Liebe Gemeinde!
Es ist das Jahr der Maske, in dem wir 30 Jahre Deutsche Einheit und 31 Jahre 9. Oktober 1989 feiern. Ein Jahr, das uns alle sehr gefordert hat, in Deutschland, in Europa, auf der ganzen Welt. Kaum ein Symbol steht derart stellvertretend für die Corona-Pandemie wie die Maske. Sie steht für die Auseinandersetzung mit dieser Krankheit, die viele Menschen zutiefst verängstigt, andere aggressiv macht und mache sogar zu Nachlässigkeiten verführt, in jedem Falle unser gesamtes Gesellschafts-, Politik-, Wirtschaftssystem und die Kirchen zutiefst herausfordert. Die Maske ist Symbol des Schutzes und der gegenseitigen Rücksichtnahme geworden, für manche aber auch eine Einschränkung der persönlichen Freiheit.
In dieser klassizistischen Kirche wie St Nikolai, deren innere Architektur, nicht zuletzt deren Säulen ja in Anlehnung an griechische und römische Theater der Antike gebaut wurden, darf an die Ursprünge der Maske und erinnert werden. Im antiken Drama trugen die Schauspieler oft starre Masken, die ihnen halfen in ihre Rollen zu schlüpfen, die sogar Schutz bedeuteten, wenn im Theaterstück Politiker oder andere hochstehende Persönlichkeiten kritisiert wurden.
Vorgezeichneten Masken entfliehen
Im Lateinischen heißt Maske übrigens Persona. Unser moderner Personenbegriff, den wir heute höchst individuell, um nicht zu sagen, individualistisch verstehen, leitet sich also von der antiken Schauspielmaske ab. Persona im Lateinischen bedeutet so viel wie "Hindurchsprechen", "Hindurchtönen", also das Hindurchsprechen durch die Maske, die die Rolle abbildet. Wir leben heute nicht mehr in antiken, sondern modernen, post- oder spätmodernen Zeiten, in der die Individualität groß geschrieben wird, in der wir gerne vorgezeichneten Masken entfliehen wollen und kreativ der eigene Regisseur, die eigene Regisseurin unseres Leben sein wollen.
Schauen wir abends die politischen Talkshows an, so sehen wir das stets gleiche Schauspiel: es werden Menschen eingeladen, die für eine bestimmte Rolle stehen – und von denen erwartet wird, dass sie miteinander ins Gespräch kommen. Doch der Wirtschaftsvertreter spricht über das Fernsehen zu seinen Unternehmern, die Klimaschützerin spricht zu den Umweltverbänden, der konservative Politiker befriedigt ebenso sein Klientel wie seine linke Kontrahentin, Expertinnen und Experten versuchen mit Rücksicht auf die wissenschaftliche Community keinen Fehler zu machen – und der Kabarettist spielt den Klassenclown oder das moralische Gewissen der Sendung.
Und damit nicht genug: In Zeiten, in denen ständig über Identitäten gesprochen werden, in denen die einen missbilligt, den anderen gehuldigt wird, in den ständig neue Identitäten entwickelt und links wie rechts durchaus intensiv Identitätspolitik betrieben wird, dürfen wir uns nicht wundern, wenn Menschen sich immer neue Rolle suchen – und mit Rollen Politik machen.
Koloniale Herren, besiegte Opfer
Und so stehen wir uns in diesem Oktober 2020, in der uns weder in Sachsen noch auf der Bundesebene die Feiern zu 30 Jahre Deutsche Einheit zu glücken scheinen, in dem – irgendwie die Feierlaune als vereinigte Deutsche etwas vergangen ist - in durchaus uneinigen, um nicht zu sagen: uns ständig separierenden Rollen gegenüber. Wir teilen wieder ein in Ost- und Westdeutsche, in koloniale Herren und besiegte Opfer, in Lügenpresse und freie Medien, in Bürger erster, zweiter und dritter Klasse, in wahres Volk und böse Eliten. Anscheinend lebt es sich kommod in solchen Rollen, man kann durch Masken hindurchsprechen, die heute nicht auf der Theaterbühne, sondern in den anonymen Kommentarspalten der unterschiedlichsten Internetplattformen zu finden sind.
Doch: Wer in solche Rolle schlüpft, wer sich mit Masken zufriedengibt, der macht sich auch klein, der agiert nicht auf Augenhöhe. Für das Gespräch unter Gleichen braucht es eben das offene Visier, den Dialog ohne Masken. Wer es sich in Rollen bequem macht, der verbleibt allzu gerne in der Vergangenheit und investiert keine Zeit in Antworten, wie nicht nur er oder sie, sondern wir alle die Zukunft gestalten wollen.
Das wäre für mich übrigens ein aufgeklärter Patriotismus des 21. Jahrhunderts: Das gemeinsame Suchen nach belastbaren Lösungen in Verantwortung für dieses Land und diesen Kontinent. Die Grundlagen sind dafür solide: Deutschland ist das Land der Dichter und Denker, der Ingenieure, der Bürgerrechtlerinnen und Unternehmer, der Ökologen und Künstlerinnen, des Humboldt‘schen Bildungsideals, ein Land, das Vorsprung durch Technik will, Aufstieg durch Bildung verspricht, ein Land, das Wettbewerb und Wohlfahrtsstaat in der sozialen Marktwirtschaft vereint, ein Land, das seit der Reformation Erfahrungen mit religiöser und kultureller und regionaler Vielfalt besitzt, ein Land, das sich seiner historischen Schuld stellt, ein Land, in dem der soziale Rechtsstaat gelebt wird, das für Demokratie und Menschenrechte einsteht und sich in Europa verankert hat, das der transatlantischen Westbindung viel zu verdanken hat, ohne heute die ost- und mitteleuropäischen Nachbarn zu vernachlässigen.
Keine Gewalt!
Ein Land, in dem die Menschen diese Grundlagen akzeptieren, die sich sehr gut mit Einigkeit und Recht und Freiheit zusammenfassen lassen und das Vaterland – oder inklusiv gesprochen: auch Mutterland sein will, für die, die diese Grundsätze ebenfalls annehmen, bräuchte viele Gegensätze nicht mehr in extenso auszuwalzen. Es könnte sich dankbar erinnern, an die Menschen, die das vereinigte Deutschland und Europa erst ermöglichten, als sie auf Wahrheit drängten und ein maskenhaftes Leben im Sozialismus überwinden wollten. Was in Polen mit der Solidarnosc und mit Papst Johannes Paul II berühmten Ausruf "Habt keine Angst" begann, fand seine Fortsetzung in Leipzig in dieser Nikolai-Kirche und auf den Straßen und Plätzen dieser Stadt: "Wir sind das Volk. Keine Gewalt. Für ein offenes Land mit freien Bürgern". Diese Menschen machten sich nicht klein, sondern fassten Mut, überwanden Ängste und übten den aufrechten Gang. Und danach war die Welt nicht mehr wie zuvor.
"Werft Euer Vertrauen nicht weg", ruft uns der unbekannte Autor des Hebräerbriefes zu. Geduld wird belohnt. Wir hören es als eine Gesellschaft, die sehr gerne und sehr viel wegwirft, Gegenstände und Konsumgüter, Verpackungen und Kartons, aber oft allzu leichtfertig auch Vertrauen, manchmal aber auch Zeit für vernünftiges Nachdenken, für notwendige Absprachen, für Konsens. Das dauert manchmal länger als das starre Durchsetzen der eigenen Ideen, schafft aber möglicherweise leichter Einigkeit.
"Werft Euer Vertrauen nicht weg". Der Hebräerbrief richtet sich etwa 50 Jahre nach Christi Passion an eine Gemeinde, der Euphorie des großen Aufbruchs abhandengekommen Dieser Gemeinde spricht der unbekannte Verfasser Hoffnung zu.
"Werft Euer Vertrauen nicht weg". Vertrauen ist ein Beziehungsprozess – zwischen Menschen und Menschen oder theologisch gesprochen: zwischen Gott und Mensch. Vertrauen geht davon aus, dass das Gegenüber redlich oder heute würde man sagen: authentisch ist, dass die Werte, Aussagen und Handlungen des Partners wahrhaftig sind, eingelöst werden können. Das gilt auch für Politik und Verwaltung. Wenn dies nicht geschieht, und zwar dauerhaft, entstehen Störungen, es kommt zu Vertrauensverlusten.
Medial überladene Vertrauens-Wegwerfgesellschaft
Vertrauen wächst aber auch dort, wo Masken fallen, wo Menschen so sein können, wie sie sind. Das kann die Familie, der Freundeskreis, eine Gruppe sein – oder auch die Kirche. Wir Menschen brauchen diese Orte, an den wir wahrhaftig sein können und dürfen. In der Gemeinschaft der Gläubigen dürfen wir es sein und Kraft empfangen. Kirche verstand sich immer als grenzüberschreitende, auch identitätspolitische Grenzen überschreitende Gemeinschaft der Heiligen, also nicht der perfekten Menschen, sondern deren, die an einen Gott glauben, der Zuspruch und Vergebung schenkt, der hinwegnimmt unsere Sünden und Verfehlungen. Darin unterscheidet sich das Evangelium Jesu Christi übrigens von unserer Zeit: Der gnädige Gott vergibt die Sünden und vergisst sie. Das Internet dagegen vergisst nie und ist deshalb zutiefst ungnädig.
"Werft Euer Vertrauen nicht weg." Nein, ich habe auch in unserer medial überladenen Vertrauens-Wegwerfgesellschaft nicht das Gefühl, dass wir in Deutschland in hoffnungslosen Zeiten leben. In der Corona-Pandemie war das Vertrauen in die Regierungen so groß wie nie in der deutschen Geschichte – trotz der tiefsten Grundrechtseinschränkungen in 70 Jahren Bundesrepublik noch. In diesen Wochen haben auch die individualistischen Deutschen ihre Staatsbedürftigkeit erfahren. Der Staat hat gehandelt, Fördermittel vergeben, das Gesundheitssystem gestärkt. Das stiftete Vertrauen. Die Einheit in föderaler Vielfalt hat sich bewährt, der Rechtsstaat blieb intakt.
Zugleich darf das Vertrauen in den Staat nicht zu der verführerischen Haltung beitragen, gesellschafts- oder wirtschaftspolitische Verantwortung leichtfertig allein an den in diesem Jahr recht großzügigen Staat zu delegieren. In der offenen Gesellschaft mündiger Bürger, in Sachsen allzumal, braucht es die intensive Auseinandersetzung über Gegenwarts- und Zukunftsfragen. Sachsen braucht eine lebendige Bürgergesellschaft, die mitreden, mitdenken und mithandeln will. Und die Verantwortung nicht abgibt, sondern übernimmt. Überlassen wir die Politik nicht sich selbst, sondern arbeiten als engagierte Gesellschaft im Vorfeld der politischen Entscheidungsfindung mit, treiben wir die Meinungsbildung voran, wägen wir Alternativen ab. Das wäre in meinen Augen auch ein Vermächtnis der Bürgerbewegung von 1989/90.
In der deutschen Nationalhymne heißt es übrigens nicht, dass Einigkeit und Recht und Freiheit für alle Zeit bestehen. Nein, die dritte Strophe des Deutschlandliedes ruft uns auf, mit Herz und Hand danach zu streben – und zwar nicht individuell, sondern fürs Vater- und Mutterland, weil diese Einheit samt Rechtsstaat und Freiheitsgarantien Glück verspricht.
Werfen wir uns also unser Vertrauen nicht weg, dass eine aufgeklärte Nation mündiger Bürgerinnen und Bürger in den nächsten Jahren auf dem Weg von Einigkeit und Recht und Freiheit weiterkommen wird – und identitätspolitische Rollen zu überwinden versteht. Sie sind menschengemachte Konstruktionen und bestehen nicht ewig – Gott sei Dank. Amen.