborenen Lebens. Doch der Paragraph ist nichts Neues, im Gegenteil.

Musik

Sprecher, männlich:
Die goldenen 20er Jahre. Junge Menschen feiern rauschende Partys, durchtanzen die Nächte zu Charleston-Musik und der Champagner fließt in Strömen. Mit der Weimarer Republik hat sich nach dem Ersten Weltkrieg die erste deutsche Demokratie etabliert und zum ersten Mal dürfen auch Frauen zur Wahlurne schreiten und als Politikerinnen in die Parlamente einziehen. Doch die Zeit, die im kulturellen Gedächtnis oft als glanzvoll erscheint, blendet häufig die Schattenseiten einer Gesellschaft aus, in der Armut und Not das Leben vieler Menschen prägte. Nahrungsmittelknappheit und Arbeitslosigkeit waren trauriger Alltag vieler Deutscher. Besonders hart traf es Familien mit Kindern, deren Väter im Krieg gefallen oder so stark verletzt worden waren, dass, wenn überhaupt, nur ein Einkommen zur Versorgung der Familie zur Verfügung stand.

Hannah:
Nachvollziehbar, dass die Entscheidung, ein Kind auszutragen, eine existenzielle Frage darstellte, die nicht nur gesellschaftlich, sondern auch politisch Streitpunkt einer heftigen Debatte war. 

Mina:
Eine Frau, die sich ganz besonders für die Reform der Paragrafen einsetzte, war die Ärztin, Frauenrechtlerin und Politikerin Anna Margarete Stegmann.

Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Meine Herren und Damen, der Paragraf 218 des bisherigen Strafgesetzbuches, der Zuchthausstrafen für einen Eingriff in eine bestehende Schwangerschaft vorsieht, ist ein Gesetz, das von Männern am Grünen Tisch ausgedacht worden ist. Am Grünen Tisch, wo sie die Erfahrungen, die sie draußen gemacht haben, vergessen hatten.“

Hannah:
Was bedeutet es eigentlich, etwas am Grünen Tisch zu machen?

Mina:
Ja, etwas am Grünen Tisch zu entscheiden bedeutet, dass bei Verhandlungen oder Beratungen ohne Bezug zur Realität oder zur Praxis über etwas entschieden wird.

Hannah:
Sie sagt also, dass der Paragraf 218 ein Gesetz ist, bei dem über die Köpfe der Frauen hinweg von Männern entschieden wurde, obwohl der Paragraf ja eigentlich nur Personen betrifft, die schwanger werden können.

Mina:
Ja, das ist ein Kernpunkt ihrer Argumentation. Aber sie führt noch weitere Argumente an, und das ist ganz interessant, weil sie da direkt an zeitgenössische Debatten anknüpft und uns so einen Einblick in die Bandbreite der Diskussion ermöglicht. Ihre Begründungen sind wirklich vielfältig und reichen von der sozialen Frage über medizinische Aspekte bis hin zur Religion. Sie greift auch zeitgenössische Vorstellungen der sogenannten Rassenhygiene auf, die bereits vor 1933 in Deutschland und anderen Ländern eine Rolle spielte. Die Basis ihrer Argumentation ist aber die soziale Frage, gleichzeitig auch Kernpunkt ihrer Partei.

Hannah:
Und um das besser zu verstehen, müssen wir einen Blick in das Leben von Anna Margarethe Stegmann werfen.

Musik

Mina:
Geboren am 12. Juli 1871, wächst sie als das zwölfte Kind eines Schweizer Landwirtes auf. Nach dem Abitur entscheidet sie sich für ein Medizinstudium in Bern und Zürich. Sie promoviert und arbeitet als Assistenzärztin in Zürich, bevor sie 1920 in Deutschland ihre Zulassung erhält und eine Praxis für Allgemein- und Nervenmedizin in Dresden eröffnet. Hier macht sie sich nicht nur als einfühlsame und verständnisvolle Ärztin, sondern auch als Kunstsammlerin einen Namen, die im regen Austausch mit zeitgenössischen Künstlern wie Paul Klee oder Emil Nolde steht.
Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann: „Die Schaffung besserer Zustände ist unsere Pflicht. Aber auf dem Wege dahin müssen wir diese ganze Not, die in der Frauenwelt lebt, begreifen und ihr Rechnung tragen, wenn wir den Frauen die Freiheit und die Selbstverantwortlichkeit über sich geben.”

Hannah:
Zwei Themen begleiten sie hierbei ihr Leben lang – soziale Gerechtigkeit und Frauenrechte. Bereits in ihrer Promotion beschäftigt sie sich mit den psychologischen Hintergründen von Kindsmord und der Opferrolle der Frau. Sie ist Mitglied in zahlreichen sozialnützigen und frauenrechtlichen Vereinen. Und sobald es 1918 für Frauen möglich wird, parteipolitisch aktiv zu werden, tritt sie der SPD bei.

Mina:
Zunächst wirkt sie als unbesoldete Stadträtin in Dresden. Sie und zwei weitere Frauen waren die ersten weiblichen Stadträte in Dresden überhaupt. 1924 wurde sie schließlich in den Reichstag gewählt, wo sie sich bis 1930 aktiv für Frauenrechte und soziale Gerechtigkeit sowie eine Reform der Paragraphen 218 und 219 einsetzte. Hannah, woher kommen die beiden Paragraphen eigentlich und was besagen sie?

Hannah:
Die Paragraphen 218 und 219, so wie sie in der Weimarer Republik existierten, gibt es bereits seit 1871.

Sprecher, männlich:
„Paragraph 218: Eine Schwangere, welche ihre Frucht vorsätzlich abtreibt oder im Mutterleibe tötet, wird mit Zuchthaus bis zu fünf Jahren bestraft. Sind mildernde Umstände vorhanden, so tritt Gefängnisstrafe nicht unter sechs Monaten ein. Dieselben Strafvorschriften finden auf denjenigen Anwendung, welche mit Einwilligung der Schwangeren die Mittel zu der Abtreibung oder Tötung bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat. Paragraph 219: Mit Zuchthaus bis zu zehn Jahren wird bestraft, wer einer Schwangeren, welche ihre Frucht abgetrieben oder getötet hat, gegen Entgelt die Mittel hierzu verschafft, bei ihr angewendet oder ihr beigebracht hat.“

Hannah:
Wie wir gehört haben, stehen hohe Strafen auf Abtreibung. Das hat lange Tradition, seit dem 16. Jahrhundert, nur stand es davor sogar noch unter Todesstrafe.

Mina:
In der Weimarer Republik forderten dann viele Frauen die Abschaffung oder Reform der Paragraphen, die sie für hohe Todeszahlen bei illegalen Abtreibungen verantwortlich machten und als Einschränkung des Selbstbestimmungsrechts als Menschenrecht anprangerten. So auch Anna Margarete Stegmann.

Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Wir haben die Erschütterungen über die Tatsache des Krieges und des Kriegsgräuels noch nicht überwunden. Wir sind noch wurzellos. Wir stehen noch viel mehr in der Luft, als die meisten von uns wissen. Das sind Lebensbedingungen, die für Zeugungs- und Mutterwillen sehr ungünstig sind, die auch in absehbarer Zeit keine wesentlichen Besserungen erfahren werden. In dieser Zeit bedeuten die Strafandrohungen für Eingriffe in das keimende Leben einen Fluch, eine unberechtigte Härte, eine Grausamkeit und eine ganz sinnlose Vermehrung der Not. Dieser Fluch ist auf jene gelegt, die unter allen ungünstigen Verhältnissen ohnehin am meisten zu leiden haben, auf die Hilflosen, auf die Frauen.“

Hannah:
Wir haben mit Privatdozentin Dr. Silke Fehlemann gesprochen, um noch einmal einen anderen Blickwinkel auf das Thema zu bekommen. An der TU Dresden forscht sie als Historikerin, unter anderem zum Thema Frauen- und Familiengeschichte. Frau Dr. Fehlemann, vor welchen Herausforderungen standen Familien, insbesondere Frauen, in der Weimarer Republik?

Dr. Silke Fehlemann:
Frauen waren besonders vor wirtschaftliche Schwierigkeiten gestellt und Armut war weiblich. Der Anteil an Fürsorgeempfängerinnen war höher als bei den Männern. Die drei wesentlichen Armutsfaktoren waren hier Mutterschaft, Alter und Krankheit. Und diese Risiken verstärkten sich noch mit der wirtschaftlichen Depression in den späten 1920er und frühen 30er Jahren. Und dabei bestand in Deutschland die höchste Rate an weiblichen Selbstmorden. Dabei war Armut mit Einschränkung ein schichtenübergreifendes Phänomen. Denn die Hyperinflation hatte dazu geführt, dass sich eigentlich nur Familien mit Immobilienbesitz ihr Vermögen halten konnten. 

Hannah:
In den Quellen wird häufig eine Differenz zwischen bürgerlichen und proletarischen Frauen aufgemacht. Inwiefern zeichnen sich Unterschiede in Bezug auf ungeplante Schwangerschaften ab?

Dr. Silke Fehlemann:
Die Weimarer Republik war eine Zeit des Umbruchs, so auch in Bezug auf ungeplante Schwangerschaften. Dabei bestanden Unterschiede zwischen proletarischen und bürgerlichen Familien, die sich aber im Verlauf der Republik dann zunehmend einebneten. Während der Zeit der Republik wurde es auch in bürgerlichen Familien zunehmend unüblich, eine unehelich schwangere Frau zu verstoßen. Dennoch muss man sagen, dass es aufgrund ökonomischer Heiratsbeschränkungen in proletarischen Verhältnissen durchaus verbreiteter war, unehelich schwanger zu werden und in gewisser Weise auch normaler. Insgesamt wurde vorehelicher Geschlechtsverkehr in der Republik üblicher und das Wissen um Verhütungsmittel verbreiteter. Mindestens so stark wie die Unterschiede zwischen Arbeiterschichten und bürgerlicher Herkunft waren aber die zwischen Stadt und Land.

Hannah:
Was bedeutete es eigentlich für Frauen, ehelos schwanger zu werden?

Dr. Silke Fehlemann:
Die Erfahrung war natürlich sehr individuell, aber der Mutterschutz bzw. auch das Wochengeld war äußerst begrenzt. Es war aber so, dass während der Weimarer Republik Wöchnerinnenleistungen auch an uneheliche Mütter grundsätzlich ausgezahlt wurden. Also in gewisser Weise verbesserte sich die Akzeptanz und auch die politischen Rahmenbedingungen wurden besser. Aber was eben sehr ins Gewicht fiel, war, dass die ökonomischen Bedingungen sich verschlechterten und das traf ehelose Mütter in besonderem Maße. Dabei gab es Fürsorgeleistungen wie zum Beispiel Mütterberatungsstellen, wo die Frauen sich aber eher im Hinblick auf Kindererziehung und Kinderhygiene beraten lassen konnten. Für ehelose Mütter war Wohnungs- und Arbeitssuche natürlich äußerst schwierig und viele uneheliche Schwangere suchten sogenannte Engelmacherinnen auf und ließen sich auf illegale Abtreibungen ein.

Hannah:
Gab es soziale Konsequenzen oder Verpflichtungen für die Väter?

Dr. Silke Fehlemann:
Uneheliche Väter konnten nur schwer belangt werden, da die Vaterschaft geleugnet werden konnte. Insgesamt erkannten 60 Prozent die Vaterschaft an ohne Gerichtsverfahren und weitere 20 Prozent nach einem Richterspruch. Knapp 70 Prozent derer, die die Vaterschaft eben problemlos, also ohne Richter anerkannten, stammten aus der Arbeiterschicht. Also da sieht man auch schon, dass es eben in der Arbeiterschicht weitaus üblicher war, unehelich schwanger zu werden sozusagen oder uneheliche Kinder zu bekommen. Die Fürsorgebehörden kümmerten sich darum, die nicht zahlenden Väter um Unterhalt zu ersuchen. Dabei gab es natürlich zahlreiche Schwierigkeiten wie Ummeldung, Leugnen der Vaterschaft oder Zahlungsunfähigkeit.

Hannah:
Es wird nochmal ganz deutlich, dass Beweggründe für einen Schwangerschaftsabbruch in gesellschaftlichen Problemen lagen. Das sieht auch Anna Margarete Stegmann. Laut ihr sind Frauen von diesen Problemen ganz besonders betroffen, in allen Schichten. Wir dürfen nicht vergessen, dass auch bürgerliche Frauen abtrieben. Das betont auch Stegmann in einer Rede von 1925.

Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Nicht als ob wir nicht wüssten, dass es nicht bloß Proletarierinnen sind, die unter der Not dieser Strafgesetzparagraphen leiden. Nein, wir wissen ganz genau, dass auch die bürgerlichen Frauen dadurch betroffen werden!“

Mina:
In diesem Teil des Podcasts haben wir uns viel mit den Hintergründen der Paragraphen und den Gründen für eine Abtreibung beschäftigt. Im nächsten Teil möchten wir schauen, wie die Gesellschaft das Thema verarbeitet und wie sich der Rest der Frauenbewegung dazu positioniert. Vielen Dank fürs Zuhören.

Abspann:
Das war Folge 1 von Frauen macht Geschichte. Ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Autorinnen: Mina Weidner und Hannah Schollmeier. Sprecherin: Kirsten Schumann. Sprecher: Robby Langer. Redaktion: Professorin Susanne Schötz und Silke Nora Kehl. Produktion: Bony Stoev. Idee und Konzept: Susanne Salzmann und Silke Nora Kehl

Anmerkung: Im gesprochenen Beitrag sagen unsere Autorinnen, dass Anna Margarete Stegmann von 1924 bis 1932 Reichstagstagsabgeordnete war. Es muss heißen: 1924 bis 1930. Dafür entschuldigen wir uns, in diesem Manuskript haben wir diesen Fehler korrigiert.

Folge 2: Der §218 in der Weimarer Republik (2/2)

In Folge 1 haben unserer Autorinnen Hannah und Mina die Dresdner Ärztin und Politikerin Anna Margarete Stegmann vorgestellt, die von 1924 bis 1930 Abgeordnete im Deutschen Reichstag war. Als Sozialdemokratin hatte sie die Lage von Arbeiterinnen im Blick, die ungewollt schwanger wurden und setzte sich in ihren Parlamentsreden für eine Reform der Paragrafen 218 und 219 ein. Folge 2 zeigt neben Stegmanns Position vor allem, wie das Thema in der Presse der Weimarer Republik dargestellt wurde. Die hier zitierten, vorwiegend politisch links stehenden Zeitungen beschrieben drastisch, wie Frauen an illegalen Schwangerschaftsabbrüchen starben – oder wie mittellose Frauen aus Verzweiflung ihr Neugeborenes töteten. In Überschriften einer Arbeiterzeitung wurde der §218 als „Mordparagraph“ bezeichnet. Auch die harten Konsequenzen, die der §219 für Ärzte, die einen Abbruch durchführten, hatte, wurden in der Presse aufgegriffen. Entscheidend für die Redakteure war die soziale Not der Frauen. Aber auch die Position gegen eine Reform der Paragrafen 218 und 219 wird benannt – etwa die der liberalen Politikerin und Schriftstellerin Gertrud Bäumer, für die neben Gesundheit und Fürsorge vor allem der sittliche Aspekt eine Rolle spielte.

Mehr Informationen zu dieser Folge:

Für Folge 2 Der §218 in der Weimarer Republik (2/2) wurde folgende Literatur und ein Tonmitschnitt verwendet:

Tonmitschnitt 

Quellen

  • Adler, Hilde: Freigabe der Vernichtung keimenden Lebens, in: Die Frau 7 (1921), S. 205
  • Bäumer, Gertrud: Der Meinungskampf um den §218 StGB, in: Die Frau 6 (1925), S. 355 – 363
  • Credé, Carl: Frauen in Not. §218, Berlin 1929.
  •  à Daraus sind die Zeitungsartikel entnommen
  • Kramer, Jurji/ Tintner, Hans (Regisseure): Cyankali (1977), Arte Edition 2016.
  • Stegmann, Margarete: Redebeitrag zum §218, in: Verhandlungen des Reichstages, Bd. 385 (1924), Berlin 1925, S. 1133-1137, URL:  https://daten.digitale-sammlungen.de/0000/bsb00000069/images/index.html?fip=193.174.98.30&id=00000069&seite=32 [zuletzt aufgerufen am 02.11.2024].
  • Stegmann, Margarete: Beitrag zur Psychologie des Kindsmords (Dissertation), Leipzig 1910.

Literatur

  • Archiv der deutschen Frauenbewegung: Eine tiefliegende Misogynie, in: Digitales Deutsches Frauenarchiv, URL: Eine tiefliegende Misogynie / Digitales Deutesches Frauenarchiv  [Zuletzt abgerufen am 29.10.2024].
  • Behren, Dirk von, Die Geschichte des §218 StGB, Gießen 2019.
  • Boak, Helen: Women in the Weimar Republic, Manchester 2013.
  • Deutsche Biographie: Art. Stegmann, Margarete, URL: Deutsche Biographie - Stegmann, Anna Margarete [zuletzt aufgerufen am 02.11.2024].
  • Dienet, Christiane: Das 20.Jahrhundert (I). Frauenbewegung, Klassenjustiz und das Recht auf Selbstbestimmung der Frau, in: Jütte, Robert (Hrsg.): Geschichte der Abtreibung von der Antike bis zur Gegenwart, München 1993, S. 140-168.
  • Hagemann, Karen: Frauenalltag und Männerpolitik, Alltagsleben und gesellschaftliches Handeln von Arbeiterfrauen in der Weimarer Republik, Bonn 1990.
  • Soden, Kristine von: „§218 - streichen, nicht ändern!” Abtreibung und Geburtenregelung in der Weimarer Republik, in: Staupe, Gisela (Hrsg.): Unter anderen Umständen, Zur Geschichte der Abtreibung, Dresden 19962, S. 36-50.
  • Schroot, Tanja: Geburtenregelung in der Weimarer Republik, in: Metz-Becker, Marita (Hrsg.): Wenn Liebe ohne Folgen bliebe...: zur Kulturgeschichte der Verhütung, Marburg 2006, S. 35 – 41.
  • Scriba, Arnulf: Der Abtreibungsparagraph 218, in: Lebendiges Museum Online (02.09.2014), URL: LeMO Weimarer Republik - Alltagsleben - Abtreibungsparagraph 218 [zuletzt aufgerufen am 02.11.2024].
  • Usborne, Cornelie: Social Body, Racial Body, Woman’s Body. Discourses, Policies, Practices from Wilhelmine to Nazi Germany, 1912-1945, in: Historical Social Research / Historische Sozialforschung 36/2 (2011), S. 140–61. 

Zum Weiterlesen über die Weimarer Republik hinaus: Archiv der deutschen Frauenbewegung (Hrsg.): Unfruchtbare Debatten? 150 Jahre gesellschaftspolitische Kämpfe um den Schwangerschaftsabbruch, Kassel 2021.

Musik:

Intro: Frauen. Macht. Geschichte.

Susanne Salzmann:
Hallo, mein Name ist Susanne Salzmann. Ich sitze heute mit Mina und Hanna hier zum Thema „Abtreibung in der Weimarer Republik“. Beide sind Studentinnen des Fachs Geschichte an der TU Dresden und haben dazu gearbeitet. Hannah, zu der Frage, was haben jetzt alle da draußen in der ersten Folge verpasst? Vielleicht kannst du dazu nochmal kurz was sagen.

Hannah:
Für alle, die unsere erste Folge verpasst haben. Wir haben uns über Anna Margarete Stegmann unterhalten, einer wichtigen Frau in der Bewegung, eine relativ unbekannte. Und auch generell über die Forderung nach einer Reform des Abtreibungsrechts in der Weimarer Republik.

Mina:
Und in dieser zweiten Folge wird es darum gehen, dass die Debatte über die Lösung der sozialen Frage und dem Abtreibungsrecht nicht innerhalb der Parteien und Parlamente geblieben ist, sondern auch von der Gesamtgesellschaft durchaus kritisch diskutiert wurde.

Susanne Salzmann:
Ja, vielen Dank euch beiden. Dann bin ich jetzt sehr gespannt auf diese Folge.

Teaser: Frauen macht Geschichte. Ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden.

Mina:
Triggerwarnung: Es wird im Laufe der Folge immer wieder um Gewalterfahrungen gehen. Wenn Ihr sensibel auf dieses Thema reagiert, dann hört den Podcast besser nicht oder nur mit einer Person, mit der Ihr hinterher darüber sprechen könnt.

Mina:
Bericht aus Die Welt am Abend, 19. September 1929:

Sprecher, männlich, Zitat aus historischer Quelle:
„Paragraf 218. Auf dem Boden des Eckhauses Kurfürstendamm wurde vom Pförtner gestern Nachmittag die Leiche eines neugeborenen Kindes gefunden. Ein zweites Neugeborenes, ein Mädchen, fand man in graues Packpapier gewickelt in einem Gebüsch an der großen Spielwiese im Plänterwald. Beide Leichen wurden beschlagnahmt und ins Schauhaus gebracht. Jetzt sucht man natürlich die unglücklichen Mütter, um sie nach den Buchstaben des Gesetzes einzusperren. Der Paragraf 218 hat wiederum zwei Mütter aus Not und Verzweiflung ins Verbrechen getrieben.“

Hannah:
Die Neue Arbeiterzeitung aus Hannover schreibt:

Sprecher, männlich, Zitat aus historischer Quelle:
„Die Folgen des Mordparagrafen 218: Einer Kurpfuscherin in die Arme getrieben. Sie nahm den Eingriff vor und nach wenigen Tagen war Erna W. tot. Die Kurpfuscherin M. wollte helfen, doch sie mordete. Frau M. sagte vor Gericht, die Not habe sie zu dieser Tat gezwungen. Mit 45 Mark vom Wohlfahrtsamt hätte sie ihr Leben und das Leben ihres kranken Sohnes nicht fristen können. Immer wieder betonte sie ihre Notlage. Vollkommen zusammengeknickt unter dem schweren Verlust saß der Bräutigam auf der Anklagebank. Er stand kurz vor der Heirat, hing über alle Maßen an seiner Braut und wollte ihr in ihrem Leid helfen. Der Paragraf 218 brachte ihn selbst auf die Anklagebank.“

Hannah:
In diesen Berichten wird deutlich, was ein aufgedeckter Schwangerschaftsabbruch für Folgen hatte. Nicht nur für die Schwangere selbst, sondern auch für Angehörige. Der Verlobte wollte ihr helfen, brach damit aber selber die Paragrafen, indem er seiner Braut Zugang zu einer Abtreibung verschaffte. Und auch die Ärztinnen und Ärzte sowie Privatpersonen, die Abtreibungen vornahmen, setzen sich stets einem hohen Risiko aus, wie ein Bericht der Celler Volkszeitung zeigt.

Sprecher, männlich, Zitat aus historischer Quelle:
„Arzt auf der Strecke. Selbstmord eines Arztes wegen Paragraf 218. Der praktische Arzt Dr. F., gegen den ein Strafverfahren wegen Vergehens gegen Paragraf 218 schwebt und der nun gegen hohe Kaution von der Untersuchungshaft verschont blieb, hat sich auf der Strecke von G. nach O. vor den Zug geworfen. Die Räder zerstückelten den Körper des Arztes, dessen Leiche morgens von einem Streckenwärter aufgefunden wurde.“

Mina:
In den 1920ern argumentierten viele linke Frauenbewegungen auch damit, dass vor allem Frauen betroffen sind, die sich keine sichere Abtreibung leisten können. Die Frage nach nach der Abtreibung wird damit zur Klassenfrage, die auch massenmedial hohe Wellen schlägt. Es sind Theaterstücke und auch Filme überliefert, die diese Frage thematisieren, zum Beispiel das Drama Cyankali von Friedrich Wolff. Verfilmt 1930 als Stummfilm, wurde es 1977 in der DDR von Juri Kramer neu verfilmt. Im Stück wird die junge Frau Hethe in prekären Arbeits- und Lebensbedingungen mit einer ungeplanten Schwangerschaft konfrontiert.

Dialog aus dem verfilmten Stück Cyankali:

Hethe:
„Das ist doch kein Verbrechen. Das ist doch wirklich kein Verbrechen, wenn Sie mir helfen. Ick musste weg von zu Hause. Wir haben ja für uns selber nischt. Die Aussperrungen dauerten schon vier Wochen. Kaum Brot, Kartoffeln, fünf Menschen in der Kammer. Wo sollen denn da nen Sechstes hin? Sie sind doch Arzt. Sie sehen ja täglich det Elend. Sie müssen mir helfen.“

Arzt:
„Wenn ich Sie recht verstehe, fordern Sie von mir eine strafbare Handlung.“

Hethe:
„Ich weiß nicht, wat Sie da sagen. Ich brauche Hilfe. Einfach Hilfe.“

Mina:
Nachdem Hethe vom Arzt abgewiesen wurde, begibt sie sich nach einem erfolglosen Versuch, selbst abzutreiben, in die Hände von einer Kurpfuscherin, die ihr Zyankali verabreicht. In Sterbenskrämpfen bringt sie die letzten Worte hervor: „Zehntausend müssen sterben. Hilft uns denn niemand?“

Hannah:
Neben der Not nicht vermögender Frauen werden im weiteren Verlauf des Films noch weitere Aspekte von Hethe angesprochen. Mit darunter die fehlende Aufklärung, insbesondere im Arbeitermilieu, und den Übergriffen durch Männer, denen die Frauen ausgesetzt sind. Ersteres betraf insbesondere Frauen aus der unteren Schicht, wo Aufklärung in der Hand der Eltern lag. Bürgerliche Frauen wiederum hatten oftmals Zugang zu Verhütungswissen, beispielsweise über Sexratgeber wie Die vollkommene Ehe von Theodor Henrik van de Felde aus dem Jahr 1926.

Mina:
Auch wenn eine Berichtssammlung Frauen in Not des sächsischen Arztes, Schriftstellers und Befürworters des Abbruchs von Schwangerschaften, Carl Crede, zeigt, dass sich die Problematik ungewollter Schwangerschaften auch in sehr jungem Alter durch alle Gesellschaftsschichten zieht, wird doch auch hier wieder betont:

Sprecher, männlich, Zitat aus historischer Quelle:
„Wie ich schon einmal schrieb, die Spatzen pfeifen es von den Dächern. Eine reiche Frau findet immer Mittel und Wege, sich einer unerwünschten Schwangerschaft zu entledigen. Das Proletarierweib hingegen riskiert dabei schwere Bestrafung und vor allem Kopf und Kragen, wenn sie verbotene Wege geht, wenn dunkle Helfer auftreten. Dann stehen Leben und Gesundheit auf dem Spiele, während eine reiche Frau oft, meist hinter dem sicheren Schutz – weil ärztliche Atteste –  vor der Justiz geschützt, glatt und sauber, ohne nachteilige Folgen operiert wird.“

Mina:
Stegmann knüpft an diesen Punkt an, wenn sie erklärt, dass, wenn die Gesellschaft gut ist, es keinen Paragrafen 218 mehr braucht, weil dann nicht aus Not heraus abgetrieben wird. Die schweren gesundheitlichen Folgen einer Abtreibung aus der Not heraus, führt sie in einem Fall an, der damals durch alle Zeitungen ging.

Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Ich erinnere Sie an den Fall, von dem kürzlich unsere Zeitungen erzählten. Ein Mann ging zu einer dieser Helferinnen und fragte nach seiner Frau, die nicht nach Hause gekommen war. Die Frau wurde dort verleugnet. Man behauptete, man hätte sie nicht gesehen. Als er nachforschte, fand er ihre Leiche in einem Korbe. Sie war beim Eingriff der Helferin gestorben und aus Angst hatte diese Frau den Mann nicht benachrichtigt, sondern die Leiche versteckt. Wie entsetzlich viel Angst spricht aus einem solchen Vorkommnis. Wie entsetzlich viel Angst bei diesen Frauen und bei denen, die ihnen helfen, bewirken diese Gesetzesparagrafen. Es ist höchste Zeit, dass wir dieser Not der Bevölkerung Rechnung tragen und hier eine Änderung eintreten lassen!“

Mina:
Es gibt jedoch auch innerhalb der Frauenbewegung Stimmen gegen die Reform der Paragrafen. Diese betonen neben Gesundheit und Fürsorge auch den sittlichen Aspekt.

Hannah:
Gertrud Bäumer zum Beispiel, liberale Politikerin und Schriftstellerin, sah in den Paragrafen eine Züchtigung sexueller Verwilderung, welche in einer, wie sie es sagt, Ausuferung des außerehelichen Geschlechtsverkehrs enden und eine Verrohung des sittlichen Bewusstseins nach sich ziehen, so wie jede Achtung vor der Frau zerstören würde. Laut ihr würde ein Abschaffen des Paragrafens die Frauen schutzlos an die Männer ausliefern. Sie befürchtet eine Zunahme an sexueller Ausbeutung in und außerhalb der Ehe. Die straffreie Beseitigung einer Schwangerschaft würde also laut ihr sogar eher dem Mann zugutekommen. Ihre Meinung veröffentlicht sie 1925 in der Zeitschrift des Bundes deutscher Frauen Die Frau.

Mina:
Stegmann widerspricht dem aber.

Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Ohne Selbstverantwortlichkeit kann es keine Sittlichkeit geben.“

Musik

Mina:
Vor fast 100 Jahren kämpften Frauen für eine Reform des Abtreibungsgesetzes. Dabei ähneln sich manche Probleme und Argumente mit heutigen. Eine Abtreibung ist noch immer mit bürokratischen Hürden und einer psychischen Belastung für die schwangere Person verbunden. Und auch, wenn die Zahl der illegalen Abtreibungen in Deutschland abgenommen hat, zeigt der Blick auf unser Nachbarland Polen in der nächsten Folge deutlich, wie aktuell die Frage, welche Stegmann vor gut 100 Jahren dem Parlament stellte, noch heute ist.

Sprecherin weiblich, Zitat Anna Margarete Stegmann:
„Die Frauen entscheiden heute in der Politik über die wichtigsten Fragen mit, über Krieg und Frieden. Ist es da nicht ein Unding, dass wir sie nicht über ihren eigenen Körper entscheiden lassen?“

Mina:
Vielen Dank fürs Zuhören.

Abspann:
Das war Folge 2 von Frauen Macht Geschichte. Ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Autorinnen Mina Weidner und Hannah Schollmeier. Sprecherin Kirsten Schumann. Sprecher Robby Langer. Redaktion Professorin Susanne Schötz und Silke Nora Kehl. Produktion Bony Stoev. Idee und Konzept Susanne Salzmann und Silke Nora Kehl.

Folge 3: My body my choice? Frauen in Polen

Das Abtreibungsrecht in Polen ist seit 2020 eines der restriktivsten in ganz Europa. Damals hatte die rechtspopulistische PiS-Regierung die Regelung verschärft – und polnische Frauen protestierten zu Tausenden auf den Straßen. Als unsere Autorin Luise Ende 2023 für diese Folge recherchierte, war Donald Tusk gerade neuer Ministerpräsident geworden. Luise nimmt uns hier aber erst einmal mit auf eine Zeitreise in die Zweite Republik Polen, also in die 1920er Jahre: Unter welchen Umständen konnten Frauen damals eine Schwangerschaft abbrechen?

Zum Start dieser Folge hören wir die Schilderung einer Betroffenen (Triggerwarnung!). Klar wird: Sich gegen das Austragen einer Schwangerschaft zu entscheiden, bedeutete für viele Frauen ein teils lebensbedrohliches Risiko. Heute, rund 100 Jahre später, kämpfen polnische Frauen für eine Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs. Luise nimmt nochmal die Perspektive betroffener Frauen in den Blick und stellt die Aktivistin Justyna Wydrzyńska vor.

Für eine politisch-gesellschaftliche Einordnung des Themas ist schließlich Justyna David zu Gast im Podcast, Referentin der Reihe „Kontrovers vor Ort“ bei der SLpB. Die gebürtige Polin spricht darüber, wie die katholisch geprägte Gesellschaft zu Schwangerschaftsabbrüchen steht und welchen Einfluss die aufgeheizte Debatte um Abtreibung auf den Ausgang der Parlamentswahlen 2023 hatte. Außerdem skizziert sie, warum die neue Regierung unter Donald Tusk es nicht leicht hat, die geplante Liberalisierung des Abtreibungsrechts umzusetzen.

Die Folge wurde am 6. April 2024 produziert und spiegelt den Stand der Entwicklungen zu diesem Zeitpunkt.

Anmerkung: Der sogenannte Abtreibungskompromiss, den Justyna David im Beitrag erwähnt, gilt seit 1993. Nicht seit 1997. Nach Angaben der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen wurde im Herbst 1996 jedoch eine Gesetzesänderung von den Postkommunisten durchgesetzt, die vom Verfassungsgericht Ende Mai 1997 zurückgewiesen wurde, so dass in dem Jahr das Abtreibungsgesetz von 1993 wieder in Kraft trat.

Mehr Informationen zu dieser Folge:

Für Folge 3 My body my choice? Frauen in Polen wurden folgende Literatur und Online-Quellen verwendet. Auch Videos wurden zur Recherche genutzt.

Quellen:

Literatur

  • Moszczenska, J: Die Geschichte der Frauenbewegung in Polen, in: Lange, Helene/ Bäumer, Getrud (Hrsg.): Handbuch der Frauenbewegung, Berlin 1901-1906.
  • Stegmann, Natali: Die Töchter der geschlagenen Helden: „Frauenfrage“, Feminismus und Frauenbewegung in Polen 1863-1919, Wiesbaden 2000.
  • Pomorska, Barbara: Geschlecht und Recht in Polen. Feministische Aktivitäten, in: Feministische Studien (1992), S. 22-27.

Video-Dokumentationen:

  • Im Podcast wird sich auf eine Dokumentation des rbb, die 2023 zum Thema „Polinnen unter Druck – Streit um Abtreibungen“ veröffentlicht wurde, bezogen. Darin kam Justyna Wydrzyńska zu Wort. Die Dokumentation ist aktuell in den Mediatheken der ARD nicht mehr abrufbar. Links zu den Autorinnen und Autoren der Doku: Team Kowalski, Magdalena Dercz, Maren Schibilsky

Weitere Information zu Justyna Wydrzyńska sind jedoch zum Beispiel hier verfügbar:

Musik:

Intro: Frauen. Macht. Geschichte.

Susanne Salzmann:
Hallo, mein Name ist Susanne Salzmann. Ich spreche heute in Folge 3 mit Luise über das Thema Abtreibung in der Zweiten Republik Polen. Im Gespräch mit ihr hört Ihr später nochmal Mina, die Ihr vielleicht bereits aus Folge 1 und 2 kennt. Falls nicht, hört gerne nochmal in die ersten Folgen rein. Aber jetzt zu dir Luise, magst du kurz was zu dir sagen?

Luise:
Ja, hallo, mein Name ist Luise, ich studiere Gymnasiallehramt an der TU Dresden für die Fächerkombination Französisch und Geschichte – und ja, bin heute sozusagen hier die Expertin für die Folge Abtreibungsrechte in der Zweiten Republik Polen.

Susanne Salzmann:
Zu der du gearbeitet hast.

Luise:
Genau.

Susanne Salzmann:
Wie bist du auf das Thema der heutigen Folge gekommen?

Luise:
Ja, also auf das Thema des Abtreibungsuntergrunds in der Zweiten Republik Polen bin ich durch ein Seminar an der Universität gekommen. Gerade in Polen ist die Abtreibungsdebatte natürlich immer noch ein Riesenthema und dadurch bin ich dann in dieses Thema so reingerutscht und möchte da natürlich auch einfach mehr wissen und hab mir gedacht, das ist natürlich auch sehr interessant für die Außenwelt, also das Thema einfach nochmal größer aufzufassen.

Susanne Salzmann:
Ja, dann hab‘ erstmal vielen Dank, ich freue mich jetzt auf die Folge.

Luise:
Vielen Dank.

Teaser: FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden.

Luise:
Triggerwarnung. In den ersten 30 Sekunden dieser Folge schildert eine Frau, wie sie einen illegalen Schwangerschaftsabbruch erlebt hat. Wer sich das lieber nicht anhören möchte, skipt bitte 40 Sekunden vor. Auch in dem anschließenden Gespräch wird es um illegale Abtreibungspraktiken in der Zweiten Republik Polen gehen. Ab Minute 8 geht es dann um die politische Bedeutung des Themas in Polen, auch mit Blick auf die Parlamentswahl 2023.

Sprecherin, weiblich, historisches Zitat:
„Solowoka befahl mir, mich auf eine spezielle Liege für solche Kranken zu legen, bedeckt mit einem weißen Lappen.

Sie wusch mich mit warmem Wasser, dann nahm sie die Schere, vielleicht einen halben Ellenbogen lang. Ich bekam Angst. Ich begann zu sagen, dass ich Angst habe, dass ich nicht will. Solowoka fing an mich zu beruhigen, sie sagte, ich sei dumm, sie habe das schon so oft gemacht. Sie steckte die Schere in mich hinein, sie stach mit irgendetwas in mich hinein, ich weiß nicht was. Dann nahm sie die Schere heraus und sagte, es sei vorbei. Sofort begann mein Wasser zu laufen, so dass ich mich schämte, über die Straße zu gehen.“

Luise:
Das soeben gehörte Zitat der 24-jährigen Frau aus Lukow habe ich in einem polnischen Online-Artikel der onet Kobieta gefunden. Luiza Nowak ist die Autorin des Artikels, der zu Deutsch Die Hölle der Frauen. Über die Abtreibungen in der Zweiten Polnischen Republik heißt. Er ist original unter diesem Titel zu finden.

Sprecherin auf Polnisch:
„Praktyki i statystyki mrożące krew w żyłach. Podziemie aborcyjne w II RP“.

Luise:
In dem Artikel berichten verschiedene Personen über Praktiken und Statistiken des Abtreibungsuntergrundes der Zweiten Republik Polen. Eine davon ist zum Beispiel Marta Grzywacz, die in diesem Artikel von der soeben beschriebenen Situation berichtet. Zu dieser Thematik äußerte sich 1929 auch der Arzt und Professor Wiktor Gryzwo- Dabrowski.

Sprecher, männlich:
Er hat viele solcher Fälle wie den der jungen Frau vor sich gehabt, deren Schicksal allerdings ein schreckliches Ende nahm. Weit über 200 Obduktionen hatte er bereits durchgeführt bei jungen Frauen, die nach der Abtreibung ihres Fötus an einer Blutvergiftung gestorben waren.

Luise:
Schätzungen zufolge wurden in den 1920er Jahren zwischen den beiden Weltkriegen durchschnittlich 300.000 Abtreibungen pro Jahr durchgeführt. Allein 20.000 Abtreibungen wurden von Frauen in Warschau in Anspruch genommen. Man muss hier bedenken, dass zu dieser Zeit Abtreibungen unter den schlechtesten Bedingungen durchgeführt wurden. Da stellt sich natürlich schon die Frage, welche Abtreibungsmethoden da angewendet wurden. Darüber habe ich mich auch mit Mina unterhalten, die Ihr schon aus der letzten Folge kennt.

Musik

Luise:
Hallo liebe Mina, schön, dass du dir heute nochmal die Zeit genommen hast. Du hast ja einen Einblick zur Abtreibungsthematik in Deutschland zur Zeit der Weimarer Republik. Hast du dich schon mal mit Abtreibungsmethoden befasst, welche in der Zweiten Republik Polen durchgeführt wurden?

Mina:
Hallo Lu, danke, dass ich nochmal dabei sein darf. Ich weiß nur, dass es in Polen professionelle Abtreiber gab, die den Frauen verschiedene pflanzliche Mittel als Getränke verabreicht haben. Was gab es denn noch für Methoden?

Luise:
Ja, richtig, es gab zum einen die pflanzlichen Getränke und zum anderen wurden noch ganz andere verschiedene intrauterine Manipulationen durchgeführt. Dazu zählten zum Beispiel das Praktizieren der frühen Einleitung von Wehen, das heißt die jungen Frauen mussten sich zum Teil heißen Spülungen mit verschiedensten Chemikalien unterziehen.

Mina:
Oh, das klingt echt brutal. Bei wie vielen Frauen wurden denn die Praktiken durchgeführt?

Luise:
Ja, das ist eine sehr gute Frage, die kann man leider gar nicht so einfach beantworten. Den Statistiken zu dieser Zeit kann man leider wenig Glauben schenken. Man geht davon aus, dass viele Methoden und Eingriffe, die unter diesen schlechten Bedingungen durchgeführt wurden, gar nicht in den Statistiken auftauchen, da sie mit hoher Wahrscheinlichkeit aus Angst vor der Strafe heimlich durchgeführt wurden. Man geht aber davon aus, dass 50 Prozent der Frauen, die eine Abtreibung vorgenommen haben, an dem Eingriff verendeten.

Mina:
Unfassbar, wenn man bedenkt, was die Frauen da über sich hergehen lassen mussten. Aber ich habe auch mitbekommen, dass Abtreibungen in Polen heute immer noch ein großes Streitthema sind.

Luise:
Ja, absolut. Es gehen immer noch unglaublich viele Frauen in Polen auf die Straße und kämpfen für das Abtreibungsrecht. Unter anderem gibt es ein bekanntes polnisches Kollektiv namens Abortion Dream Team, was zum europäischen Netzwerk Abortion Without Borders gehört und von Justyna Wydrzyńska gegründet wurde.

Mina:
Ah, interessant. Was steckt denn hinter diesen Kollektiven?

Luise:
Die beiden Kollektive stellen Informationen zu Schwangerschaftsabbrüchen zur Verfügung. Seit der Verschärfung des Abtreibungsrechts im Jahr 2020 wurden offiziell 78.000 Schwangerschaftsabbrüche unterstützt. Die meisten Frauen waren bereits in einem fortgeschrittenen Stadium und in der Regel war der Fötus krank. Da sie eine Abtreibung in Polen aber aufgrund des Abtreibungsgesetzes nicht durchführen durften, reisten die meisten von ihnen dann ins Ausland.

Mina:
Du hast ja noch eine Begründerin erwähnt. Wie kam sie denn überhaupt dazu?

Luise:
Justyna wurde in jungen Jahren selbst von ihrem damaligen Lebenspartner schwanger, allerdings befand sie sich mit ihm in einer gewalttätigen Beziehung und sie hatte Angst, dieses Kind zu bekommen. Also sie selbst weiß, wie es ist, sich in einer instabilen Beziehung zu befinden und wie es ist, ein Kind abzutreiben. In einer RBB-Dokumentation hat sie auch erwähnt, dass sie es bis heute nicht bereut hat, dass sie das Kind abgetrieben hat. Aus dieser Situation heraus und dem Wissen, wie hilflos man sich in so einer Situation fühlt, hat sie beschlossen, anderen Frauen, die sich in ähnlichen Situationen befinden, zu helfen.

Mina:
Inwiefern kann sie die Frauen denn unterstützen, vor allem wo das Abtreibungsgesetz ja so streng ist?

Luise:
Justyna hilft zuallererst einmal allen Frauen, ihre Schwangerschaften zu beenden. Die Gründe dafür sind ihr dabei auch völlig egal. Also sie sagt, dass es jeder Frau freigestellt sein sollte. Da sie die Frauen unterstützt, trifft das natürlich in der polnischen Politik auf Gegenwind. Bisher hatte sie es auch immer geschafft, um eine Verurteilung drum herum zu kommen, da sie die Frauen ja nur beraten hat oder Tipps fürs Ausland gab.

Mina:
Okay, was meinst du mit bisher?

Luise:
Also am 15. März 2023 wurde sie doch vor Gericht gezogen, da sie einer jungen Frau eine Abtreibungspille hatte zukommen lassen und damit aktiv bei einer Abtreibung geholfen hatte. Auch diese hatte sich in einer gewaltvollen Beziehung gefunden und Justyna wollte ihr aufgrund ihrer sehr ähnlichen Geschichte helfen.

Mina:
Wurde sie denn verurteilt?

Luise:
Ja, sie wurde zu acht Monaten gemeinnütziger Arbeit verurteilt.

Mina:
Oh, da hatte sie aber noch Glück, dass es zu keiner Gefängnisstrafe gekommen ist. Wie steht es denn generell um das Thema Abtreibung in Polen?

Luise: Ja, pass auf, dazu habe ich Justyna David befragt. Sie selbst ist gebürtige Polin und arbeitet für die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung. Ich habe sie dazu gefragt, wie denn das Thema allgemein in der polnischen Bevölkerung diskutiert wird.

Justyna David:
Das Thema des Schwangerschaftsabbruchs wird auf jeden Fall sehr kontrovers diskutiert. Einerseits gibt es diese katholische Prägung, die große Mehrheit der Gesellschaft fühlt sich der katholischen Kirche zugehörig, ungefähr 90 Prozent. Und das spricht aber nicht dagegen, dass fast die Hälfte der Gesellschaft für die Lockerung des Abtreibungsgesetzes in Polen ist und dass man im individuellen Leben diese sexuelle Ethik der katholischen Kirche nicht unbedingt verfolgt.

Luise:
Des Weiteren wollte ich wissen, wie die rechtliche Lage der Schwangerschaftsabbrüche ist.

Justyna David:
Im Moment gehört das polnische Abtreibungsrecht zu den restriktivsten in Europa. Bis 2020 durfte die Abtreibung in drei Fällen vorgenommen werden: erstens bei einer Straftat, zweitens, wenn das Leben der Mutter gefährdet worden ist und drittens wegen Fehlbildungen des Fötus. Das wurde allerdings 2020 durch das Verfassungsgericht als verfassungswidrig erklärt, damit wurde das restriktive Gesetz nochmal verschärft und das führte zu sehr vielen Demonstrationen in ganz Polen – also nicht nur in Großstädten –, was am Ende zur politischen Mobilisierung von Frauen führte. Und war auch entscheidend dafür, dass die PiS-Regierung in den Wahlen nicht so gut abgeschnitten hat, um weiter die Regierung bilden zu können.

Luise:
Das fand ich super interessant und wollte daher noch einmal von ihr wissen, ob das Abtreibungsthema dazu beigetragen hat, dass die PiS-Regierung nicht mehr an der Macht ist.

Justyna David:
Genau, [es ist] so wichtig für die Frauen, dass wieder mal in der Geschichte von Polen das Parlament ­ oder in großer Mehrheit ältere Männer über Frauen entscheiden, über die Reproduktion in der Gesellschaft.

Luise:
Justyna David beschreibt auch, was sich seit dem Regierungswechsel für die polnische Bevölkerung geändert hat.

Justyna David:
Die neue Regierung hat in dem Wahlkampf im letzten Jahr versprochen, das Abtreibungsgesetz zu lockern. Nur bis jetzt ist wirklich noch nichts passiert, obwohl fast schon ein halbes Jahr vergangen ist. Weil innerhalb dieser polnischen Regierung haben wir drei verschiedene Bündnisse: Wir haben die Neuen Linken, die das Recht auf freie Abtreibung bis zur zwölften Woche durchsetzen möchten, es gibt Liberale, die mindestens bis zur zwölften Woche, also sehr ähnlich wie die Neuen Linken, es lockern wollen, aber es gibt auch ein Bündnis, den so genannten Dritten Weg, der eher liberal, aber auch konservativ ist – also liberal in Bezug auf Wirtschaft, konservativ auf Werte. Und der Dritte Weg möchte auf die Vorstellungen seiner Wählerschaft antworten und damit diese Abtreibung bis zur zwölften Woche nur unter bestimmten Bedingungen zulassen. Also quasi möchten sie zu dem Gesetz zurückkommen, das seit, glaube ich, 1993 galt. Das Gesetz wurde „Abtreibungskompromiss“ genannt, was nicht alles verboten hat, aber trotzdem schon sehr restriktiv war. Und dann würde es bedeuten, die Frauen, deren Kind Fehlbildungen hat, bei Fehlbildungen des Fötus, durfte man auch die Abtreibungen durchführen.

Luise:
Dabei stellt sich auch die Frage, ob es einen konkreten Plan für die Zukunft gibt.

Justyna David:
Damit die Koalition selbst dieses Problem nicht lösen muss, zwischen drei verschiedenen Bündnissen und zwischen verschiedenen Vorstellungen, wie man das neue Abtreibungsgesetz gestalten kann, zu wählen, gibt es eine Idee, ein Referendum zu starten, damit die ganze Bevölkerung sich dazu äußern kann. Sowohl die Neuen Linken als auch die Nationalkonservativen lehnen eigentlich diese Idee ab, weil sie sagen, über das Leben bzw. das Recht der Frau auf ihren Körper kann man nicht öffentlich debattieren. Aber das wäre vielleicht noch eine Idee, um eventuell anders mit dieser Frage umzugehen und [ein] mögliches Veto vom Präsidenten umzugehen.

Musik

Justyna David:
Die neue Regierung möchte also das Recht der Frauen unterstützen, dazu äußerte sich auch der neue polnische Ministerpräsident Donald Tusk mit folgenden Worten.

Musik

Sprecher männlich, Zitat Donald Tusk:
„Wir sind bereit, in den kommenden Stunden einen Gesetzentwurf für legale und sichere Abtreibungen bis zur zwölften Schwangerschaftswoche ins Parlament einzubringen.“

Luise:
Und damit beenden wir den heutigen Podcast und können gespannt sein, was in naher Zukunft in Polen zum Thema Abtreibungsgesetz geschehen wird. Vielen Dank fürs Zuhören und auch an dich Mina, dass du heute wieder mit dabei warst.

Musik

Susanne Salzmann:
Noch als Ergänzung, wir haben diese Folge im April 2024 aufgezeichnet und sie spiegelt deswegen den Stand dieses Zeitpunkts wieder.

Abspann:
Das war Folge 3 von FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Autorin: Luise Frohberg; Sprecherin: Kirsten Schumann; Sprecher: Robby Langer; Redaktion: Dr. Angelique Leszczawski-Schwerk und Silke Nora Kehl; Produktion: Bony Stoev; Idee und Konzept: Susanne Salzmann und Silke Nora Kehl.

Anmerkung: Der sogenannte Abtreibungskompromiss, den Justyna David im Beitrag erwähnt, gilt seit 1993. Nicht seit 1997. Nach Angaben der Konrad-Adenauer-Stiftung in Polen wurde im Herbst 1996 jedoch eine Gesetzesänderung von den Postkommunisten durchgesetzt, die vom Verfassungsgericht Ende Mai 1997 zurückgewiesen wurde, so dass in dem Jahr das Abtreibungsgesetz von 1993 wieder in Kraft trat. Wir haben die Jahreszahl in diesem Manuskript angepasst.

Folge 4: Revolutionärin und First Lady: Aleksandra Piłsudska

Sie war Revolutionärin und Waffenschmugglerin, polnische Patriotin und First Lady der Zweiten Republik Polen: Aleksandra Piłsudska. Die Historikerin Dr. Angelique Leszczawski-Schwerk stellt uns diese spannende Persönlichkeit vor, die sich auch an der Seite ihres Geliebten und späteren Ehemanns Józef Piłsudski an bewaffneten Aktionen gegen Russland beteiligte. Der berühmte polnische Sozialist Piłsudski war ab 1918 Oberbefehlshaber der polnischen Truppen und ab 1919 Staatsoberhaupt des unabhängigen Polens. Als First Lady engagierte sich Aleksandra Piłsudska für Kinder und Jugendliche, Arbeits- und Obdachlose, vor allem auch für Veteraninnenverbände. Wir thematisieren in dieser Folge auch den Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf Polen am 1. September 1939. Aleksandra Piłsudska emigrierte nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs nach London und schrieb im Exil ihre Memoiren, die 1940 auf Englisch veröffentlicht wurden. Dieses Buch ist eine wichtige Quelle für unsere Folge. Piłsudska gilt als Ikone der polnischen Frauenbewegungen – zu Recht? Zu der Frage, wie die polnische Gesellschaft und die Wissenschaft auf sie blicken, interviewen wir die Historikerin Dr. Iwona Dadej von der Universität Halle. Dort forscht sie als Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Aleksander-Brückner-Zentrum für Polenstudien zur polnischen Frauen- und Frauenbewegungsgeschichte.

Mehr Informationen zu dieser Folge:

Für Folge 4 Revolutionärin und First Lady: Aleksandra Piłsudska wurde folgende Literatur verwendet:

Quellen

Literatur

Musik:

Intro: Frauen. Macht. Geschichte.

Silke Nora Kehl: Hallo, mein Name ist Silke Nora Kehl und ich begrüße heute Dr. Angelique Leszczawski-Schwerk. Herzlich willkommen!

Angelique Leszczawski-Schwerk: Hallo!

Silke Nora Kehl: In der Folge heute sprechen wir über eine spannende Frau und bevor wir Ihren Namen verraten, würde ich gerne wissen, was verbinden Sie mit dieser Person?

Angelique Leszczawski-Schwerk: Ich denke an den polnischen Unabhängigkeitskampf, an eine aktive Kämpferin, die sozusagen auch in militärischen Strukturen aktiv war und ich denke natürlich an die First Lady.

Silke Nora Kehl: Ja, wir haben uns schon in der letzten Folge mit der Zweiten Republik Polen beschäftigt. Frau Leszczawski-Schwerk, Sie haben jetzt aus dieser Zeit eine Biografie mitgebracht. Wir lüften mal das Geheimnis. Um wen geht es in der Folge heute?

Angelique Leszczawski-Schwerk: In der heutigen Folge wird es um Aleksandra Piłsudska gehen, eine, wenn man so will, bekannte, in Polen zumindest bekannte historische Figur und Frauenrechtlerin. Ja, es ist eine spannende Person, die ich sozusagen gerne dem deutschen Publikum näherbringen will.

Silke Nora Kehl: Und wie sind Sie auf ihre Geschichte gekommen?

Angelique Leszczawski-Schwerk: Ich bin Historikerin, Fachjournalistin und habe mich in der Doktorarbeit mit – ja – Frauenbewegungen in Galizien auseinandergesetzt und da ist mir Frau Piłsudska das erste Mal begegnet.

Silke Nora Kehl: Dann starten wir jetzt mit unserer Folge über Aleksandra Piłsudska.

Teaser: FRAUEN MACHT GESCHICHTE – ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden.

Musik

Angelique Leszczawski-Schwerk: Als First Lady zieht Aleksandra Piłsudska 1921 ins Belvedere nach Warschau mit ihrer Familie. Ihr Ehemann war der berühmte polnische Sozialist Józef Piłsudski, ab 1918 Oberbefehlshaber der polnischen Truppen und ab 1919 dann per Verfassungsbeschluss Staatsoberhaupt des unabhängigen Polens. Die gemeinsamen Kinder Wanda und Jadwiga wurden 1918 und 1920 geboren, mit der Hochzeit hatte das Paar jedoch den Tod der ersten Ehefrau Piłsudskis abgewartet.

Musik

Sprecherstimme, männlich: Aleksandra Szczerbińska wurde 1882 in der Stadt Suwałki geboren, die damals Teil des russischen Reiches war. Nach dem frühen Tod ihrer Eltern wuchs sie als Waise bei ihrer patriotischen Großmutter auf. Mit 19 Jahren geht Aleksandra nach Warschau, wo sie Handelskurse und die Fliegende Universität, also die polnische Untergrunduniversität besucht. Sie begann später als Angestellte in einer Fabrik zu arbeiten und kam in Kontakt mit Mitgliedern der polnischen Sozialistischen Partei, PPS, der sie 1904 beitrat. Bald schloss sie sich auch der neu gegründeten Kampforganisation der PPS an. Sie stellte den Kontakt zu Boten und Kurieren her, organisierte den Waffenschmuggel aus Belgien, suchte Zwischenhändler und gab die für Kampfeinsätze benötigte Ausrüstung aus. Außerdem schmuggelt Piłsudska selbst, wie wir aus ihren Memoiren wissen.

Sprecherstimme, weiblich, historisches Zitat aus den Memoiren Aleksandra Piłsudskas:
„Eine Frau konnte in einem langen Kleid leicht zwei oder drei Mauser an den Beinen, an ihren Körper geschnallt tragen. Revolver und Munition wurden in breite Gürtel eingenäht, die man unter der Kleidung trug. Dynamit eignete sich hervorragend für das Korsett. Mit der Zeit wurden wir so geschickt, dass wir uns mit bis zu 40 Pfund Munition und Löschpapier frei bewegen konnten, ohne Verdacht zu erregen.“

Angelique Leszczawski-Schwerk: Aleksandra, genannt Ola, unterstützte so den bewaffneten Kampf gegen die russischen Besatzungsmächte. Sie zeichnete sich durch ihre Cleverness und ihren Einfallsreichtum aus. Die russischen Behörden entdeckten sie nicht. Auch ihre Fähigkeit, das Vertrauen ihrer Mitstreiter zu gewinnen, machte sie zu einer unverzichtbaren Figur der polnischen Unabhängigkeitsbewegung.

Sprecherstimme, männlich: 26. September 1908, Bahnhof Bezdany nahe Vilnius, Litauen. Bei einem Überfall auf einen russischen Passagier- und Postzug, der sich auf dem Weg nach St. Petersburg befand, erbeutete eine Gruppe von 15 Männern und vier Frauen der PPS-Kampforganisation 200.800 (Zweihunderttausendachthundert) Rubel. Die Aktion leitete der spätere polnische Präsident Józef Piłsudski, eine der vier Frauen war Aleksandra. Ihren Geliebten und späteren Ehemann hatte die sozialistische Kämpferin bereits zwei Jahre früher kennengelernt.

Angelique Leszczawski-Schwerk: Die Aktion Bezdany, mit einer Beute, die heute einem Wert von über einer Million Euro entspräche, ging in die polnische Geschichte ein. Und spielte eine wichtige Rolle bei der Entstehung des Piłsudski-Mythos, wie die Osteuropahistorikerin Heidi Hein-Kircher in ihrem Buch Der Piłsudski-Kult und seine Bedeutung für den polnischen Staat bemerkt. Es war die einzige antirussische bewaffnete Aktion mit der aktiven Beteiligung Piłsudskis und wurde von den polnischen Sozialisten als der größte Erfolg der Kampforganisation dargestellt. Die Aktion gilt bis heute als der größte Raubüberfall in der polnischen Geschichte. Mit der Beute finanzierte Piłsudski die ersten militärischen Strukturen der künftigen polnischen Armee im österreichischen Galizien.

Sprecherstimme, männlich: Nach den Grenzkriegen 1918 bis 1920 standen im unabhängigen Polen die Staatskonsolidierung und der Wiederaufbau im Vordergrund. Die Zweite Polnische Republik hatte mit wachsender Korruption, wirtschaftlichen Krisen und instabilen, häufig wechselnden Regierungen zu kämpfen. Piłsudski räumte 1922 zunächst seinen Posten als Staatschef und behielt nur noch militärische Funktionen. Beim sogenannten Maiputsch 1926 forderten er und seine Anhänger im Militär den damaligen Staatspräsidenten und die Regierung zum Rücktritt auf. Piłsudski wurde daraufhin zum Staatsoberhaupt gewählt, seine Familie kehrte in den Belvedere-Palast zurück. Auch wenn er auf die weitere Präsidentschaft verzichtete, de facto beherrscht er das Land autoritär, bis er mit 67 Jahren an Leberkrebs starb. Zeit seines Lebens stand Aleksandra Piłsudska an der Seite ihres Mannes. Aleksandra teilte seine sozialistischen Ideale und hatte ähnliche politische Ansichten. Sie berichtet von „harmonischen Gesprächen“, doch beim Thema Gleichberechtigung der Frauen gab es Meinungsverschiedenheiten, wie sie in ihren Memoiren berichtet.

Sprecherstimme, weiblich, historisches Zitat aus den Memoiren Aleksandra Piłsudskas:
„Piłsudski stimmte zwar zu, dass Frauen in einem freien Polen die gleichen Rechte wie Männer haben sollten, sie aber nicht in der Lage wären, ihre Rechte vernünftig auszuüben, da die weibliche Mentalität von Natur aus konservativ und leicht beeinflussbar sei.“

Angelique Leszczawski-Schwerk: Aleksandra Piłsudska sprach sich vehement für die gleichen Rechte von Frauen und Männern aus und beteiligte sich zweifelsohne auch daran, dass am 28. November 1918 in Polen das aktive und passive Frauenwahlrecht, auf Polnisch „Prawo wyborcze dla kobiet“ per Dekret eingeführt wurde – und das kurz nach der Gründung des polnischen Staates. Doch in die Parteienpolitik mischte sie sich nicht ein, wie in ihren Memoiren zu lesen ist.

Sprecherstimme, weiblich, historisches Zitat aus den Memoiren Aleksandra Piłsudskas:
„Ich gehörte keiner politischen Partei an. Ich wollte keine unklaren Situationen schaffen. Manchmal wurden meine Reden als die Ansichten meines Mannes kommentiert. Das hätte mich natürlich meiner Redefreiheit beraubt und hätte uns unnötigen Missverständnissen aussetzen können. Also habe ich mich für die Sozialarbeit entschieden.“

Sprecherstimme, männlich: Piłsudska übernahm auch die noch im heutigen Sinne klassischen Aufgaben einer First Lady. Sie war in vielen sozialen Projekten und karitativen Vereinen engagiert – und das über ihre Amtszeit hinaus. Für die Bewohner der ärmsten Stadtteile Warschaus organisierte sie zum Beispiel Arbeitslosen-Küchen und Bibliotheken für Jugendliche. Und, wie wir gehört haben, vertrat Piłsudska zwar klar ihre eigene Meinung, gleichzeitig war sie ihrem Mann eine wichtige Stütze in turbulenten Zeiten. Doch vergessen wir nicht ihre Geschichte. Vor der Gründung der Zweiten Polnischen Republik beteiligte sie sich am bewaffneten Kampf gegen die Teilungsmacht Russland. Als Revolutionärin und polnische Patriotin hatte sie eine aktive Rolle, deswegen engagierte sie sich als First Lady auch in Veteranenorganisationen.

Angelique Leszczawski-Schwerk: Ich habe dazu mit Frau Dr. Iwona Dadej von der Universität Halle gesprochen, die zur polnischen Frauen- und Frauenbewegungsgeschichte forscht. Und meine erste Frage war: Welche Rolle spielte Aleksandra Piłsudska innerhalb der polnischen Frauenbewegung?

Dr. Iwona Dadej: Piłsudska war für die damalige Frauenbewegung eher jemand, der die Schirmherrschaften übernimmt. Und tatsächlich tat sie das unheimlich gerne, insbesondere für Kinder, insbesondere für Initiativen und Organisationen, die sich mit Care-Arbeit beschäftigt haben, mit Kinderrechten, aber vor allem Initiativen, die ihre Genossinnen, aber auch Schicksalgenossinnen und Wegbegleiterinnen aus dem Ersten Weltkrieg geehrt haben. Ich meine hier tatsächlich natürlich die ganze Veteraninnen-Initiativen und da hat sie sich tatsächlich sehr stark dafür eingesetzt, die Erinnerungen der Legionistinnen zu sammeln und dann diese Erinnerungen in mehrbändigen Publikationen herauszugeben.

Angelique Leszczawski-Schwerk: Iwona, wie siehst du das: In der polnischen Geschichtsschreibung, Frauengeschichtsschreibung wird Aleksandra Piłsudska als Ikone wahrgenommen. Siehst du das genauso?

Dr. Iwona Dadej: Sie als eine besondere Ikone der Frauenbewegung zu nennen, finde ich etwas überholt und auch falsch. Sie ist eine Person gewesen, die einfach extrem bewusst war, was die Ehe mit dem Staatsmann für sie als Frau, als ehemalige Legionistin bedeutet. Aber sie als öffentliche Person, als öffentliche Gestalt hat einfach gezeigt, dass es alles möglich ist: Einerseits als Hausfrau und Mutter zu arbeiten und andererseits für die alten Ideale, für die alten Freundschaften und die Anerkennung der Rolle von Frauen, von Legionistinnen in der Geschichte Polens zu anerkennen, zu kämpfen. Das finde ich einfach spannend bei Piłsudska.

Angelique Leszczawski-Schwerk: Vielen Dank, Iwona. Zur Erinnerung, Aleksandra Piłsudska war die erste polnische First Lady von 1921 bis 1922 im Amt. Als Frau Piłsudskis genoss sie in der polnischen Gesellschaft auch weiterhin hohes Ansehen. Ein großer biografischer Einschnitt wird für sie das Jahr 1935: Ihr Mann stirbt. Vier Jahre später ändert sich ihr Leben fundamental.

Sprecherstimme, männlich: 1. September 1939: Der Zweite Weltkrieg beginnt mit dem Überfall des nationalsozialistischen Deutschlands auf die Zweite Polnische Republik. Warschau und andere Städte Polens werden von der deutschen Luftwaffe bombardiert. Nach der Schlacht um Warschau wird die Hauptstadt am 1. Oktober durch die Wehrmacht eingenommen. Damit beginnt die deutsche Besetzung Polens bis 1945.

Angelique Leszczawski-Schwerk: Nach dem Ausbruch des Zweiten Weltkriegs verlässt Aleksandra Piłsudska mit ihren Töchtern Polen. Über die baltischen Städte Vilnius, Kaunas und Riga reist sie nach Schweden. Von dort aus wird sie nach London evakuiert. Im Exil schrieb sie ihre Memoiren nieder, die in englischer Sprache 1940 veröffentlicht wurden. Im Ausland wurden sie mehrfach neu aufgelegt, in polnischer Sprache erschienen sie erstmals 1989. In ihrem Tagebuch wird deutlich, dass auch der Krieg ihre politischen Überzeugungen nicht erschüttern konnte.

Sprecherstimme, weiblich, historisches Zitat aus den Memoiren Aleksandra Piłsudskas:
„Politik ist für mich nicht nur ein Geschäft der Männer. Es ist der Kampf um Freiheit und Gerechtigkeit, bei dem jeder einzelne, ob Mann oder Frau, eine Rolle spielen muss. In diesen dunklen Zeiten wusste ich, dass ich alles riskieren musste, um unserem Land zu helfen.“

Angelique Leszczawski-Schwerk: Bis zu ihrem Lebensende 1963 im Exil in London blieb Piłsudska in den polnischen Emigrantenkreisen aktiv, um das Andenken ihres Mannes zu wahren. Aufgrund ihres Kampfes für die Gründung eines unabhängigen polnischen Staates spielen sowohl Aleksandra Piłsudska als auch Józef Piłsudski eine wichtige Rolle im polnischen kollektiven Gedächtnis. Wir schließen unsere Folge ab mit Gedanken, die sich die Historikerin Iwona Dadej zur Rezeption gemacht hat:

Dr. Iwona Dadej: Es ist spannend zu beobachten, die Biografie von Piłsudska selbst, aber auch zu beobachten, wer heutzutage über Piłsudska erzählt und welches Interesse dahintersteckt. Diese identitätsstiftende Erzählung ist enorm wichtig, genauso wie nationalbewusste Erzählung, Heroisierung von den Heldentaten von Piłsudski muss man sich auch kritisch anschauen.

Abspann: Das war Folge 4 von FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Autorin: Angelique Leszczawski-Schwerk; Sprecherin: Kirsten Schuhmann; Sprecher: Robby Langer; Redaktion: Silke Nora Kehl; Produktion: Bony Stoev; Idee und Konzept: Susanne Salzmann und Silke Nora Kehl.

Folge 5: 1946: Frauen im Sächsischen Landtag (1/2)

Dresden im Sommer 1946: etwa ein Jahr nach Ende der nationalsozialistischen Herrschaft und des Zweiten Weltkriegs. Und knapp fünf Monate vor der Landtagswahl in Sachsen. Unsere Autorin Dr. Edith Schriefl hat zu dieser Zeit geforscht und entdeckt, dass Frauen politisch und gesellschaftlich eine wichtige Rolle im Sachsen der Nachkriegszeit spielten. Nicht nur war der Wahlkampf vor allem auf Frauen zugeschnitten, die Parteien warben auch um Frauen als Mitglieder. Im ersten Sächsischen Landtag der Nachkriegszeit, der sich am 22. November 1946 konstituierte, waren knapp 28 Prozent der Abgeordneten Frauen. In dieser ersten Folge zum Thema blicken wir vor allem auf die Phase vor der Konstituierung des Landtags. Wie klang die Wahlwerbung der unterschiedlichen Parteien? Mit welchen Themen wollte man Frauen gewinnen? Zum Start der Folge hören wir eine Originalaufnahme aus dem Juni 1946: Helene Ansahl, Leiterin der kommunalen Frauenausschüsse in Sachsen, ruft Frauen zur Abstimmung in einem Volksentscheid auf. Darin ging es um die Enteignung von Rüstungs- und anderen kriegsrelevanten Betrieben. Edith Schriefl ordnet die Rede ein, in der zum einen traumatische Eindrücke aus der Kriegszeit und der Wunsch nach Frieden vermittelt werden, zum anderen auch das Narrativ des antifaschistischen Neubeginns und der Relativierung deutscher Schuld – zumindest mit Blick auf die Frauen. Wichtig zu wissen: Wir befinden uns 1946 in der Sowjetischen Besatzungszone (SBZ), die DDR als Staat war noch nicht gegründet. Die SBZ bereitete den Weg in die kommunistische Diktatur, die Vorherrschaft von SED und Massenorganisationen wurde durchgesetzt.

Hinweis: Bei der Ansprache von Helene Ansahl handelt es sich um eine historische Aufnahme. Die Tonqualität ist daher teilweise leicht eingeschränkt und der O-Ton ist insgesamt leiser als das Studio-Gespräch zwischen Host Silke Nora Kehl und Edith Schriefl.

Mehr Informationen zu dieser Folge:

Für Folge 5 „1946: Frauen im Sächsischen Landtag (Teil 1)“ wurde folgende Literatur und ein historisches Tondokument verwendet:

Historischer O-Ton:

  • Helene Ansahls Ansprache anlässlich des Volksentscheides in Sachsen am 30. Juni 1946 über die Enteignung von Kriegs- und Naziverbrechern, 06/1946. Quelle: Stiftung Deutsches Rundfunkarchiv, Tonträger DRA Frankfurt, 2925423. Lizenziert über die rbb media.

Quellen

  • Akten und Verhandlungen des Sächsischen Landtages 1946 – 1952, Sitzungsprotokolle 1. WP, Bd. I.1. u. Bd. I.2. Sächsische Zeitung, Dresden, 5. Juni 1946.

Literatur

  • Hippmann, Cornelia: Ostdeutsche Frauen in der Politik. Eine qualitative Analyse, Opladen, Berlin, Toronto 2014.
  • Kuhn, Annette/Pitzen, Marianne/Hochgeschurz, Marianne (Hg): Politeia. Szenarien aus der deutschen Geschichte nach 1945 aus Frauensicht, Bonn 1998.
  • Schriefl, Edith: Versammlung zum Konsens. Der sächsische Landtag 1946-1952, Ostfildern 2020.
  • Schriefl, Edith: Ideal und Praxis weiblicher Partizipation im sächsischen Nachkriegslandtag 1946 bis 1950, in: Werner Rellecke, Susanne Schötz, Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah (Hrsg.): Frauen in Sachsen. Politische Partizipation in Geschichte und Gegenwart, Dresden 2022, S. 209–224.
  • Stoehr, Irene: Frieden als Frauenaufgabe? Diskurse über Frieden und Geschlecht in der bundesdeutschen Frauenbewegung der 1950er Jahre, in: Jennifer A. Davy/Karen Hagemann/Ute Kätzel (Hrsg.), Frieden, Gewalt, Geschlecht. Friedens- und Konfliktforschung als Geschlechterforschung, Essen 2005, S. 184 – 204.

Intro: Frauen. Macht. Geschichte.

Silke Nora Kehl:
Hallo, mein Name ist Silke Nora Kehl und ich freue mich sehr, dass wir heute die Historikerin Dr. Edith Schriefl bei uns zu Gast haben. Hallo, Edith!

Edith Schriefl:
Hallo, ich freue mich, dass ich hier sein darf.

Silke Nora Kehl:
Edith, wo arbeitest du denn zurzeit als Historikerin?

Edith Schriefl:
Ich arbeite zurzeit an der Sächsischen Landesbibliothek und Universitätsbibliothek, wo ich für das Buchmuseum verantwortlich bin und nebenbei beschäftige ich mich auch wissenschaftlich noch mit Geschlechtergeschichte und der Geschichte parlamentarischer Institutionen.

Silke Nora Kehl:
Wir haben dich in unseren Podcast eingeladen, weil du einen sehr spannenden Beitrag geschrieben hast, und zwar in dem Buch Frauen in Sachsen. Das Buch gibt’s bei der Landeszentrale für politische Bildung, alles Weitere dazu findet ihr in den Shownotes. Edith und ich sprechen jetzt gleich über Frauen, die 1946, kurz nach Kriegsende also, als Abgeordnete im Sächsischen Landtag aktiv waren. Es geht um spannende Persönlichkeiten, um Gleichberechtigung, um Wahlkampf und die Stimmung nach dem Zweiten Weltkrieg. Und weil das ganz schön viel ist, nehmen wir uns dafür zwei Folgen Zeit. Edith, zum Einstieg, was hat dich an diesem Thema so begeistert?

Edith Schriefl:
Der Landtag ist deswegen frauengeschichtlich so interessant, weil wir eben eine relativ hohe zahlenmäßige Repräsentanz von Frauen sehen, also es waren einfach viele Frauen in diesem Landtag vertreten und ich fand das von Anfang an sehr spannend, weil es steht auch ein bisschen für ein Phänomen der Zeit, nach diesem großen Umbruch, nach dem Zweiten Weltkrieg, hat sich den Frauen wie so ein ja relativ überschaubares Zeitfenster geöffnet, wo sie dann doch ja stark aktiv wurden in der Politik und dieses Zeitfenster gucken wir uns jetzt heute in dieser Folge an.

Teaser: FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden.

Historischer Archivton: Helene Ansahl, Ansprache in Dresden, Juni 1946:
„Ihr Frauen und Mütter! Am 30.06. findet auf Antrag der drei antifaschistisch-demokratischen Parteien, in der Freien Deutschen Gewerkschaft, der Volksentscheid über die Übereignung der Betriebe von Kriegsverbrechern und Kriegsinteressenten [oder Kriegsinsolvenzen?] statt. Was haben wir Frauen dabei zu tun, werden manche sagen. Waren die letzten Jahre nicht die schwersten unseres Lebens? Wie viel Tränen, wie viel Not und Elend hat uns der vergangene Krieg gebracht, wie viele von uns haben ihren Mann, Sohn oder Bruder hinmorden lassen müssen, denn jeder Krieg ist Mord!“

Silke Nora Kehl:
Ja, wir hören hier einen Originalton aus der Nachkriegszeit. Edith Schriefl, wer spricht hier denn und an welchem Ort befinden wir uns genau?

Edith Schriefl:
Ja, also es spricht Helene Ansahl, sie war die Landesleiterin der kommunalen Frauenausschüsse in Sachsen, und wir befinden uns in Dresden im Juni 1946. Sie wendet sich mit diesen kraftvollen Worten an die Frauen im Land und man muss sich vorstellen, der Zweite Weltkrieg ist gerade vorbei, das Land und vor allem ja auch Dresden liegt in Trümmern und ja, wir stehen vor einem historischen Neuanfang. Dazu muss man sagen, wir befinden uns jetzt hier noch in der Zeit der sowjetisch besatzten Zone, also die DDR ist noch nicht gegründet.

Silke Nora Kehl:
Dazu ein Hinweis, der für diese Folge wichtig ist. Die sowjetische Besatzungszone bereitete den Weg in die kommunistische Diktatur, die Vorherrschaft von SED und Massenorganisationen wurde durchgesetzt und andere Parteien und Kräfte konnten sich nicht frei entfalten. Zurück zu Helene Ansahl, sie spricht über einen Volksentscheid, Edith, was weißt du darüber?

Edith Schriefl:
In diesem Volksentscheid sollte die Bevölkerung abstimmen über die Enteignung von Kriegs- und Naziverbrechern, beziehungsweise von deren Betrieben und Helene Ansahl setzt sich also für diese Enteignung ein und sie möchte besonders bei den Frauen dafür werben, dieser Enteignung zuzustimmen, also diesem Volksentscheid zuzustimmen, er ist übrigens dann auch positiv beschieden worden. Für uns ist es besonders interessant, wie sie um die Stimmen der Frauen wirbt, weil sie ja von sehr frauenspezifischen Erfahrungen während des Krieges spricht. Diese Erfahrungen greift Helene Ansahl eben auf und trifft damit eigentlich tatsächlich den Nerv der Zeit und vor allem den Nerv der Frauen, die eine besondere Sehnsucht nach Frieden hatten zu dieser Zeit.

Historischer Archivton: Helene Ansahl, Ansprache in Dresden, Juni 1946:
„Erinnert ihr euch noch der vielen Nächte in den Kellern, wo Ihr um Euer und Euer Kinderleben zittern musstet, sind Eure Kinder nicht Mahnung und Anklage zugleich? Ihr Frauen und Mütter, heute können wir abrechnen mit denen, die all dieses Leiden verschuldeten. An uns Frauen wird es mitliegen, wie sich das zukünftige Deutschland gestalten wird. Deshalb gehen wir alle, Mütter und Frauen, zum Volksentscheid und stimmen mit JA!“

Silke Nora Kehl:
Diese Rede, die Helene Ansahl gehalten hat, gibt es auch in gedruckter Form. Sie ist in der Sächsischen Zeitung vom 5. Juni 1946 erschienen. Der Text ist allerdings ein bisschen anders als der Ton aus dem Rundfunkarchiv, den wir gerade gehört haben.

Edith Schriefl:
Ja, früher war das üblich, wichtige Reden auch in Tageszeitungen abzudrucken, um mehr Leute zu erreichen und auch um die Reden flexibler verfügbar zu machen, weil im Gegensatz zum Radio oder Fernsehen, das nur live lief, konnte man Zeitungen jederzeit lesen. Und außerdem konnte man die Reden für die Zeitungen nachträglich noch überarbeiten und redigieren und wahrscheinlich ist genau das hier auch passiert.

Silke Nora Kehl:
Und dann ist Edith und mir noch eine Passage aufgefallen, in der Helene Ansahl sich selbst als Opfer der Nazi- und Kriegsverbrecher beschreibt: „Wir wurden gezwungen, in den Wehrmachts- und Rüstungsbetrieben für den Krieg zu arbeiten“, das ist ihre Formulierung. Also, ist das in ihrem Fall biografisch gerechtfertigt oder ist das auch ein Stück weit Verklärung deutscher Schuld? Was wissen wir denn über ihr Leben zwischen 1933 und 1945?

Edith Schriefl:
Tatsächlich wissen wir gar nicht so viel über die Biografie von Helene Ansahl vor 45. Wir wissen nur, dass sie Chemikerin war, vielleicht meinte sie auch sich selbst, wenn sie sagt, wir wurden gezwungen, in diesen Betrieben zu arbeiten. Relativ sicher können wir sagen, dass sie keine Zwangsarbeiterin in dem Sinne war. Ja, vielleicht bedient sie einfach den allgemeinen Diskurs in der Zeit nach 1945, wonach Frauen als weniger schuldbeladen galten und auch oft dieses Narrativ vorherrschte, dass Frauen eher zu diesen Taten gezwungen worden seien, weil man ja eher als Frau auch unpolitisch sei. Das war die Vorstellung.

Silke Nora Kehl:
Diese Vorstellung entspricht allerdings nicht den Tatsachen. So hatten bei den Reichstagswahlen 1933 mehr Frauen als Männer die NSDAP gewählt und viele Frauen verehrten Hitler fanatisch. Insgesamt waren Frauen im Nationalsozialismus eben auch Täterinnen, Opfer oder Mitläuferinnen.

Collage:
Sprecher: „Frauen und Mütter! Behütet den Frieden für Eure Kinder! Wählt SED, Liste 1!“
Sprecherin: „Die Frau als Hüterin der christlichen Familie wählt CDU!“
Sprecher: „Hausfrauen – Eure Sorgen sind unsere Sorgen. Wählt SED!“
Sprecherin: „Frauen, stimmt für den Frieden, für eine glückliche Zukunft Eurer Kinder, wählt Liste 5, kommunaler Frauenausschuss!“

Silke Nora Kehl:
So klang Wahlwerbung im Herbst 1946 in Sachsen. Damals wurde der erste sächsische Landtag nach dem Krieg gewählt und diese Slogans standen auf Wahlplakaten oder Handzetteln, die verteilt wurden. Edith, ist das eigentlich Zufall, dass hier durchweg Frauen angesprochen werden oder ist das typisch für diesen Wahlkampf 1946?

Edith Schriefl:
Ja, also bei diesen Landtagswahlen war das erste Mal in der Geschichte die Anzahl der Wählerinnen deutlich höher als die der Wähler. Also in Sachsen kamen auf hundert Männer 170 Frauen. Das lag daran, dass ja viele Männer im Krieg gefallen sind oder in Kriegsgefangenschaft geraten sind. Außerdem waren auch ein paar Männer vom Wahlrecht ausgeschlossen aufgrund ihrer Verstrickungen in den Nationalsozialismus und entsprechend haben eben auch die Parteien reagiert und ihre Wahlwerbung auf Frauen ausgerichtet.

Silke Nora Kehl: 
Aha, also das heißt der Wahlkampf war richtig darauf zugeschnitten. Um welche Themen ging es denn, wie wollte man denn die Frauen ansprechen?

Edith Schriefl:
Ja, auf den Wahlplakaten und auch auf den Handzetteln wurden Frauen mit Themen angesprochen wie zum Beispiel der mangelhaften Versorgung mit Lebensmitteln und Heizmaterial, was ja ein sehr virulentes Thema war in der Zeit, aber auch die Trauer um gefallene oder vermisste Ehemänner war ein Thema und natürlich auch der dringende Wunsch nach Frieden. Die Parteien haben aber auch jeweils eigene Akzente gesetzt in ihrer Wahlwerbung um Frauen. Zum Beispiel hat die SED, die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands, gezielt um die Arbeiterinnenrechte geworben oder für ihren Einsatz um die Arbeiterinnenrechte geworben und die CDU wiederum zum Beispiel, die Christlich Demokratische Union, hat dann eher die Alltagssorgen der Hausfrauen ins Zentrum ihrer Wahlwerbung gestellt.

Sprecherin, weiblich, historischer O-Ton:
„Von einer Frau, die acht bis zehn Stunden Tag für Tag im Betrieb arbeitet, die in aller Herrgottsfrühe das Haus verlassen muss, in der Dunkelheit zurückkehrt und dann sich daran begeben muss, ihre Hausarbeit zu erledigen, von einer solchen Frau kann man kaum verlangen, dass sie noch einmal hinausgeht, um Vorträge zu hören oder gar Theater- oder Musikveranstaltungen zu besuchen. So interessiert sie auch daran wäre. Das dürfen wir nicht übersehen, wenn wir Frauen heranbilden wollen, die sich aktiv und interessiert am Staatsgeschehen beteiligen und ihrer Aufgabe der geistigen Umerziehung gerecht werden können.“

Silke Nora Kehl:
Hier haben wir gerade ein Zitat gehört von Gertrud Thürmer, sie war damals Abgeordnete des Ersten Sächsischen Landtags für die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands und ihr Zitat stammt aus einer Rede der zwölften Plenarsitzung des Landtags.

Edith Schriefl:
Ja, also dieses Zitat ist auch deswegen besonders interessant, weil diese Rede stammt aus dem Jahr 1947, aber Gertrud Thürmer spricht ein Dilemma an, das wir eigentlich auch heute noch genauso kennen. Heute nennen wir es Gender Care Gap, sie spricht von Hausarbeit. Gemeint ist im Prinzip das Gleiche, also neben dieser Verantwortung für Care Arbeit bleibt den Frauen auch heute und damals noch wenig Zeit für politischen Aktionismus und ja, was daraus folgt, ist auch heute noch aktuell. Es reicht nicht, dass Frauen Zutritt zur politischen Sphäre haben, sie müssen auch an anderer Stelle entlastet werden, um sich wirklich einbringen zu können.

Silke Nora Kehl:
Wir haben ja vorhin gehört, dass Frauen gezielt als Wählerinnen angesprochen wurden, aber welche Rolle spielten sie denn als Abgeordnete, also aktiv in den politischen Parteien? Wie ist das damals gewesen?

Edith Schriefl:
Ja, also tatsächlich war das Bemühen um eine relativ starke Repräsentanz von Frauen auf den Landeslisten bei den Wahlen in allen Parteien relativ groß, also vor allem die SED sah sich als Vorreiterin bei diesem Thema und legte ihren Landesverbänden sogar eine freiwillige Frauenquote nahe, also es wurde empfohlen, dass ein Drittel der Listenplätze auf diesen Landeslisten mit Frauen besetzt wurden und in Sachsen wurde dieses Kriterium auch erfüllt, es waren dann tatsächlich von 120 SED-KandidatInnen 38 Frauen. Auf den Listen der sogenannten bürgerlichen Parteien war der Frauenanteil nicht ganz so hoch, bei der CDU waren es 14 und bei der LDPD oder LDP waren es 15 Frauen.

Silke Nora Kehl:
Und haben die Frauen denn dann auch vor allem die SED gewählt, die ja dann am progressivsten war offenbar, was das Thema politische Teilhabe von Frauen betraf?

Edith Schriefl:
Interessanterweise beeinflusste der Frauenanteil auf den Listen die Wahlentscheidung der Frauen 1946 gar nicht unbedingt positiv. Was wir in Dresden sehen können, wo die Geschlechter zu statistischen Zwecken getrennt abstimmen sollten, ist Folgendes: und zwar haben die Frauen tendenziell konservativ gewählt, also die CDU vor allem und die LDP, Männer hingegen haben tendenziell eher die SED gewählt.

Silke Nora Kehl:
Der Sächsische Landtag hat sich dann am 22. November 1946 konstituiert, wie siehst du das, ist das für dich ein historischer Tag?

Edith Schriefl:
Ja, also es war frauengeschichtlich und parlamentsgeschichtlich schon ein historischer Tag, kann man sagen, dieser 22. November 1946, weil das erste Mal in der Geschichte so viele Frauen in einer Volksvertretung saßen, dass man eben nicht nach ihnen suchen musste, wie wir das aus der Weimarer Republik kennen, sondern man erkennt sie, wenn wir uns heute Fotos aus der Zeit angucken, auf den ersten Blick, ja mit ihren langen Röcken, Strickjacken, Blusen und auch häufig Hochsteckfrisuren sind sie ja auch neben den Männern, die dann doch häufig in Anzug und Krawatte aufgetreten sind, auch durchaus aufgefallen – also das ist schon ein historischer Moment.

Silke Nora Kehl:
Und wie viele Frauen sind dann tatsächlich in den Landtag eingezogen?

Edith Schriefl:
Insgesamt waren 33 der 120 Abgeordneten Frauen, das entspricht einem Anteil von knapp 28 Prozent und das war der höchste Frauenanteil in einem deutschen Parlament zu dieser Zeit, zum Vergleich im Bayerischen Landtag, der ungefähr zur gleichen Zeit konstituiert wurde, waren nur drei von 180 Abgeordneten weiblich.

Silke Nora Kehl:
Interessanterweise haben wir heute ganz genau dasselbe Zahlenverhältnis, in dem aktuellen Sächsischen Landtag, der am 1. September 2024 gewählt wurde, sind 120 Abgeordnete und 33 von ihnen sind Frauen, das entspricht 27,5 Prozent. Wir gehen jetzt aber zurück in das Jahr 1946 und hören rein in ein Zitat von der ersten Plenarsitzung.

Sprecherin, weiblich, historischer O-Ton:
„Die Frauen Sachsens erwarten von der neuen Volksvertretung, dass durch ihre gesetzgeberische und verwaltungsgemäße Arbeit die formale Gleichberechtigung der Frau auf allen Gebieten in die Wirklichkeit umgesetzt wird. Ich möchte noch aussprechen, dass gerade in unserer jetzigen Parlamentstätigkeit es darauf ankommt, unsere Frauen viel mehr ins politische Leben mit einzubeziehen und darüber hinaus zu beweisen, dass in Zukunft nicht nur die Männer Geschichte machen, sondern dass auch die Frauen mit dazu beitragen, den Frieden zu sichern.“

Silke Nora Kehl:
Ja, was wir da gerade gehört haben, ist eine Äußerung der damals knapp 40-jährigen Frauenrechtlerin Margarete Groh-Kummerlöw. Sie ist für die SED in den Landtag eingezogen und hat eben gleich in der ersten Sitzung für Aufbruchsstimmung gesorgt. In der nächsten Folge erfahren wir mehr über ihre Biografie und ich spreche mit Edith Schriefl auch darüber, wie sich die Frauen im Landtag eigentlich durchsetzen konnten, also welche Rolle frauenpolitische Themen und Gleichstellung tatsächlich gespielt haben in diesem ersten sächsischen Landtag der Nachkriegszeit.

Abspann: Das war Folge 5 von FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Autorin: Edith Schriefl; Sprecherin: Kirsten Schuhmann; Sprecher: Robby Langer; Redaktion: Silke Nora Kehl; Produktion: Bony Stoev; Idee und Konzept: Susanne Salzmann und Silke Nora Kehl.

Folge 6: 1946: Frauen im Sächsischen Landtag (2/2)

Eine junge Textilarbeiterin aus dem Vogtland: Mit 16 Jahren wurde sie politisch aktiv, mit 21 zog sie in der Weimarer Republik als jüngste Abgeordnete überhaupt in den deutschen Reichstag ein – für die Kommunistische Partei Deutschlands (KPD). Während des nationalsozialistischen Terrors wurde sie als Kommunistin mehrfach inhaftiert. Margarete Groh-Kummerlöw spielt in dieser Folge eine wichtige Rolle. Sie zählte zu den insgesamt 33 Frauen, die nach dem Zweiten Weltkrieg als Abgeordnete in den Sächsischen Landtag gewählt wurden. Schon in der konstituierenden Sitzung des Landtags, am 22. November 1946, hielt sie ein energisches Plädoyer dafür, dass Frauen genauso Geschichte schreiben sollten wie Männer. Dieses Zitat könnt Ihr in Folge 5 hören. In diesem zweiten Teil zum Sächsischen Nachkriegslandtag, der Folge 6, erfahrt Ihr mehr über die Biografie von Margarete Groh-Kummerlöw. Außerdem geht es darum, welche frauenpolitischen Anliegen die weiblichen Abgeordneten mitbrachten. Die aus Zwickau stammende Juristin Dr. Johanna Hassinger, die für die Liberal-Demokratische Partei Deutschlands (LDPD oder LDP) im Landtag saß, wirkte maßgeblich an der neuen Sächsischen Verfassung von 1947 mit. Außerdem setzten sie und andere Abgeordnete sich für progressive gesetzliche Regelungen ein, die konkrete Auswirkungen auf die Gleichstellung von Frauen und Männern hatten – und vielfach auch realisiert wurden. Zum Abschluss bitten wir unsere Autorin Dr. Edith Schriefl um ihre Einschätzung: Hatten die Frauen im Landtag damals genauso viel Macht wie die Männer? Mit einem kurzen Ausblick, ausgehend von der Zeit der Sowjetischen Besatzungszone auf die Entwicklungen in der DDR, beenden wir die Folge.

Mehr Informationen zu dieser Folge:

Für Folge 6 „1946: Frauen im Sächsischen Landtag (Teil 2)“ wurde folgende Literatur verwendet:

Quellen

Literatur

  • Bock, Jessica: Kontrollierte Selbstbestimmung. Schwangerschaftsabbruch in Sachsen 1945-1990, Dresden 2023.
  • Hippmann, Cornelia: Ostdeutsche Frauen in der Politik. Eine qualitative Analyse, Opladen, Berlin, Toronto 2014.
  • Schriefl, Edith: Versammlung zum Konsens. Der sächsische Landtag 1946-1952, Ostfildern 2020.
  • Schriefl, Edith: Ideal und Praxis weiblicher Partizipation im sächsischen Nachkriegslandtag 1946 bis 1950, in: Werner Rellecke, Susanne Schötz, Alexandra-Kathrin Stanislaw-Kemenah (Hrsg.): Frauen in Sachsen. Politische Partizipation in Geschichte und Gegenwart, Dresden 2022, S. 209–224.

Intro: Frauen. Macht. Geschichte

Silke Nora Kehl:
Hallo, herzlich willkommen zu Folge 6 – mit mir, Silke Nora Kehl, und …

Edith Schriefl:
Edith Schriefl.

Silke Nora Kehl:
Hallo Edith. Wir haben in der vorigen Folge schon über ein Thema gesprochen, bei dem Du Dich sehr gut auskennst. Du hast unter anderem Deine Dissertation darüber geschrieben, also Deine Doktorarbeit.

Edith Schriefl:
Ja, genau. Darin ging es um den sächsischen Nachkriegslandtag, der sich im November 1946 konstituiert hat, also vor knapp 80 Jahren. Und ich habe mich dann im Anschluss an die Dissertation mit der Rolle von Frauen in diesem sächsischen Nachkriegslandtag beschäftigt.

Silke Nora Kehl:
Wenn Ihr Folge 5 noch nicht kennt, startet am besten damit. Noch ein wichtiger Hinweis zur Einordnung: 1946 ebnete die sowjetische Besatzungszone den Weg in die kommunistische Diktatur. Dabei wurde die Vorherrschaft von SED und Massenorganisationen durchgesetzt. Andere Parteien und Kräfte konnten sich nicht frei entfalten.

Teaser: FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden.

Sprecherin, weiblich, historisches Zitat:
„Es ist mir eine besondere Genugtuung, auch heute wieder nach zwölf Jahren faschistischer Herrschaft im sächsischen Parlament tätig zu sein. Ich glaube, hier zum Ausdruck bringen zu können, dass nicht die Worte der Nationalsozialisten – dieser faschistischen Bande – recht hatten, die damals zu uns sagten: Was wollt Ihr Jungen schon im Parlament? Was versteht Ihr schon von Politik?“

Silke Nora Kehl:
Dieses Zitat von Margarete Groh-Kummerlöw stammt aus der ersten Plenarsitzung des Sächsischen Landtags. Wann war die denn genau, Edith?

Edith Schriefl:
Die erste Plenarsitzung war am 22. November 1946 und worauf Margarete Groh-Kummerlöw hier anspielt, ist, dass sie selbst im Jahr 1930, also noch in der Weimarer Republik, mit 21 Jahren die jüngste Abgeordnete im Sächsischen Landtag gewesen war und sie hat eben dafür wohl Hohn erfahren von den Abgeordneten der NSDAP.

Silke Nora Kehl:
Und was hat sie als so junge Frau, die sie ja noch war, dann bewegt, in die Politik zu gehen?

Edith Schriefl:
Sie wurde als Margarete Groh 1909 in Plauen im Vogtland geboren und sie ist dann ungelernt Textilarbeiterin geworden und ja, das war in der Region relativ üblich, aber sie hat sich eben in genau diesem Beruf dann stark politisiert und zwar recht jung, mit 16 Jahren und sie ist dann auch recht jung im Jahr 1930 in die KPD eingetreten und in genau dem gleichen Jahr wurde sie dann ja auch gleich Abgeordnete im Sächsischen Landtag.

Silke Nora Kehl:
Und wurde sie denn dann später, also nach 1933, als Kommunistin von den Nationalsozialisten verfolgt oder auch sogar verhaftet?

Edith Schriefl:
Ja, sie kam tatsächlich insgesamt zweimal in Haft, einmal auch recht früh, sie wurde eben als kommunistische Landtagsabgeordnete verfolgt, es erging ein Suchbefehl der Nazis gegen sie, sie ist untergetaucht, wurde aber in Bitterfeld gefunden, verhaftet und zu 20 Monaten Zuchthaus verurteilt. Sie blieb dann im politischen Widerstand, obwohl sie 1940 Mutter wurde, und sie wurde dann Mitte August 1944 erneut inhaftiert. Und kurz darauf haben die Nazis dann auch ihren Ehemann und ihre Schwester festgenommen, die in der Gestapo-Haft gestorben ist. Groh-Kummerlöw wurde 1944 in Potsdam des Hochverrats angeklagt, es kam aber nicht mehr zu einem Prozess, sie hat ein Glück die Haft im Zuchthaus überlebt und konnte deswegen dann auch 1945 wieder politisch aktiv werden.

Silke Nora Kehl:
Das heißt, sie hat nach all dem, was sie erlebt hat, was sie erleben musste, keine Pause eingelegt oder so, sondern sie ist direkt wieder eingestiegen in das politische Engagement, sie hat kandidiert und hat die Gesellschaft nach dem Krieg mitgestaltet.

Edith Schriefl:
Ja, im Prinzip ist sie direkt nach ihrer Befreiung aus der Haft 1945 wieder in die KPD eingetreten.

Sprecherin, weiblich, historisches Zitat:
„Mir ist es heute eine Genugtuung, wiederum meine ganze Person einsetzen zu dürfen für die Interessen der werktätigen Jugend, unserer Frauen und der gesamten Bevölkerung.“

Edith Schriefl:
Margarete Groh-Kummerlöw war ihr Leben lang politisch aktiv und machte dann später in der DDR auch Karriere. Sie hat zunächst die Zwangsvereinigung von SPD und KPD zur SED im April 1946 unterstützt, was für ihre politische Laufbahn natürlich von großer Bedeutung war. Später hat sie dann auch noch hohe Ämter bekleidet, darunter zum Beispiel auch die Position der Vizepräsidentin der Volkskammer.

Silke Nora Kehl:
Und wenn wir jetzt nochmal zurückschauen, Edith, auf das Jahr 1946 und auf die Politikerinnen, die in diesem ersten Landtag nach dem Krieg saßen, was haben die im Nationalsozialismus erlebt?

Edith Schriefl:
Ja, also die Erfahrung, während des Nationalsozialismus verfolgt worden zu sein, teilte Margarete Groh-Kummerlöw tatsächlich mit wirklich überraschend vielen Abgeordneten und auch mit vielen weiblichen Abgeordneten. Also allein von den 33 Frauen, die in diesem Landtag saßen, waren ungefähr acht, wenn nicht sogar mehr, während des Nationalsozialismus – ja entweder unter Berufsverbot gestellt worden, wurden aus Deutschland ausgewiesen. Einige saßen sogar in Konzentrationslagern und viele davon auch in dem Konzentrationslager in Ravensbrück.

Silke Nora Kehl:
Und aus welchen Gründen waren die Frauen inhaftiert worden?

Edith Schriefl:
Die Verfolgung hing in so gut wie allen Fällen mit einer politischen Betätigung zusammen, also es gab jetzt keine Abgeordnete, die beispielsweise während des NS aus sogenannten rassischen Gründen verfolgt worden war. Sowohl bei Margarete Groh-Kummerlöw als auch bei vielen anderen lagen die Gründe in einer sozialistischen oder kommunistischen Gesinnung oder eben einer anderen von den Nazis unerwünschten politischen Betätigung.

Silke Nora Kehl:
Und was ich jetzt noch in einen anderen spannenden Aspekt finde, in welcher Form sind denn die Frauen politisch aktiv gewesen? Also hatten sie Ämter inne, waren sie Mandatsträgerinnen oder in welchen Bereichen waren sie tätig und engagiert?

Edith Schriefl:
Ja, also insgesamt kann man sagen, dass die Anzahl der Abgeordneten in diesem Landtag, die schon politisch erfahren waren, also aus der Zeit vor 1933, recht hoch war, auch bei den Männern, aber eben auch bei den Frauen. Also 25 von diesen 33 weiblichen Abgeordneten hatten vor 1933 schon politische Erfahrungen gesammelt und ja, wie das aussah, war sehr, sehr vielfältig. Also es gab Frauen, die hatten vor 1933 gewerkschaftliches Engagement gezeigt, es gab viele Frauen, die waren in Jugendverbänden gewesen, aber auch ganz viele, die tatsächlich schon einer Partei angehört hatten und auch einige, die als Parteivertreterinnen in Parlamenten tätig waren, also unter anderem im Sächsischen Landtag, aber auch im Reichstag.

Silke Nora Kehl:
Ja, vielen Dank für diese Einblicke in die Biografien, also wirklich sehr spannende Personen finde ich, auch gerade die Frauen, die als Abgeordnete in den Landtag eingezogen sind. Mich würde jetzt nochmal ein anderes Thema interessieren und zwar, wie erfolgreich konnten eigentlich Themen wie Gleichstellung von Männern und Frauen oder andere politische Themen, die die Frauen besonders bewegt haben, verhandelt werden, also wie viel Erfolg hatten eigentlich die weiblichen Abgeordneten?

Edith Schriefl:
Ja, tatsächlich kann man schon sagen, dass diese starke personelle Repräsentation, also die hohe Anzahl an Frauen in diesem Landtag, schon konkrete politische Auswirkungen hatte. Wir sehen schon, dass zwischen 1946 und 1950 in diesem ersten Landtag eine ganze Reihe von Gesetzen verabschiedet wurden, die sich erstaunlich fortschrittlich auf Frauenrechte konzentrierten.

Sprecher, männlich, Zitat aus der Sächsischen Verfassung von 1947:
„Die Frau ist auf allen Gebieten des staatlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Lebens dem Manne gleichgestellt.“

Silke Nora Kehl:
So stand es in der neuen Sächsischen Verfassung von 1947. An dem Artikel wirkten auch drei Frauen maßgeblich mit – Johanna Hassinger, Grete Wendler und Elisabeth Gumpert. Und wir hören jetzt einen kurzen Auszug aus einer Rede von Johanna Hassinger im Landtag. Sie war promovierte Juristin.

Sprecherin, weiblich, historisches Zitat:
„Ich bin sehr erstaunt gewesen, von Herrn Dr. Zeigner zu hören, dass er glaubt, die Ungleichheit der Frau durch die unmittelbare Geltung des Verfassungsrechts mehr oder weniger beseitigt ist. Ich möchte Herrn Dr. Zeigner darauf hinweisen, wie ernsthaft wir uns im Verfassungsausschuss mit dem Problem befasst haben, dass wir ausdrücklich den ursprünglichen Entwurf der Verfassung, in dem steht, dass alle der Gleichberechtigung der Frau zu widerstehenden Gesetze aufgehoben sind, abgeändert haben, in die jetzt gültige Fassung, gesetzliche Bestimmungen, die der Gleichberechtigung der Frau entgegenstehen, sind aufzuheben. Ich erwähne das Beispiel der verschiedenen Güterrechte.“

Edith Schriefl:
Ja, wie wir hören, argumentierte Johanna Hassinger auch wirklich recht scharf gegen den Juristen und ehemaligen Justizminister, muss man sagen, Erich Zeigner. Also sie tritt da auch wirklich selbstbewusst auf und sagt eben, dass es nicht reicht, in der Verfassung von einer Gleichheit der Geschlechter zu sprechen, wenn nicht gleichzeitig alle Paragrafen des Bürgerlichen Gesetzbuches, die der Gleichberechtigung entgegenstehen, abgeändert werden.

Silke Nora Kehl:
Und gab es noch weitere, vielleicht auch eher gesellschaftliche oder gesellschaftspolitische Themen, die verhandelt wurden oder was gab es denn noch für progressive Gesetzgebungen vielleicht?

Edith Schriefl:
Ja, wir sehen das nicht nur in der formalen Gleichstellung – also in der Verfassung –, sondern auch zum Beispiel in Fragen der Besteuerung von ledigen Frauen und Alleinerziehenden oder auch in der Unterstützung berufstätiger Frauen durchaus wirklich Erfolge erzielt wurden. Und ein ganz wichtiges Gesetz war das Gesetz über die Unterbrechung der Schwangerschaft von 1947, und dieses Gesetz hat den Paragrafen 218 des Strafgesetzbuches außer Kraft gesetzt. Also tatsächlich wurden Abtreibungen in bestimmten Fällen legalisiert. Das war eine der fortschrittlichsten Regelungen in der deutschen Rechtsgeschichte und das ist natürlich sehr eindrucksvoll. Gleichzeitig muss man sagen, dass diese Regelung aus der Zeit geboren war, also, dass wir sehen, dass es einfach eine große Not gab. Zum einen wollten viele Frauen in der Zeit, wo Lebensmittel so knapp waren und so weiter, vielleicht kein weiteres Kind bekommen oder konnten das gar nicht schaffen. Zum anderen gab es ja auch dieses große Problem der Vergewaltigungen kurz nach dem Krieg auf das man irgendwie reagieren musste.

Silke Nora Kehl:
Das bedeutet quasi, dass die traumatischen Erfahrungen von Frauen, akute Notlagen und sozial relevante Themen mit ihnen in den Landtag einzogen. Würdest du denn sagen, dass sie genauso viel politischen Einfluss nahmen wie Männer? Also war die Macht gerecht verteilt?

Edith Schriefl:
Wenn wir auf die Führungspositionen gucken, müssen wir diese Frage mit Nein beantworten. Also – weder gab es eine weibliche Fraktionsvorsitzende noch war im Landtagspräsidium eine Frau vertreten, und sogar in dem Ausschuss für Arbeit und Sozialfürsorge, der zu zwei Dritteln aus Frauen bestand, war der Vorsitzende ein Mann. Also trotz dieser zahlenmäßigen Repräsentanz und auch trotz der inhaltlichen Erfolge waren Frauen systematisch von Macht ausgeschlossen.

Silke Nora Kehl:
Also das heißt, auf höchster Ebene oder wenn es dann vielleicht auch wieder um die großen Entscheidungen ging, hatten offensichtlich dann doch wieder die Männer das Sagen. Woran lag das denn?

Edith Schriefl:
Ja, also ich würde sagen, wahrscheinlich ist das eine sehr komplexe Gemengelage an Gründen. Wir können ja auch heute nicht im Detail nachvollziehen, warum an bestimmten Stellen Frauen nicht den gleichen Einfluss haben wie Männer. Was wir auf jeden Fall wissen – auch heute – ist, dass Männernetzwerke da eine ganz, ganz große Rolle spielen. Und wenn man auf die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg blickt, dann sieht man eben, die bestimmende, letztlich entscheidende Macht war ja die sowjetische Besatzungsmacht und das waren ausschließlich Männer.

Silke Nora Kehl:
Und wie entwickelte sich das dann später in der DDR weiter? Wie viel politischen Einfluss hatten Frauen? Was würdest du sagen?

Edith Schriefl:
Die Muster, von denen wir jetzt gesprochen haben, die setzten sich mehr oder weniger genau gleich auch in der DDR fort. Wir haben einerseits die Volkskammer, die immer einen recht hohen Frauenanteil hatte, also so ab den 60er Jahren eigentlich durchschnittlich immer etwa ein Drittel der Abgeordneten, die Frauen waren. Gleichzeitig blieben ihnen die höheren Machtpositionen weitgehend verschlossen. Deutliches Beispiel: Das Politbüro der SED, das war das zentrale Machtorgan in der DDR, hatte in den gesamten 40 Jahren keine einzige Frau als stimmberechtigtes Vollmitglied. Und in den 40 Jahren DDR gab es auch nur zwei Frauen, die das Amt einer Ministerin innehatten. Das waren einerseits Margot Honecker, sie war Bildungsministerin, und andererseits Hilde Benjamin, sie war Justizministerin gewesen.

Silke Nora Kehl:
Edith, ganz herzlichen Dank dir für das spannende Gespräch. Wir setzen hier erstmal einen Punkt und verabschieden uns von Euch. Für alle, die mehr über dieses Thema und die Zeit wissen wollen, guckt rein in unsere Shownotes, dort gibt’s weitere Infos. In Folge 7 wird es dann um Louise Otto-Peters und August Bebel gehen.

Abspann: Das war Folge 6 von FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Autorin: Edith Schriefl; Sprecherin: Kirsten Schuhmann; Sprecher: Robby Langer; Redaktion: Silke Nora Kehl; Produktion: Bony Stoev; Idee und Konzept: Susanne Salzmann und Silke Nora Kehl.

Folge 7: Louise Otto-Peters trifft August Bebel

Wer war die erste deutsche Feministin – und wer war der erste deutsche Feminist? In Folge 7 stellt uns Professorin Susanne Schötz von der TU Dresden zwei herausragende Persönlichkeiten des 19. Jahrhunderts vor, die für die Rechte der Frauen eintraten: Louise Otto-Peters und August Bebel. Beide gehören zu den wenigen Vorkämpfern und Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht – lange Jahrzehnte bevor es eingeführt wurde. Louise Otto-Peters, die sich an der Revolution 1848/49 beteiligte, gründete den Allgemeinen Deutschen Frauenverein, mit dem die organisierte bürgerliche Frauenbewegung Deutschlands 1865 ihren Anfang nahm. August Bebel war Drechslermeister, Reichstagsabgeordneter und einer der Begründer der deutschen Sozialdemokratie. Vor allem war er ein berühmter Publizist. Sein Buch „Die Frau und der Sozialismus“, das erstmals 1879 erschien, war die große Zukunftsvision einer sozialistischen Gesellschaft, in der Männer und Frauen völlig gleichberechtigt sein sollten.

Dazu ist wichtig zu wissen: Im 19. Jahrhundert hatten Frauen auf keinem Gebiet die gleichen Rechte wie Männer, weder in Ehe und Familie, noch im Bereich der Bildung und der Erwerbsarbeit, noch im öffentlichen Leben. Politik war Männersache, Frauen besaßen kein Wahlrecht. Vor diesem Hintergrund sind die Schriften von Louise Otto Peters und August Bebel ausgesprochen progressiv und visionär. Allerdings: August Bebel ist bis heute die bekanntere dieser beiden Persönlichkeiten. Warum blieb er stärker ins kollektive Gedächtnis eingeprägt als Louise Otto-Peters – weil er ein Mann und sie eine Frau war? Wer ist es, der am Ende Geschichte schreibt? Auch darüber spricht Prof. Schötz in dem Interview mit Host Susanne Salzmann.

Hinweis: Bei ihrer Namensnennung wechselte die Autorin Louise Otto-Peters zwischen ihrem Doppelnamen und ihrem Mädchennamen Louise Otto. Peters war der Nachname, den sie von ihrem Ehemann August Peters annahm. Ihre literarischen Werke, darunter Romane, Novellen, Gedichte und Opernlibretti, sind sämtlich nur mit Louise Otto überschrieben. Bei den frauenpolitischen Schriften zeichnete sie meistens als Louise Otto-Peters – aber auch dies nicht durchgehend. Wir haben sie jeweils so zitiert, wie sie sich selbst bezeichnet hatte.

Mehr Informationen zu dieser Folge:

Für Folge 7 Louise Otto-Peters trifft August Bebel wurde folgende Literatur verwendet:

Quellen

  • Louise Otto-Peters: Das Recht der Frauen auf Erwerb. Wiederveröffentlichung der Erstausgabe aus dem Jahr 1866. Mit einer Reminiszenz der Verfasserin und Betrachtungen zu der Schrift aus heutiger Sicht, hrsg. im Auftrag der Louise-Otto-Peters-Gesellschaft e. V. von Astrid Franzke, Johanna Ludwig und Gisela Notz unter Mitarbeit von Ruth Götze (= LOUISEum 7), Leipzig 1997.
  • Louise Otto: Der Genius des Hauses, Wien/Pest/Leipzig 1869.
  • Louise Otto: Der Genius der Menschheit im Dienste der Humanität, Wien/Pest/Leipzig 1870.
  • Louise Otto: Der Genius der Natur. Harmonien der Natur zu dem Frauenleben der Gegenwart, Wien/Pest/Leipzig 1871.
  • Louise Otto: Frauenleben im Deutschen Reich. Erinnerungen aus der Vergangenheit mit Hinweis auf Gegenwart und Zukunft, Leipzig 1876.
  • August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 10/1 Die Frau und der Sozialismus, 1. Auflage 1879. Mit einem Geleitwort von Susanne Miller. Bearbeitet von Anneliese Beske und Eckhard Müller, hrsg. v. Internationalen Institut für Sozialgeschichte Amsterdam, München/New Providence/London/Paris 1996.
  • August Bebel: Ausgewählte Reden und Schriften. Bd. 10/2 Die Frau und der Sozialismus, 50. Auflage 1910. Beilagen, Anmerkungen und Register. Mit einem Geleitwort von Susanne Miller. Bearbeitet von Anneliese Beske und Eckhard Müller, hrsg. v. Internationalen Institut für Sozialgeschichte Amsterdam, München/New Providence/London/Paris 1996.
  • August Bebel: Aus meinem Leben, 6. Aufl., Berlin 1980 (1. Aufl. 1910).

Literatur

Musik

Intro: Frauen. Macht. Geschichte

Susanne Salzmann:
Hallo! Wir sind Susanne Salzmann

Silke Nora Kehl:
und Silke Nora Kehl. Wir haben uns diesen Podcast quasi zusammen ausgedacht und nehmen heute gemeinsam Folge 7 auf.

Susanne Salzmann:
Die letzte Folge des Podcasts.

Silke Nora Kehl:
Ja! Mit einem spannenden Gast, Susanne. Ihr beide macht heute gemeinsam ein Gespräch. Ich bin gespannt.

Susanne Salzmann:
Ja, Nora, bei uns ist heute Professorin Susanne Schötz. Ich freue mich sehr. Susanne, worüber sprechen wir heute?

Prof. Susanne Schötz:
Wir sprechen heute über die Emanzipationsvisionen von Louise Otto-Peters und von August Bebel.

Susanne Salzmann:
Und du bist die Fachfrau für das Thema. Du hast jahrelang, jahrzehntelang zu beiden geforscht, publiziert und auch gelehrt, weil bevor ich dich kennengelernt habe, wusste ich von Louise Otto-Peters noch gar nichts. Ich habe sie in einer Lehrveranstaltung als Studentin von dir, bei dir kennengelernt. Wo kommt bei dir denn das Interesse her?

Prof. Susanne Schötz:
Ja, ich bin vor allen Dingen auf Gemeinsamkeiten zwischen beiden gestoßen und die haben mich dazu gebracht, mich dann mit ihren Konzepten näher zu beschäftigen. Zum einen muss man ja sagen, beide waren herausragende Persönlichkeiten der deutschen Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts. Beide standen – zur gleichen Zeit übrigens – an der Spitze großer sozialer Emanzipationsbewegungen: Louise Otto an der Spitze der Frauenbewegung in Deutschland, August Bebel an der Spitze der sozialdemokratischen Arbeiterbewegung und beide einte noch ein Drittes: Beide gehören zu den ganz wenigen Vorkämpfern und Vorkämpferinnen für das Frauenwahlrecht im neunzehnten Jahrhundert in Deutschland, lange, lange Jahrzehnte bevor es eingeführt wurde.

Teaser: FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden.

Sprecherin weiblich, historisches Zitat von Louise Otto-Peters:
„Nur was wir mit unserer eigenen Kraft erringen, hat einen Wert und darum ward ein Frauenverein gegründet, den nur Frauen leiten, indem nur Frauen eine entscheidende Stimme haben. Und wenn uns dabei auch der Beistand gleichgesinnter Männer willkommen ist, so wollen wir doch durch diesen Verein gleichsam ein Probestück ablegen von dem, was deutsche Frauen können und wollen, wenn man sie tun lässt, was sie wollen, wenn sie in wichtigen Dingen einmal nach ihren Prinzipien, nach ihrem eigenen Kopfe, nach ihren eigenen Herzen handeln dürfen.“

Susanne Salzmann:
Ja, wir haben jetzt ein Zitat von Louise Otto-Peters gehört, Susanne, woher kommt das Zitat, aus welchem Jahr kommt das und wer war eigentlich Louise Otto-Peters?

Prof. Susanne Schötz:
Das ist ein Zitat aus dem Jahr 1870 und stammt aus dem Buch von Louise Otto, Der Genius der Menschheit, das war der zweite Band ihrer Genius-Triologie  In dem Zitat bezieht sie sich auf die Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins 1865 in Leipzig, dessen Vorsitzende sie war und damit sind wir schon beim großen Thema. Für mich ist Louise Otto-Peters die bedeutendste Feministin des 19. Jahrhunderts. Sie hat schon im Vormärz, also in den 1840er Jahren, sich mit der abhängigen, untergeordneten, zum Teil völlig rechtlosen Stellung der Frauen in Ehe und Familie, in Wirtschaft, Gesellschaft und Staat auseinandergesetzt, war eine Revolutionärin in der Revolution von 1848–49, wo sie für Frauenrechte eingetreten ist, aber ihre größte Bedeutung hat sie dann 1865 in Leipzig erlangt mit der Gründung erst des Frauenbildungsvereins in Leipzig im März 1865 und dann im Oktober 1865 mit der Gründung des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, mit dem die organisierte bürgerliche Frauenbewegung Deutschlands ihren Anfang nahm.

Susanne Salzmann:
Hören wir jetzt unseren anderen Protagonisten mit seinen Gedanken zu den Eigenschaften einer Frau.

Sprecher, männlich, historisches Zitat von August Bebel:
„Die vielgetadelte Zungenfertigkeit und Klatschsucht, die Neigung, über die nichtigsten und unbedeutendsten Dinge unendliche Unterhaltungen zu führen, die Gedankenrichtung auf das rein Äußerliche, die Putz- und Gefallsucht und der daraus folgende Hang für alle Modetorheiten. Ferner leicht erregbarer Neid und Eifersucht gegen die Geschlechtsgenossinnen.“

Susanne Salzmann:
Das war August Bebel mit einem kleinen Zitat. Susanne, magst du kurz was sagen, woher stammt das Zitat?

Prof. Susanne Schötz:
Ja, das ist ein Zitat aus der ersten Auflage seines Buches Die Frau und der Sozialismus - seiner großen Emanzipationsvision aus dem Jahr 1879. Zum Zitat möchte ich vielleicht sagen, dass man im 19. Jahrhundert von der Wesensverschiedenheit von Männern und Frauen ausgegangen ist, dass das ein ganz verbreitetes Denken in allen Klassen und Schichten bei allen Menschen gewesen ist. Man hat angenommen, dass Männer und Frauen sehr unterschiedliche Wesen seien, Männer vor allen Dingen durch Stärke charakterisiert, durch Vernunft, durch größeren Verstand und Frauen charakterisiert vor allen Dingen durch ihr Herz, durch ihr Gefühl, durch ihre Liebesfähigkeit und im Gegensatz zu Männern durch ihre Schwäche. Und dazu kamen aber eine ganze Reihe anderer Geschlechterstereotype noch hinzu. Als unversorgte Frauen haben Frauen keine Chance, also sie verdienen deutlich weniger als Männer, sie führen dann ein elendes Leben, fristen eine elende Existenz, deshalb müssen sie nach der Ehe streben und das wiederum, so schlussfolgert Bebel, bringt Frauen in einen heftigen Konkurrenzkampf um die Männer und in dem Konkurrenzkampf, da wenden sie eben alle Mittel an:  Sie verschönern sich so gut es geht, um nach außen eben eine angenehme Erscheinung für die Männer zu sein und wo das nicht hilft, setzen sie auch andere Mittel ein, üble Nachrede gegenüber Konkurrentinnen, Klatschsucht und so weiter und so fort, also das ist ja gerade zitiert worden und Bebel begründet das dann sogar mit Darwin, er sagt, das sind die darwinschen Vererbungs- und Entwicklungsgesetze, die man an den Frauen sehr gut sehen kann, sie haben eben jahrhundertelang in absoluter Ohnmacht und Abhängigkeit gelebt und sich entsprechend angepasst und nur die am besten angepassten, die sozusagen erreichen ihr Ziel, die schnappen sich auch einen Mann und deshalb erreicht man in der Gegenwart, wo die soziale Situation der Frauen wieder eine sehr Elende im Allgemeinen ist, deswegen erlebt man in der Gegenwart eigentlich die schlimmste Zuspitzung dieser Charaktereigenschaften der Frauen, das ist seine Meinung.

Susanne Salzmann:
Auch Louise Otto-Peters ging von spezifischen weiblichen Charaktereigenschaften aus, wie man hier gut hören kann.

Sprecherin, weiblich, Zitat Louise-Otto Peters:
„Das ewig Weibliche, begeistertes Wirken im Dienste der Humanität, in ahnungsvoller Innigkeit und leichterregter Begeisterung an die Ausbreitung einer Idee sich hinzugeben, der die Zukunft gehört und welche keine andere ist, als die alte und nur erneuerte Prophezeiung eines Gottesreiches auf Erden.“

Prof. Susanne Schötz:
Ja, die genannten Eigenschaften, die hat Louise Otto-Peters schon 1851 als das ewig Weibliche bezeichnet. Für Louise Otto-Peters waren die genannten Eigenschaften eben das Bedürfnis zu lieben und sich, wenn nötig, aufzuopfern – sie nennt es dieses selbstlose opferfreudige Walten der Liebe oder dieses begeisterte Wirken im Dienste der Humanität – das alles sind für sie keine Zeichen der Schwäche, das sind keine dem männlichen Verstand, der Rationalität und männlichen Stärke untergeordnete Eigenschaften, ganz im Gegenteil: Sie ist der Auffassung, dass Gott der Schöpfer eben Männer und Frauen geschaffen hat als unterschiedliche Wesen mit unterschiedlichen Eigenschaften, aber ebenbürtig, wir würden heute sagen völlig gleichwertig.

Susanne Salzmann:
Jetzt haben wir schon ein bisschen was über das Denken und möglicherweise die Beobachtung des August Bebel gehört, aber wer war eigentlich August Bebel?

Prof. Susanne Schötz:
August Bebel war, muss man sagen, ein sehr bedeutender Sozialdemokrat, einer der Begründer der deutschen Sozialdemokratie, er wurde 1840 in Köln-Deutz geboren,  er stammt aus einfachen Verhältnissen, hat eine Drechslerlehre gemacht, auch später das Meisterrecht als Drechsler erworben und war in Leipzig als Drechslermeister tätig, er hat sich früh in der Arbeiterbildungsbewegung engagiert, war dann an den verschiedenen Parteigründungen beteiligt, die schließlich zur Gründung der deutschen Sozialdemokratie führten. Und war einer der bedeutendsten Sozialdemokraten im Kaiserreich, er hatte den Ruf eines Arbeiterkaisers oder Gegenkaisers, weil er als Reichstagsabgeordneter für seine Reden berühmt war, weil er ein berühmter Publizist war und weil er vor allen Dingen ungemein berühmt war für sein Buch Die Frauen der Sozialismus, es erschien in der ersten Auflage 1879, war eine große Zukunftsvision einer sozialistischen Gesellschaft mit völlig gleichberechtigten Frauen.

Susanne Salzmann:
Ja, das klang jetzt schon in der Vorstellung der beiden Personen an, es gab Ideen von der gesellschaftlichen Veränderung, Ideale davon, hören wir doch mal Louise Otto-Peters zu ihren Idealvorstellungen einer Gesellschaft.

Sprecherin, weiblich, historisches Zitat Louise Otto-Peters:
„Das Ziel ist die Harmonie der Menschheit und diese ist so lange nicht hergestellt, solange noch ein Mensch daran gesetzlich oder gesellschaftlich gehindert ist, sich selbst mit sich und seiner Umgebung in Harmonie zu setzen und er ist daran gehindert, solange es ihm nicht möglich oder doch von anderen Menschen erschwert wird, sich selbst und seine Fähigkeiten zu entfalten und zu benutzen im Interesse seiner selbst in freier Selbstbestimmung, wie des Allgemeinen, in freiwilliger Unterordnung und Hingebung.“

Susanne Salzmann:
Wir haben nun Gedanken von Louise Otto-Peters gehört zu einer gesellschaftlichen Veränderung. Susanne, woher stammt das Zitat und wie würdest du das einordnen?

Prof. Susanne Schötz:
Ja, das ist ein Zitat aus ihrem Buch Frauenleben im Deutschen Reich von 1876 und da aus dem letzten Kapitel „Zukunft“ heißt das und „Zukunftshoffnungen“ und da beschreibt sie eben ihre Vision von der künftigen Gesellschaft und der Gleichberechtigung der Frauen. Sie nennt das die „Herrschaft der alles besiegenden Humanität“ oder das „Ideal von der Harmonie der Menschheit“. Also jeder Mensch möge sich frei entfalten, aber im Dienste der Allgemeinheit, zum Nutzen und Wohle aller, so soll die künftige bessere humanere Gesellschaft geschaffen werden – und August Bebel dachte ganz ähnlich, inhaltlich hat er ganz ähnliche Gedanken benutzt, ganz ähnliche Worte spricht ebenfalls von der freien Entfaltung des Individuums zum Wohle aller, aber bei ihm heißt das Ganze anders: Er spricht vom „vollendeten Sozialismus“.

Susanne Salzmann:
Hier klang es schon ein bisschen an, welche Ähnlichkeiten da sind bei beiden, vielleicht können wir da konkreter einsteigen, worin bestanden überhaupt Gemeinsamkeiten in ihren Ideen – gerade in Bezug auf die Frauenrolle, gerade in Bezug auf die Frauenemanzipation?

Prof. Susanne Schötz:
Na, das was sie so allgemein als Zukunftsvision formuliert hatten, das galt aus ihrer Sicht eben für alle Menschen und das heißt für Männer und Frauen, Frauen dürfen sich genauso frei entfalten, dürfen ihre Fähigkeiten genauso frei entfalten, selbstbestimmt wie Männer. Also das eint beide, diese Grundvorstellung von der freien Entfaltung des Individuums und ansonsten eint sie auch, dass sie von der Wesensverschiedenheit von Männern und Frauen überzeugt waren, da hatten wir schon was dazu gesagt, aber ich kann vielleicht an der Stelle ergänzen, für August Bebel war es ganz selbstverständlich, dass die unangenehmen weiblichen Charaktereigenschaften im Sozialismus verschwinden würden.  Weil der Sozialismus, den er entworfen hat, ja die neue Gesellschaft war, die die Gleichberechtigung aller Menschen gebracht hat und die demzufolge, oder in der demzufolge Frauen als freie Gleiche neben und mit den Männern existieren. Und das ist sicherlich aus heutiger Sicht besonders erwähnenswert, dass beide vollkommen in Geschlechterpolarität und Geschlechterdualismus dachten, es gab für beide als Gattungswesen nur Männer und Frauen, ein drittes Geschlecht wie auch immer beschaffen existierte für beide im Denken nicht.

Susanne Salzmann:
Ja, also es gab einige Gemeinsamkeiten in den Visionen einer Idealgesellschaft, aber wie sahen denn beide, wie sah Louise Otto-Peters, wie sah August Bebel den Weg dahin?

Prof. Susanne Schötz:
Bei der Frage der Wege gab es tatsächlich zwischen beiden die größten Unterschiede. Verknappt gesagt, August Bebel war für den Weg der Revolution, um eine neue Gesellschaft, den Sozialismus zu errichten und Louise Otto war für reformerische Schritte, um das Ideal von der Harmonie der Menschheit umzusetzen.  Für August Bebel war es so, dass er davon ausging, dass eine Revolution stattfinden müsse. Er beschreibt dann, dass es eine politische Veränderung der Machtverhältnisse geben muss und eine ökonomische, politisch soll der reine Volkstaat geschaffen werden, der soll sofort die Gleichberechtigung aller Menschen ausrufen, also der Männer und Frauen und der Angehörigen aller Klassen und Schichten, aller Religionen, aller Konfessionen. Und ökonomisch hat er sich das so vorgestellt, dass das Privateigentum an Produktionsmitteln, an Arbeitsmitteln abgeschafft wird, dass ein gesellschaftliches Gesamteigentum geschaffen wird, dass das an Produktionsassoziationen in den verschiedenen Bereichen des Wirtschaftslebens gegeben wird. Und er hat dann gedacht und es auch so formuliert, es gibt dann keinen antagonistischen Gegensatz mehr zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern, zwischen Unternehmern und Arbeitern und das wird dazu führen, dass alle unheimlich daran interessiert werden, ihre Fähigkeiten zu entfalten, Ideen einzubringen, technische Neuerungen zu entwickeln, also er spricht dann von einer ungeheuren Entfaltung von Genie und Elan und von Fortschritt, der dann quasi automatisch sich entwickeln würde.

Susanne Salzmann:
Und Louise Otto-Peters, wie sieht sie das?

Prof. Susanne Schötz:
Louise Otto-Peters hat schlicht gesagt nicht mehr auf eine Revolution gewartet. Sie hat die Niederlage der Revolution von 1848, 1849 miterlebt und was sie aber besonders getroffen hat schon in der Revolution, dass die fortschrittlichsten Revolutionäre, die berühmtesten Demokraten Deutschlands an keiner Stelle in der Revolution Frauenrechte gefordert haben. Da war nie die Forderung gleicher bürgerlicher Rechte für Frauen und nie die Forderung von Gleichheit in Ehe und Familie und der Änderung des Ehe- und Familienrechts beispielsweise und da war auch nie die Forderung nach politischer Partizipation, nach dem Frauenwahlrecht, die hat einfach niemand erhoben. Sie hat sehr darauf gewartet und sehr darauf gehofft, das passierte schlichtweg überhaupt nicht. Das war eine große Enttäuschung für sie, neben der Niederlage und der gewaltsamen Niederschlagung der Revolution. Und für sie war die Erkenntnis: Wenn wir etwas ändern wollen, müssen wir es selbst tun und wir müssen im Hier und Heute und Jetzt beginnen, egal wie die Verhältnisse sind. Und mit „wir“ meinte sie in erster Linie, wir Frauen, weil wir in der gleichen unterdrückten Stellung uns befinden, in der gleichen rechtlosen Stellung – und Frauen hatten im 19. Jahrhundert auf keinem Gebiet die gleichen Rechte –, weder in Ehe und Familie, da war der Mann das Oberhaupt mit Letztentscheidungsrecht in jeder Frage, noch im Bereich der Bildung, noch im Bereich der Erwerbsarbeit, Frauen bekamen nur 50 Prozent des Lohnes der Männer, noch im Bereich des öffentlichen Lebens, Frauen hatten in der Öffentlichkeit nicht selbstständig aufzutreten, noch im Bereich des politischen Lebens, Politik war Männersache, Frauen brauchten kein Wahlrecht, die Männer wählten für die Frauen mit. Ja. Und in dieser Situation war sie der Meinung, weil Frauen alle unter diesen Verhältnissen lebten, müssten sich Frauen am besten in Frauenvereinen zusammentun und dann selbst überlegen, was für sie die wichtigsten Dinge sind, die sie ändern wollen. Wenn sie zum Beispiel Bildungsmöglichkeiten für Mädchen schaffen wollen, ja warum dann nicht selbst eine Abendschule für Mädchen gründen, eine Sonntagsschule einrichten oder: Warum nicht Nähmaschinen kaufen und Mädchen Nähmaschinenunterricht geben, damit sie dann besser als Schneiderin oder Näherin ihr Geld verdienen können, als mit Handarbeit, ja, also warum nicht solche ganz konkreten Schritte beginnen, oder warum nicht Kindergärten selbst einrichten als Frauenverein, damit die Kinder betreut sind, während die Mütter arbeiten müssen, warum nicht Kindergärtnerinnen selbst ausbilden und so weiter und so fort. Also dieses ganze Feld war in ihrem Denken und die vielen Frauen an ihrer Seite hatten viele eigene Ideen, da ist unheimlich viel dann eben einfach umgesetzt worden, auf der Grundlage des Vereins, also der bürgerliche Verein als Organisationsform war das entscheidende Mittel, Mitglied im Verein werden, dann selbst darüber beraten, was wollen wir tun, was wollen wir konkret erreichen, und das dann Schritt für Schritt umsetzen. Und das ging natürlich nicht ohne Einfluss auf die Männerwelt. Denn bei allem, was die Frauen wollten, mussten sie ja die Männer fragen, die Obrigkeit fragen in der Stadt, die Kommunalverwaltung anfragen, und das stieß natürlich auch Männer an und brachte sie in Bewegung, indem sie eben entweder Dinge genehmigten oder ablehnten. Und so kann man sagen, ging von der Frauenbewegung ein wirklich irreversibler Einfluss auf die Gesellschaft des Kaiserreichs aus. Das war sehr innovativ, auch wenn die einzelnen Schritte vielleicht ganz klein nur waren.

Susanne Salzmann:
Die Frauen müssen es selbst tun, das war das Credo dann von Louise Otto-Peters, die Erkenntnis, zu der sie kam, wie du das beschrieben hast, wie August Bebel darauf zurückschaut auf die Entwicklung der Frauenbewegung seiner Zeit, das hören wir jetzt in einem Zitat.

Sprecher, männlich, historisches Zitat August Bebel:
„Die Frauenbewegung, und zwar die bürgerliche wie die proletarische, hat in den 30 Jahren, seitdem mein Buch erschien, viel erreicht, und zwar in allen Kulturländern der Erde. Es dürfte kaum eine zweite Bewegung geben, die in so kurzer Zeit so günstige Resultate erzielte. Die Anerkennung der politischen und bürgerlichen Gleichberechtigung der Frau und die Zulassung zum Studium auf den Hochschulen und der Zutritt zu ihr früher verschlossenen Berufen hat große Fortschritte gemacht.“

Susanne Salzmann:
Ja, August Bebel haben wir gerade gehört, der dazu formuliert, wie die Frauenbewegung oder dass die Frauenbewegung große Fortschritte gemacht hat. Jetzt frage ich dich so ketzerisch, Susanne, stimmt das? Hat die Frauenbewegung aus der damaligen, also oder aus der heutigen Sicht auf die damalige Zeit, hat die Frauenbewegung denn so große Fortschritte gemacht?

Prof. Susanne Schötz:
Ja, also das Zitat ist ja eins aus der 50. Auflage seines Buches Die Frau und der Sozialismus von 1910, da waren tatsächlich inzwischen 30 Jahre vergangen, viele neue Auflagen erschienen. Und war es denn so, wie er es beschreibt? Ja, ich würde sagen, im Bereich Bildung ist sehr viel erreicht worden, denn im Jahre 1900 haben sich die Universitäten für Frauen geöffnet. Also der Kampf um das Frauenstudium durch die Frauenbewegung war siegreich. Die Universitäten haben sich geöffnet, Frauen konnten nun akademische Abschlüsse machen und damit in akademische Berufe überhaupt hineingelangen, was bis dahin ja überhaupt nicht möglich war. Und damit sind wir schon beim zweiten, der Bereich der Erwerbsarbeit hat sich stark geöffnet. Also viele Berufe haben sich Frauen geöffnet, die ihnen jahrhundertelang verschlossen waren, schon alleine dadurch, dass die Frauenbewegung für sie Ausbildungsmöglichkeiten selbst organisiert hat, denn viele männliche Handwerker haben nach wie vor Frauen nicht ausgebildet. Als nächstes würde ich sagen, der Bereich der politischen Gleichberechtigung, der Frau den Bebel nennt, der war noch nicht umgesetzt, denn die politische Gleichberechtigung, nämlich das Wahlrecht für Frauen, hat erst die November-Revolution gebracht, die sozialdemokratische Revolutionsregierung hat im November 1918 das Frauenwahlrecht eingeführt, sodass Frauen zum ersten Mal 1919 in Deutschland wählen konnten. Da war Bebel ein bisschen in dem Zitat der Zeit voraus, er hat vielleicht darauf abgehoben, dass Frauen ab 1908 Mitglied in politischen Vereinen werden durften und damit auch Mitglied in Parteien werden durften und das war ihnen bis dahin verboten, seit 1850. Also das hatte sich geöffnet, aber wirkliche politische Gleichberechtigung war damit noch nicht erreicht. Und dann spricht er von der bürgerlichen Gleichberechtigung der Frau, wenn ich da an den großen Bereich gleicher Rechte in Ehe und Familie denke, auch das war noch lange nicht erreicht. Das war weder in der Weimarer Republik erreicht, im NS schon gar nicht, da war die Niederlage Deutschlands im Zweiten Weltkrieg nötig, damit sich allmählich auch dann in beiden deutschen Staaten das Ehe- und Familienrecht änderte und endlich die Oberhauptrolle des Mannes abgeschafft wurde und Männer und Frauen eben Gleichberechtigte oder gleichberechtigt  waren in Ehe und Familie, gleiche Rechte an den Kindern hatten, an der Erziehung der Kinder beispielsweise und so weiter und so weiter und eben nicht das Letztentscheidungsrecht des Mannes das gültige Wort war.

Susanne Salzmann:
Ja, wir sind ja jetzt hier in einer Podcast-Folge zum Thema Frauengeschichte und ich habe jetzt so ein bisschen das Gefühl, dass wir eigentlich August Bebel ein Denkmal bauen oder ein größeres Denkmal bauen. Was sagst du Susanne, ist August Bebel die bekanntere Figur der Geschichte und warum?

Prof. Susanne Schötz:
Also ich denke, dass es noch heute so ist, dass August Bebel die bekanntere Persönlichkeit der deutschen Geschichte des 19. Jahrhunderts ist und ich glaube auch, dass in der zeitgenössischen Wahrnehmung im Kaiserreich August Bebel eindeutig der Populärere war. Ja, womit hing das zusammen? Das hing vor allen Dingen damit zusammen, dass Bebel sozialdemokratischer Reichstagsabgeordneter war, viele berühmte Reichstagsreden gehalten hat und seine Reden natürlich beständig in der Presse abgedruckt wurden und die Massenpresse, die Druckpresse, das war damals das, was heute vielleicht das Internet ist, also es war damals das Medium der Kommunikation und da kam Bebel eben beständig als Reichstagsabgeordneter mit seinen Auffassungen vor und Louise Otto, die als Frau kein Wahlrecht hatte, die konnte natürlich in keinem Landtag, in keinem Reichstag mitarbeiten und folglich ist das, was sie gesagt hat oder das, was sie geschrieben hat natürlich viel schwieriger oder viel schwerer in die öffentliche Kommunikation gekommen. Da sehe ich einen deutlichen Unterschied.

Susanne Salzmann:
Und wer hat sich für das Gedenken an Louise Otto-Peters eingesetzt?

Prof. Susanne Schötz:
Die deutschen Frauen haben ihr ein Denkmal errichtet in Leipzig im Jahr 1900, fünf Jahre nach ihrem Tod; und das ist schon was sehr Einmaliges, also: Wann wurden schon einmal Denkmäler für Frauen im öffentlichen Raum errichtet, die für ihr Lebenswerk geehrt wurden? Das ist ja bis heute was Seltenes, im Jahr 1900 ist es wie gesagt geschehen, da würde ich sagen, das war schon ein deutliches Zeichen der Anerkennung, aber die Historikerin Angelika Schaser und auch Kerstin Wolf haben trotzdem in verschiedenen Texten betont, dass die Erinnerung an Louise Otto-Peters in der Frauenbewegung bald verblasste. Und das hängt vor allen Dingen mit den vielen unterschiedlichen Strömungen in der Frauenbewegung zusammen, die sich seit 1890 herausbildeten. Und um noch mal auf Bebel und die Arbeiterbewegung zu kommen, die Sozialdemokratie war eindeutig der stärkste Zweig in der Arbeiterbewegung, es gab auch eine christliche Arbeiterbewegung, eine gewerkschaftliche Arbeiterbewegung und so weiter, aber die sozialdemokratische, das war eindeutig der stärkste Zweig und schon deswegen wurde natürlich über den Parteiführer August Bebel auch oft berichtet und seine Reden wurden gedruckt, sie wurden kommentiert, sie wurden diskutiert, sie waren allgemein sehr verbreitet, wie eben auch sein Buch Die Frau und der Sozialismus, das allein bis zu seinem Tod 53 Auflagen erlebt hat. Wahnsinn! Und das in 20 Sprachen Jahr übersetzt wurde, also er war auch ein international bekannter deutscher Sozialist.

Susanne Salzmann:
Ja; ich will sein Werk nicht schmälern und auch nicht die Rezeption, ich finde das trotzdem spannend, dass ich heute Feministinnen höre, die in den Medien sind die jetzt vielleicht 70, 80 sind und die sagen, ich bin damals in ein feministisches Archiv gegangen und dann habe ich festgestellt in den 70er Jahren, ach, die Frauenbewegung, die gab es ja schon vor mir, ist ja ganz verrückt und die dann die Begründerin der deutschen Frauenbewegung, nämlich Louise Otto-Peters entdeckt haben.

Prof. Schötz: 
Ja, so war es, kann ich nur sagen, sie wurde wiederentdeckt, dann von der neuen Frauenbewegung wurde die alte Frauenbewegung und die großen Initiatoren der alten Frauenbewegung, Louise Otto-Peters wiederentdeckt. Und zur stärkeren Würdigung von Louise Otto-Peters und vielleicht auch zu einem stärkeren Bekanntmachen heute, zumindest hier in Sachsen, hat vor allen Dingen die Louise Otto-Peters Gesellschaft in Leipzig natürlich sehr beigetragen, deren Ziel es einfach war, das Leben und Werk von Louise Otto-Peters zu popularisieren, also damit bekannt zu machen und vor allen Dingen auch alle Schriften von und über sie zu sammeln und in ihrem Archiv eben der Forschung zur Verfügung zu stellen oder auch zu Bildungszwecken für Schülerinnen und Schüler zur Verfügung zu stellen.

Susanne Salzmann:
Ja Susanne, ich nehme mit aus diesem Podcast, dass wir doch das ein oder andere aus den Schriften von August Bebel oder Louise Otto-Peters lernen können. Vielen Dank dafür, dass du uns neugierig gemacht hast, vielen Dank für die vielen Einordnungen, Informationen, die du uns mitgebracht hast und für dieses schöne Gespräch.

Prof. Susanne Schötz:
Danke für das Gespräch.

Abspann: Das war Folge 6 von FRAUEN MACHT GESCHICHTE: ein Podcast der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und der Technischen Universität Dresden. Autorin: Edith Schriefl; Sprecherin: Kirsten Schuhmann; Sprecher: Robby Langer; Redaktion: Silke Nora Kehl; Produktion: Bony Stoev; Idee und Konzept: Susanne Salzmann und Silke Nora Kehl.