Die Plattform Telegram gibt es schon fast zehn Jahren, doch während der Corona-Pandemie hat sie in Deutschland einen regelrechten Boom erlebt. Telegram, ein digitales Tool, eignet sich hervorragend zur Kommunikation und Vernetzung. Das Angebot ist groß, man findet harmlose Dinge wie Briefmarkenbörsen und Bastelclubs. Aber auch immer mehr radikale Inhalte, Kanäle mit schnell wachsenden Abonnentenzahlen, auf denen Verschwörungsideologien, Hetze und Bedrohungen, sogar Mordaufrufe verbreitet werden. Journalisten deckten Ende 2021 auf, dass Impfgegner in einer Telegramgruppe darüber gesprochen hatten, den sächsischen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer zu ermorden.
Das war eine weitere Zäsur, seither wird immer drängender über die Gefahren von Telegram diskutiert – und über Möglichkeiten, den Dienst zu sanktionieren. Ob und wie das überhaupt funktionieren könnte, das war eines der Themen bei einer Online-Debatte der Sächsische Landeszentrale für politische Bildung. Am 27. Januar waren drei Expertinnen und Experten zum Austausch unter dem Motto: „Telegram regulieren? Diskussion zum angemessenen Umgang mit dem Messengerdienst“ eingeladen.
Darknet für die Hosentasche
„Mittlerweile hat sich Telegram zu einer Radikalisierungsmaschine entwickelt“, sagt Annette Rehfeld-Staudt, Referatsleiterin bei der Landeszentrale, die den Abend moderiert. Sie zitiert einen Bericht des Spiegels, in dem Telegram als „Darknet für die Hosentasche“ bezeichnet wird, und fasst aktuelle Positionen von Politikerinnen und Politikern zusammen: Einige halten die derzeitigen Regelungen für ausreichend, andere wollen Telegram aus App-Stores entfernen lassen, manche schlagen Netzsperren und Geoblocking vor. Das Publikum kann sich bei der Online-Debatte über einen Chat einbringen und Umfragen beantworten. Wie stehen die Zuschauerinnen und Zuschauer zu Telegram? 73 Prozent geben an, die App selbst zu nutzen. Soll Telegram reguliert werden? Auf diese Frage antworten 70 Prozent mit Ja.
Wie ist Telegram überhaupt entstanden? Das umreißt Josef Holnburger, Geschäftsführer von CeMAS, einem Think Tank, spezialisiert auf Expertise zu Verschwörungsideologien, Desinformation, Antisemitismus und Rechtsextremismus. Pawel Durow, geboren in Russland, Erfinder und CEO von Telegram, hat Erfahrung mit digitalen Netzwerken, in Russland hat er bereits das Netzwerk VK groß gemacht und dabei auch den Druck der russischen Regierung zu spüren bekommen. Aus diesen Erfahrungen heraus sei Telegram entstanden, sagt Holnburger. „Zum Gründungsmythos gehört es, nicht auf staatliche Anfragen zu reagieren.“ Durow habe seinen Dienst dem Zugriff von Behörden und Regierungen entziehen wollen, er sehe sich als „digitale Nomaden“.
Der Geschäftssitz von Telegram ist inzwischen in Dubai, doch wo genau die Server stehen, wo Ansprechpartner von Telegram zu finden sind, sei nahezu unbekannt. Das sei eine immense Schwierigkeit, man dürfe sich folglich nicht zu große Hoffnungen machen, wenn es um Forderungen nach Regulierungen geht, so Holnburger.
Nahezu unreguliert
In der Theorie wird Telegram häufig als Messenger dargestellt, doch in der Praxis verschwimmen die Grenzen, man könne durchaus von einem „Netzwerk“ sprechen, sagt der CeMAS-Experte. In der Verschwörungsszene gibt es Akteure, die Kanäle mit teils sechsstelliger Abonnentenzahl betreiben, in denen Inhalte geteilt werden, nicht selten auch die Kommentarfunktion freigeschaltet ist – alles nahezu unreguliert. Gewaltaufrufe und Verschwörungsinhalte findet man auf Telegram schnell, doch gelöscht wird fast nichts. Wenn überhaupt, dann nehme Telegram punktuell Löschungen vor, die willkürlich erscheinen, sagt Holnburger. Oft nur dann, wenn hoher Druck durch öffentliche Diskurse entstehe, Telegram das eigene Image in Gefahr sehe. Im Fall des Verschwörungsfanatikers Attila Hildmann wurden beispielsweise Kanäle eingeschränkt, doch noch immer ist er auf Telegram präsent.
Wenn es um Regulierungen geht, sind die Experten skeptisch. „Man muss zwischen privater Kommunikation und öffentlicher Kommunikation trennen“, sagt Joschka Selinger, Jurist und Verfahrenskoordinator in der Gesellschaft für Freiheitsrechte. Beides läuft über Telegram ab. Datenschutzrechte sowie das Telekommunikationsgeheimnis müssten beachten werden. „Man muss freien Diskurs gewährleisten“, sagt Selinger. Der jedoch bedroht sei, wenn Hass und Hetze verbreitet werden, was wiederum für Regulierungen sprechen würde. Es ist also ein schwieriger Abwägungsprozess. Der Jurist verweist auf bereits existente Regeln, etwa das in Deutschland geltende Netzwerkdurchsetzungsgesetz, doch der Weg nach Dubai sei nicht erfolgreich bisher. Aktuell ist ein neues Regelwerk der Europäischen Union für digitale Dienste in Arbeit. „Ich könnte mir vorstellen, dass das den Druck erhöht, als Aktion der EU“, sagt Selinger.
Zur Verfolgung von Straftaten hat das Bundeskriminalamt nun eine Task Force eingerichtet. Sie habe sich über diesen späten Schritt gewundert, sagt die Informatikerin Anna Biselli, die bei Netzpolitik.org arbeitet. „Eigentlich ist Telegram für Ermittlungsbehörden günstig, viele Kanäle sind öffentlich einsehbar, oft schreiben Menschen sogar mit eigenen Namen da rein. Das wurde lange vernachlässigt“, sagt sie. „Es wurde früh nach einer stärkeren Regulierung gerufen, ohne dass man die Möglichkeiten, die man schon hat, stärker nutzt.“ Es sei nicht einfach, das Geflecht der vielen Telegram-Kanäle zu überblicken, „herauszufinden, wo man hinschauen muss, ist ein Prozess, aber inzwischen müsste klar sein, wo was passiert“.
Mythos sicheres Telegram
Es gibt viele Fragen aus dem Zuschauer-Chat, zum Beispiel: Sind meine Daten bei Telegram sicher? Der Dienst greife „nicht riesig viel ab“, sagt Josef Holnburger, „aber es ist ein Mythos, dass Telegram besonders sicher ist.“ Ein anderer Zuschauer will wissen: Können User mit viel Reichweite, etwa der Verschwörungsideologe Oliver Janich, ihre Telegram-Kanäle monetarisieren? Das sei möglich, sagt Holnburger, etwa durch Abomodelle mit Paypal-Funktion oder Werbung für Merchandise, das gelinge aber nur wenigen Akteuren mit großer Reichweite.
Was ist von Methoden wie Geoblocking zu halten, von technischen Blockaden von Netzwerken, wie es zum Beispiel in Russland versucht wurde? Das sei eine „hilflose und krasse Maßnahme“, sagt Anna Biselli. „So etwas wird auch nicht vollständig funktionieren, es gibt Werkzeuge, um das zu umgehen.“ Außerdem gibt sie zu bedenken: Wenn Telegram verbannt wäre, wären immer noch die Menschen da, die dort Hass und Verschwörungsinhalte verbreiten.
Nicht Telegram ist das Problem, sondern der Hass
Die Plattform komplett verbieten? Davon hält keiner in dieser Runde etwas. Nach anderthalb Stunden Diskussion sind viele Problemdiagnosen angestellt. Und es wird deutlich: So einfach ist das mit Telegram nicht, ein schnelles Rezept zum Umgang mit den radikalen Auswüchsen des Dienstes haben auch die drei Experten nicht. Er selbst versuche Telegram so wenig wie möglich für private Kommunikation zu nutzen, sagt Josef Holnburger. Als beruflicher Experte fordert er: „Es braucht mehr Konsequenzen für Aussagen von Personen auf diesen Plattformen.“ Mordaufrufe, das Teilen von Privatadressen, etwa von Politikern, „so etwas muss so entschieden wie möglich bekämpft werden, aber man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass es eine technische Lösung geben wird“. Dem schließt sich Anna Biselli an. „Man sollte sich nicht an Telegram abarbeiten, sondern am Hass, der dort ausgelebt wird.“ Auch wenn die Handlungsempfehlungen schwierig seien, gehe er eher optimistisch aus der Veranstaltung, sagt Joschka Selinger. „Weil ich merke, dass es einen Prozess des Umdenkens gibt, was den Umgang mit digitaler Gewalt angeht.“ Man sollte sich fragen: „Lohnt es sich jetzt die Symptome zu bekämpfen oder leisten wir Arbeit an den Ursachen?“