Selten gab es bei der Wahl zum „Unwort des Jahres“ durch die Gesellschaft für deutsche Sprache einen so unangefochtenen Sieger wie im Jahr 2010. Der Begriff „alternativlos“ wurde seit 2009 von unterschiedlichen deutschen Politikern und Journalisten verwendet und durch die Jury ausgewählt, da er den Eindruck erwecke, dass es „bei einem Entscheidungsprozess von vornherein keine Alternativen und damit auch keine Notwendigkeit der Diskussion und Argumentation gebe.“ Doch während es sich nach Ansicht vieler Kritiker um einen rein sprachlichen Fehlgriff handelte, so gab der Begriff Alternativlosigkeit dem Unmut vieler Menschen ein Gesicht. „Wenn es keine Alternativen gibt“, so die Logik, „dann brauche ich mich an Politik auch nicht mehr zu beteiligen.“
TINA heißt das Prinzip im englischsprachigen Raum – there is no alternative. Berühmt wurde es durch Margaret Thatcher, welche ihre Politik damit so oft begründete, dass auch die eiserne Lady selbst irgendwann in der Öffentlichkeit den Namen Tina trug. Nun ist es wenig überraschend, dass Politiker und Parteien überzeugt davon sind, die beste Alternative anzubieten – ohne diese Überzeugung würde sich der politische Kampf, der oft entbehrungsreicher ist, als er am Stammtisch gern dargestellt wird, überhaupt nicht lohnen. Die Neuheit an der Alternativlosigkeit des Jahres 2009 bestand vor allem darin, dass viele Krisenthemen im Parlament einen breiten Konsens über die Parteigrenzen hinweg erzeugten und dass ergriffene Maßnahmen als einzige Alternative dargestellt wurden. Weil aber ein wahrnehmbarer Teil der Bevölkerung in Fragen der Finanzkrise andere Maßnahmen wünschte, ohne dass sich diese Stimmung in den Parlamenten wiederspiegelte, geriet das repräsentative System unter Rechtfertigungsdruck.
Uneinigkeit ist die Grundlage der Politik
Hierbei zeigt sich eine Spannung, die in einer repräsentativen Demokratie gerade in Krisenzeiten öfter zu beobachten ist: Einerseits ist die Grundlage aller politischen Entscheidung der Willen eines jeden einzelnen Bürgers und einer jeden einzelnen Bürgerin. Andererseits kann nicht jede Position berücksichtigt werden, da politische Entscheidungsträger andernfalls gelähmt würden und auf Dauer gar keine Entscheidung treffen dürften. Diesen Spagat soll das Prinzip der Repräsentation lösen: Gewählte Abgeordnete tragen unterschiedliche Blickwinkel auf die Welt in die Parlamente, sind dafür aber auch befugt, Entscheidungen zu treffen. Natürlich wird auf diese Weise mit jedem Beschluss der Wunsch mancher Bürgerinnen und Bürger ignoriert, denn dieses Modell der Demokratie geht davon aus, dass es die vernünftige Lösung oder den Volkswillen als eindeutig auf der Hand liegende Tatsache überhaupt nicht gibt. In dieser Vorstellung von Demokratie gibt es nur verschiedene Weltanschauungen und verschiedene Interessen, die miteinander konkurrieren, verhandelt und vermischt werden, bis ein Kompromiss ausgehandelt ist.
Aber gerade weil Uneinigkeit die Grundlage für das politische System bildet, so braucht es einen gemeinsamen Boden, der nicht angetastet werden darf, gemeinsame Werte, auf die man sich einigt, also eine Verfassung. Andernfalls wäre ein demokratisches Miteinander nicht denkbar, da jeder Machtwechsel wiederum sämtliche Spielregeln des friedlichen Streits in Frage stellen könnte. Das Problem der Alternativlosigkeit aus dem Jahr 2009 besteht darin, der Uneinigkeit als Grundannahme für eine Demokratie nicht mehr länger Rechnung getragen zu haben, obwohl sich der Protest gegen die vorherrschende Strategie zur Lösung der Finanzkrise auf dem Boden des Grundgesetzes bewegt hat. Weil sich diese Lücke in der Meinungsvielfalt mit der Idee der repräsentativen Demokratie eigentlich nicht verträgt, wurden Menschen, die eine alternative Vorstellung der Lösung der Eurokrise politisch repräsentiert sehen wollten, kurzerhand als Populisten etikettiert. Die Diskussion verengte sich auf zwei Extreme: Zustimmung zur Europolitik oder Populismus. Dafür oder dagegen.
Der Begriff Populismus wird überstrapaziert
Mit Populismus ist meistens ein Politikstil gemeint, welcher Probleme vereinfacht oder Traumgebilde als Lösungen verkauft. Doch wer bestimmt innerhalb der Diskussion, welche Lösungen Traumgebilde sind und wie komplex ein Problem ist? Allein das Gefühl, dass ein Problem oder eine mögliche Lösung besteht, sollte in einem demokratischen System, bei entsprechender Verbreitung innerhalb der Bevölkerung, repräsentiert werden. Das Streiten darüber, was überhaupt als Problem aufgefasst werden soll, ist gemäß der Grundannahme verschiedener Weltanschauungen der Kern eines demokratischen Systems. Der Gegenpol zum Populismus wäre in dieser Betrachtung die Technokratie, ein System, in dem nur Experten mitbestimmen dürfen, da die Probleme zu kompliziert sind, um sie als "normaler Bürger" zu verstehen. Irgendwo zwischen den beiden Extremen des Populismus und der Technokratie muss sich eine Demokratie also bewegen, damit Entscheidungen mit Fachwissen und Expertise unterfüttert sind, aber gleichzeitig auf dem Willen aller Bürgerinnen und Bürger fußen.
In einer Demokratie kann und muss also immer nur die Verfassung des Staates als alternativlos bezeichnet werden. Das bedeutet gleichzeitig, dass nichts außer dem Grundgesetz für alternativlos erklärt werden sollte. Wenn dies aber geschieht und darüber hinaus Kritik an dieser Form der Alternativlosigkeit als Populismus gebrandmarkt wird, entwickelt sich das politische System in Richtung dessen, was die belgische Politikwissenschaftlerin Chantal Mouffe als post-politisches System (post: „nach, hinter“) bezeichnet: Eine „Demokratie light“, in der zwar viele, wenn nicht gar ein Großteil der Verfahren und Gesetze demokratisch beschlossen, aber einige tiefergehende Fragen nicht mehr diskutiert werden können. In der es Institutionen zur Beteiligung der Bürger gibt, man aber diese nicht nutzen kann, da man als Populist keine Chance auf politische Repräsentation hat. Wird die Atmosphäre der (un-)politischen Engführung von Themen und Möglichkeiten zu dicht und hält sie zu lang an, dann bildet sich Widerstand gegen diese (als nicht funktionierend wahrgenommene) Form der Demokratie. Dabei ist es nicht die Demokratie als Prinzip, sondern – ganz im Gegenteil – eine lückenhafte Repräsentation, welche diesen Widerstand hervorruft.
Auf diese Weise entstanden im Verlauf der Finanzkrise in ganz Europa neue Parteien, welche als populistisch bezeichnet werden. Es war kein Zufall, dass diese Bewegungen die Forderungen nach alternativen Lösungsansätzen der Finanzkrise mit dem Ruf nach „echter“ Demokratie verbanden. Doch was ist eine echte Demokratie? Kann es ein politisches System geben, in dem Politiker auf ideologische Diskussionen und Mehrheitsfindung verzichten und „einfach das machen, was das Volk will“? Diesen Anspruch haben viele sogenannte rechtspopulistische Bewegungen und Parteien an die Demokratie formuliert. Doch ein solches völkisches Demokratieverständnis begeht letztlich genau dieselben Fehler wie eine alternativlose Technokratie.
Auf gewisse Weise schlägt hier das Pendel zurück: Während Alternativlosigkeit das Prinzip von Repräsentation aushöhlt, erweist jeder, der mit Begriffen wie „Lügenpresse“ und „Parteienkartell“ dagegen vorgehen will, der Demokratie einen Bärendienst. Es ist zwar richtig, die Vertretung der eigenen Interessen einzufordern, allerdings geht man zu weit, wenn das auf der Basis geschieht, die Vertretung anderer Interessen als von vornherein falsch und gegen das Volk gerichtet darzustellen. Denn wer die Medienlandschaft insgesamt als „Lügenpresse“ abtut, der will nicht nur seinen berechtigten Platz innerhalb dieser Landschaft, sondern er erkennt keine andere Meinung neben der eigenen mehr an. Die Behauptung „Wir sind das Volk!“ ist genauso kurz gegriffen und falsch wie das entgegengestellte „Ihr gehört nicht zum Volk, sondern seid nur Populisten“.
Die Sehnsucht nach Einheit
Ironischerweise ist also ein völkisches Demokratieverständnis zwar eine Antwort auf die Alternativlosigkeit, gleichzeitig bringt sie jedoch selbst alternativlose Politik hervor: Die Politik des vermeintlichen gesunden Menschenverstandes, die auf der irrigen Vorstellung basiert, das Volk hätte ein einheitliches Interesse und einen einheitlichen Blick auf die Welt. Diese Vorstellung ist nicht nur deswegen irrig, weil sie Weltanschauungen von vornherein in richtig und falsch ordnet und daher die Uneinigkeit als Naturprinzip der Politik zu ignorieren versucht, sondern sie ist deswegen auch gefährlich. Wenn nämlich der Wille des Volkes ohnehin auf der Hand liegt, dann kann man sämtliche anderen Ansichten als unlogisch, irrational oder gar falsch ignorieren. Dann braucht es auch die Vorrichtungen nicht mehr, welche den Kampf unterschiedlicher Weltanschauungen garantieren, wie beispielsweise Parteien oder eine pluralistische Medienlandschaft – deren Einschränkung wir derzeit dementsprechend zum Beispiel in Polen beobachten können. Der Widerspruch der völkischen Demokratie liegt darin, von einer Volksherrschaft auszugehen, aber nicht gleichzeitig davon, dass das Volk nicht einheitlich existiert, sondern ein Sammelbecken verschiedenster Meinungen und Ansichten, verschiedenster Realitäten und Weltanschauungen ist.
Die Sehnsucht nach einem geeinten Volk, welches in Sachfragen gleicher Meinung ist und dieselbe Realität teilt, kann schließlich im schlimmsten Fall die Tore für Hass gegenüber Menschen öffnen. Hier erweist sich das Etikett des Populismus als selbsterfüllende Prophezeiung: Je länger einer ursprünglich legitimen Stimmungslage die Repräsentation verweigert wird, desto radikaler wird die Ablehnung gegenüber dem politischen System, bis schließlich die eigene Ohnmacht in Wut umschlägt und sich ein neues Ziel sucht. Dieses Ziel können dann genau die Menschen sein, welche in der neuen Vorstellung des Volkes keinen Platz mehr finden sollen. Wenn Menschen aufgrund ihrer Herkunft, ihrer geschlechtlichen Orientierung, ihrer Hautfarbe oder ihrer Religion abgelehnt, verächtlich gemacht oder offen angegriffen werden, wenn Rassismus und krude Vorurteile in einem menschenverachtenden Gemisch angerührt werden, dann zeigt die Idee des einigen Volkes ihre menschenverachtende Seite. Dann ist es die Pflicht eines demokratischen Systems, dieses Gemisch entschieden und eindeutig abzulehnen. Allerdings fällt es dann eben auch allzu leicht, zu vergessen, das irgendwo in diesem Gemisch eine hausgemachte Zutat schon längst verkocht ist: Die Verweigerung gegenüber dem Wunsch nach Repräsentation in einem demokratischen System. Wer repräsentiert werden will, der muss allerdings auch in der Lage sein, seine Wünsche und Forderungen zu formulieren. Ohne den Willen zur Beteiligung an demokratischen Prozessen kann der Wille des Volkes nicht umgesetzt werden.
Alternativlos ist nur das Grundgesetz
Auf der anderen Seite kann der Wunsch danach, ernstgenommen zu werden, nicht einfach mit Hinweis darauf abgewiegelt werden, dass jeder die formale Möglichkeit habe, zur Wahl zu gehen oder eine eigene Partei zu gründen. Wer in der öffentlichen Diskussion von vornherein mit seinen Positionen im Abseits steht, obwohl sich diese auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen, dem nützen auch institutionelle Vorrichtungen nichts. Derzeit wird in Deutschland viel darüber diskutiert, was Teil dieses politischen Diskurses sein soll und was nicht. Dabei steht diese Grenze längst fest: Sie ist im Grundgesetz ausbuchstabiert. Die Menschenwürde ist genauso unantastbar wie beispielsweise die Religionsfreiheit, darüber braucht nicht diskutiert zu werden, weil gegen diese Prinzipien aus gutem Grund keine Gesetze verabschiedet werden dürfen. Die Mitgliedschaft Deutschlands in der Euro-Währungsgruppe muss jedoch zum Beispiel genauso offengestellt sein wie die Frage nach der Ausgestaltung unseres Wirtschaftssystems. Oder der Rundfunkgebühr. Oder der Hundesteuer. Die Liste von Themen, bei deren Nennung allein man Gefahr läuft, Populist zu sein, ohne die eigene Position auf dem Rücken anderer Menschen zu formulieren, ist lang. Aber als Populist sollte nicht jemand gelten, der den gesellschaftlichen Konsens nicht teilt. Mit Populismus sollte das bewusste Vereinfachen von komplexen Problemen auf dem Rücken von vermeintlich Schuldigen benannt werden. Deswegen folgender Vorschlag:
Lassen Sie uns die Strategie der Alternativlosigkeit beenden. Lassen sie uns den Begriff des Populismus dann anwenden, wenn Menschen herabgewürdigt werden, sei es aufgrund Ihrer Herkunft, ihrer Religion, ihrer Hautfarbe, ihrer Sexualität oder ihrer sozialen Position. Lassen sie uns diesen Begriff dafür konsequent anwenden, egal welche Stellung oder Parteizugehörigkeit die Person hat, welche den Schuldigen ausruft. Die Grenze dafür, was in einer Demokratie diskutiert werden muss, steht längst fest, sie ist im Grundgesetz verankert, der Kampf gegen Rassismus und Menschenverachtung leitet sich daraus ab. Sobald wir in der öffentlichen Diskussion wieder trennen zwischen politischen Randpositionen und Menschenverachtung, zwischen EU-Kritik und Rassismus, zwischen unangenehmen und unangemessenen Positionen, sobald wir allen, die sich auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen, eine politische Repräsentation anbieten und sie in die Diskussion einladen, wird sich auch das Gemisch aus dem Wunsch nach Mitbestimmuing und dumpfer Menschenverachtung wieder langsam trennen, sodass man die einen klar einladen und die anderen klar ausweisen kann.
Demokratie – was bedeutet das eigentlich? Diese Frage lässt sich vermutlich nie theoretisch, sondern immer nur aus Erfahrung heraus beantworten. Eine post-politische Technokratie verträgt sich jedenfalls genauso wenig mit einer Vielfalt der Weltanschauungen wie eine völkische Demokratie. Wir brauchen den Mut, alternativlose Sachzwänge in Frage zu stellen genauso wie den Mut, menschverachtende Äußerungen ohne Umschweife zu verurteilen und darüber hinaus die Wetsicht, uns nicht von der Idee eines geeinten Volkes verführen zu lassen.
Vor allem brauchen wir allerdings eine Sirene im Kopf: Wenn bei der nächsten Diskussion jemand das Wort Demokratie in den Raum wirft, dann sollte er sich darauf gefasst machen, zu erklären, was er damit meint.