In seinem knapp dreistündigen, puzzlehaft zusammengesetzten Dokumentarfilm umkreist Lutz Dammbeck im Wesentlichen drei Themen und verbindet sie miteinander: die Rolle von Spielen zur Behandlung paranoider Patienten in der Psychiatrie, die Vorstellungen der USA für die kollektive Umerziehung der Westdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Entwicklung der Idee einer permanenten Revolution und der Rolle des Marktes.
Deutschen fehlt „innere Demokratie“
Die Podiumsgäste, die MDR-Moderator Tim Deisinger nach der Filmvorführung vorstellte, hatten ihren je eigenen Blick auf den Film: der Filmemacher selbst, Lutz Dammbeck, der Philosoph, Übersetzer und Universitätsdozent Helmut Kohlenberger, der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz und der Gastgeber des Abends, der Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung Frank Richter. Eine Beschränkung auf eine Betrachtung der Nachkriegsjahre gab es mitnichten, die gegenwärtige Situation blieb ständig im Fokus.
Tim Deisinger stieg ein mit der Frage, was genau Dammbeck nach einer Talkrunde mit Joachim Fuchsberger bei Anne Will zu seinem Filmprojekt inspiriert habe und führte damit direkt zu einem der Kernpunkte: Es sei das Interesse an den Identitätsproblemen der Deutschen – zunächst nach Ende des Krieges und des Hitlerregimes - gewesen, nicht zuletzt zu beobachten an der Person Joachim Fuchsberger selbst, erklärte Autor und Regisseur. Ein Thema, mit dem sich auch der Psychoanalytiker Hans-Joachim Maaz seit seinen Jugendtagen beschäftigt. Maaz, Autor u.a. des Buchs „Die narzisstische Gesellschaft“, führt diese Identitätsschwierigkeiten zurück auf Verletzungen, die in der Kindheit erlitten aber nicht ausgelebt wurden, kombiniert mit einer repressiven Erziehung. Dies führe dazu, dass „wir auf unseren Aggressionen sitzen bleiben.“ Wer nicht krank werden wolle, der gehe auf die Straße. Mehr noch: „Am Ende zieht man in den Krieg.“ Maaz formulierte eine These, die in der halb-nächtlichen Diskussion wiederholt aufgegriffen wurde: Was den Deutschen fehle, sei die „innere Demokratie“.
Für Helmut Kohlenberger waren die Gründe für die Identitätsproblematik „ganz klar“: „Die Deutschen haben eigentlich nie eine Revolution gemacht“, sie hätten noch nie eine eigene nationale Identität gehabt. Kohlenberger: „Es gibt keine deutsche Nation“, es gebe lediglich das Imitat anderer Nationen, insbesondere Frankreichs. Wiederholt kam Kohlenberger darauf zurück. Die „Nichtidentität“ der Deutschen sei Programm gewesen. Sie sei in Selbstleugnung begründet, seit Luther gebe es keine realistische Politik mehr, was auch bei Frau Merkel sichtbar werde. Das ein „Gewissen-haben-wollen“ sei der Grund für die Erfolglosigkeit.
„Droge für Westdeutsche war Geld“
Was, fragte Moderator Deisinger weiter, qualifizierte die Amerikaner zu „Therapeuten“ einer von Wissenschaftlern als paranoide Nation eingestuften Westdeutschen nach dem Zweiten Weltkrieg, wie es der Film nahelegt. Neue Disziplinen wie die Psychoanalyse hätten nach Anwendungen gesucht, erklärte Dammbeck (der später allerdings angab, dass die Literaturlage zur Re-Education recht dünn sei). Und ein Therapiebedürfnis habe es gegeben, begründet mit „Moderne-Schäden“. Die Wissenschaft habe sich mit ihren Werkzeugen angeboten. Es sei den Amerikanern dabei um sich selbst gegangen, darum, das eigene System zu exportieren. Dammbeck: „Vom Ende her hat alles funktioniert.“ Um 1960 herum sei man in eine neue Phase getreten, aus seiner Sicht waren die 68er „amerikanisiert“.
Maaz warf ein, es sei den USA nicht um die psychischen Probleme der Deutschen gegangen, sondern um eine Umerziehung im ökonomischen Sinne. Geld sei die Droge gewesen. Es sei nicht verstanden worden, was innerseelisch passiert war. In den 1960er Jahren habe sich die Psychoanalyse politisch verstanden, heute dagegen sei sie völlig apolitisch. Die 68er seien entstanden aus dem Druck gegen elterliche Strukturen und gegen die Erkenntnis, dass Amerika diese Rolle übernommen habe. Und Maaz brachte einen neuen Aspekt ein: Die Re-education, später „Re-Orientation“ die Umerziehung nach dem Krieg, sei im Osten viel drastischer gewesen als im Westen. Man sei in die Tradition der „Guten“, der Antifaschisten, gestellt worden. Maaz: „Die Russen waren entschiedener, sich durchzusetzen.“
Umerziehung der Russen nur äußerlich stark
Jetzt meldete sich Frank Richter zu Wort, der aus seiner Begeisterung für Lutz Dammbecks Film keinen Hehl machte. Der Film irritiere, und dies sei gut, weil es Diskussionen anfache. Außerdem habe er eine „heimliche Schadenfreude“ dabei empfunden zu sehen, wie es den Westdeutschen nach dem Krieg ergangen sei. Aus Richters Sicht war das Umerziehungsprogramm der Russen äußerlich stark, innerlich gesehen „war es vielleicht weniger wirksam“. Und „merkwürdig“, 1989 seien die Ostdeutschen vom Westen dafür „gelobt“ worden, dass sie die bundesdeutschen Fahnen schwenkten, heute, sei das „schlecht“ - und die Kritik komme aus dem Westen.
Tim Deisinger nahm das Ost-West-Thema auf: Wer ist nun besser? Heute seien die Ostdeutschen besser in der Lage, sich kritisch demgegenüber zu äußern, was als Demokratie vorgestellt werde, weil sie nicht in dem Maße ökonomisiert seien wie der Westen, befand Maaz. Heute komme vom Osten mehr Selbstkritik als vom Westen.
Hier hakte Kohlenberger wieder ein, der mit drastischen Begriffen seine Sorgen zum Ausdruck brachte: Die Finanzmärkte kontrollierten die Demokratie und: „Demokratie hat keinen Anspruch auf Moral. Wir befinden uns in einem Freiluftgefängnis.“ Separiertheit von der Familie ist für Kohlenberger das größte Dilemma. Ohne Familie sei keine Heilung möglich. „Die Familie ist krank, unser System an sich ist krank.“ Sein Apell: „Wir müssen Zeit gewinnen, damit der Zusammenbruch nicht so schnell kommt“.
Demokratie ohne Demokraten?
Frank Richter hielt dagegen. Er betrachte die Demokratie als die beste Ordnung, die Deutschland je hatte (Applaus), trotz ihrer Defizite. Ihre Ordnung halte er für stark genug.
Zu kurz kam zu fortgeschrittener Stunde die Gelegenheit für das Publikum im Kinosaal, sich an der Diskussion zu beteiligen. Von den Podiumsteilnehmern noch aufgegriffen wurden zwei Beiträge: „Wie macht man Demokratie ohne Demokraten?“, eine Frage, die die Einschätzung von Hans-Joachim Maaz aufgriff, und auch eine Unmutsäußerung darüber, dass man sich ständig in eine Opferrolle begebe.
Die Schlussrunde des Podiums skizziert: Lutz Dammbeck fand, „die Deutschen haben einen Knacks“, Helmut Kohlenberger beklagte die Dominanz von „Gier und Neid“, Frank Richter äußerte seine Sorgen und Hans-Joachim Maaz fasste zusammen: „Es gibt viel zu tun.“