Kriegs-Erklärungen der Putin-Versteher
Die nächste Front spaltet Deutschland, vor allem den Osten. Als wären wir nicht schon zerrissen genug von Apokalyptikern, Umvolkungsverängstigten, Kurz- und Querdenkern, Motzern und Ninglern, Totalverweigerern oder Impfkriegern! Nun hat der russische Überfall auf die Ukraine eine weitere Heimatfront bei uns eröffnet.
Wieder zieht sie sich durch Mailverteiler, WhatsApp-Gruppen, Familienfeiern, Skatrunden oder Kollegengespräche. Eine erschreckend hohe Zahl auch an Akademikern klatscht nun zwar nicht den russischen Kriegsgräueln offen Beifall. Aber ihre Kriegs-Erklärungen sind oft nur einen Gedankenschritt von einer Rechtfertigung entfernt. Denn die Schuld trägt wie in alten Zeiten und wie immer der US-Imperialismus. Demgegenüber wächst von der anderen Seite ein bedenklicher Russenhass, der sich in einer kollektiven Verachtung, gar Bestrafung aller russischstämmigen Mitbürger äußert.
Paradoxe Despotenliebe
„Ich liebe ihn heute noch!“ gesteht meine Friseurin nach zwei Wochen Krieg, als das Gespräch auf Wladimir Putin kommt. Sie stammt noch aus dem Laden, der früher mal in der SED-Bezirksleitung, später Sächsischer Landtag, die Bonzen beschnitt. Ich kann sie für ein solches Bekenntnis nicht einmal nach dem vertrauten Gebot christlicher Feindesliebe lieben. Noch weniger für die Ansage, dass sie den Medien ohnehin nie traue und jetzt erst recht nicht. Normalerweise können wir entspannt über meinen Beruf typische Friseurgespräche führen.
Weniger überrascht mich, dass ich mit meinem nach der Wende wiedergefundenen alten Schulbanknachbarn aus der POS in den gleichen Konflikt gerate. Er war, wie sich erst dann herausstellte, Mitarbeiter von Markus Wolf in der Hauptverwaltung Aufklärung, der DDR-Auslandsspionage. Harmloser bei der „Aktuellen Kamera“ des DDR-Fernsehens beschäftigt war ein über ein Theaterprojekt neugewonnener Freund, der ebenfalls den Westen als Hauptverantwortlichen für die Zuspitzung des Ukraine-Konflikts ansieht.
Erstaunen löst dann aber doch aus, dass bekannte oder befreundete „ganz normale“ Mitläufer aus DDR-Zeiten sich als Putin-Versteher erweisen. Nicht nur Leserbriefschreiber, auch Künstlerinnen und Künstler schicken plötzlich zur Bekräftigung alter Sowjet-Sympathien Artikel aus der „Jungen Welt“ oder dem „Gegenstandpunkt“, dem Zentralorgan der Marxistischen Gruppe. Sie sollen beweisen, dass die Maidan-Revolution 2013 von faschistischen Nationalisten angeführt und mit fünf Milliarden Dollar von den USA gekauft wurde. Der Tenor der Russlandversteher lässt sich durchweg auf die Formel bringen: Ist ja schlimm, was der unberechenbare Putin da macht. Aber hat nicht der Westen, voran die US-Amerikaner, das arme, kuschelbedürftige und gen Europa lächelnde Russland seit 30 Jahren so in die Enge getrieben, dass sein Zar jetzt gar nicht anders konnte?
Die Notwehr-These der früheren Moskau-Korrespondentin Gabriele Krone-Schmalz nach der Krim-Annexion 2014 steht Pate. Einen Tag nach dem Beginn der russischen Invasion sahen beim Meinungsbarometer „MDR fragt“ immer noch 34 Prozent der über 30 000 Befragten die Verantwortung für die Eskalation bei den USA, bei Europa oder der Ukraine. Allerdings stieg die Angst vor einer russischen Bedrohung sprunghaft an. Die Umfrage lässt sich mit Beispielen illustrieren: Die Sorbenvertretung Serbski Sejm kann eine Ukraine-Resolution nicht verabschieden, weil zwei der 23 Mitglieder dagegen stimmen. Eine internationale Friedenslesung im Dresdner Literaturhaus Kästnermuseum wird von einigen Autoren als „einseitig“ boykottiert.
Auch intelligente Freunde hindert latenter Antiamerikanismus und latente Sowjetsympathie am Begreifen, dass die Putin-Clique Thesen vermeintlicher militärischer Bedrohung durch den Westen selbst den Boden entzogen hat. Nicht erst durch den akuten Angriffskrieg, schon seit 22 Jahren durch die vielen kleineren Landnahmen und Siege am Rande des Großreiches. Viel größeren Respekt entwickele ich vor jenen, deren Herz ehrlich für Russland schlug und die jetzt mit ihren Irrtümern ebenso ehrlich kämpfen, mit der schmerzhaften Erkenntnis, dass der Putin-Clan ihnen in den Rücken gefallen ist.
Fortwirkende Prägungen
Woher rührt ausgerechnet in der ehemaligen sowjetischen Besatzungszone die hartnäckige Parteinahme für die Erben der Sowjetunion, eine latente Sympathie, die sich auch durch die Gräuel eines immer totaler werdenden Krieges nicht beirren lässt? Erschreckend viele hinterfragen ihre Befangenheit nicht einmal jetzt. Wir müssten die Sowjets doch am besten kennen!
Bei Erklärungsversuchen fühle ich mich von Empirie, Sozial- oder Politikwissenschaften weitgehend allein gelassen und auf eigene Erfahrungen und Beobachtungen verwiesen. Zuerst kommt mir eine Variante des Stockholm-Syndroms in den Sinn. Also paradoxe Sympathie gegenüber denen, die einem Gewalt antun. Aber dieser Ansatz funktioniert schon für meine Generation nur noch bedingt, die der Schulkinder der 1960-er und 70-er Jahre in der DDR. Wir haben nur Ausläufer des harten Stalinismus und der Niederschlagung des Aufstandes am 17. Juni 1953 erfahren. Mit dem Atavismus der blutigen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 freilich.
Aber sonst spürten wir eher die Knute der einheimischen Kreml-Statthalter, weniger die der dahinterstehenden Führer des Sowjetreiches. Relativierend schwang dabei im Hinterkopf immer die historische Schuld des deutschen Überfalls 1941 mit. Unbeirrt von der Niederschlagung von Aufständen im Ostblock oder vom Afghanistan-Krieg mag sich deshalb bis heute das Bild eines Friedensgaranten Sowjetunion halten. Das erste Wort im Russischunterricht lautete „Mir“, eher in seiner Bedeutung „Frieden“ als „Welt“. Mit sowjetischen Schülern pflegte man in diesem Geist Brieffreundschaften. Die Kollision mit der überall prangenden martialischen Losung „Von der Sowjetunion lernen heißt siegen lernen“ schien niemandem aufzufallen.
Man war Mitglied in der „Deutsch-Sowjetischen Freundschaft“, aber wer kannte schon einen Russen persönlich? Die übel behandelten Soldaten sah man bestenfalls von fern beim Frühsport mit freiem Oberkörper, oder man hörte im Wald die Schüsse krachen, wenn wieder einmal eine Postenkette nach einem verzweifelten Deserteur suchte. Selten gab es „Freundschaftstreffen“, Ausgewählte durften in der Sowjetunion studieren, man reiste beruflich, aber touristisch war nicht viel los.
Der koloniale Status wurde in der DDR mit distanzierender Ironie sublimiert. Sowjetische Freunde oder Brüder? Freunde nicht, denn die kann man sich aussuchen. Aus einem sowjetischen Arbeiterlied wurde „Machorka her“, Sostschenkos „Kuh im Propeller“ kannte die halbe DDR auswendig. Mit den „Anfragen an den Sender Jerewan“ entstand ein unerschöpfliches Witzformat.
In der Gorbatschow-Ära in der zweiten Hälfte der 1980-er avancierte die Besatzungsmacht sogar zum Hoffnungsträger. Die Zeitschrift „Sputnik“ als Digest der SU-Presse erschien plötzlich der SED gefährlich und wurde verboten. Und auch ich trug in den Oktobertagen 1989 auf der Straße eine Gorbi-Plakette. Dass er für das Trauma des Zerfalls des sowjetischen Imperiums stand, begriffen wir nicht gleich. Bis dann Putins „Make Russia great again“ die Restauration einleitete.
Osttrotz und unterentwickeltes Demokratieverständnis
Zweite, nicht wissenschaftlich belegbare Erklärung: Der Osttrotz ist im Spiel! Bei der jungen Nachwendegeneration trifft man nämlich keine Putinversteher mehr, nur noch Kriegsgegner. Naiv stolperten die Ossis in die Einheit, im Glauben an den schnellen Wohlstand und an eine individuell narzisstische, nicht verantwortlich empfundene Freiheit. Der musste enttäuscht werden. Reaktion gegenüber den Wessi-Okkupanten: Ätsch, dafür halten wir weiter zu den Russen! Bei den Sachsen, chronisch renitent gegen alles, was von anderen kommt, besonders ausgeprägt.
Das nüchterne Argument fortgesetzter Wirtschaftsbeziehungen zieht kaum und dürfte ebenfalls in der DDR-Vergangenheit wurzeln, als die UdSSR der dominierenden Handelspartner war. Laut IHK sank der Exportanteil Russlands nach den 2014 beginnenden Sanktionen in Sachsen von 4,2 auf jetzt nur noch 1,3 Prozent.
Maßgeblich erscheint mir vielmehr die massenhaft gestützte Beobachtung, dass die „Ossis“ 1989 zwar demonstrierten, aber von einer solidarisch-gemeinschaftsorientierten Demokratie nichts begriffen hatten. Bei den Rechten, die am lautesten nach Basisdemokratie schreien, wie auch bei einer erschreckend hohen Zahl ehemaliger DDR-Bürger ist die Sehnsucht nach autoritärer Führung, mithin nach Entlastung von der eigenen konstruktiven Mitverantwortung latent.
Bei Pegida und der AfD wurde Putin geradezu als Messias verklärt. Als MDR-Reporter hätte man sich dort mit einem Mikrofon von Russia Today tarnen müssen. In der Oberlausitz fordern jetzt Inschriften und Banderolen „Schluss mit der Hetze gegen Russland!“. Es ist dieselbe Region, in der die gegen alles irgendwie Staatliche demonstrierenden Gutbürger sonntags an der B96 schwarzweißrote Fahnen schwenken und die Sozialpolitik des Kaisers loben. Die daneben ebenfalls wehenden Lausitzfahnen tragen übrigens die Farben blau-gelb!
Im Kollektiv-Unterbewussten wirkt die autoritäre Prägung der DDR fort, bis hinein in zweifelsfrei demokratisch legitimierte Regierungskreise. Wie schwer tut man sich in Putins einstiger KGB-Wirkungsstätte Dresden, von der langjährigen Hofierung des Kapitalverbrechers Abschied zu nehmen!
Auch nach über 30 Jahren befindet sich Ostddeutschland noch in einem adoleszenten Stadium auf dem Weg zu demokratischer Emanzipation, die freilich auch im Westen keineswegs gefestigt erscheint. Angebliche „Beweise“ für eine amerikanische Steuerung des Maidan in der Ukraine beweisen nur, dass man den Hunderttausenden Demonstranten eigenen Willen und demokratisches Engagement gar nicht zutraut und selbst nur in Kategorien eines Spiels der Großkopferten denkt.
Nicht alle Russen wollen Krieg
Ebensowenig haben Schmierereien an Geschäften oder Verbalattacken gegen russische Mitbürger mit Demokratie zu tun. Wobei die meisten Bürger nicht unterscheiden können, ob sie gerade Russisch oder Ukrainisch hören. Aus den Jüdischen Gemeinden werden solche üblen Erfahrungen berichtet. Die sächsische Polizei konstatiert eine erhöhte Gefahr für offizielle russische und ukrainische Einrichtungen. Dankenswerterweise halten alle sächsischen Kultureinrichtungen an Verträgen mit russischen Künstlern fest. Auch die Landeshauptstadt Dresden kündigt nicht kopflos die Städtepartnerschaft mit St. Petersburg.
Halten wir es wie einst und lenken unsere Wut in Sarkasmus um. Frischen wir also statt zu attackieren unser Schulrussisch auf – und sei es, um die kommende Amtssprache schon mal zu üben. Und erinnern uns vielleicht an Jewgeni Jewtuschenkos Gedicht von 1961: „Meinst Du, die Russen wollen Krieg?“
Michael Bartsch ist Freier Journalist/Autor und lebt in Dresden. Er arbeitet u.a. für den MDR und die TAZ.