Frau Eichert, das Starterpaket haben Sie und vier weitere Autorinnen ins Leben gerufen. Sie waren 2015 ehrenamtlich für die Stadtmission Zwickau und weitere Initiativen im Landkreis aktiv und gehörten auch zum Vorbereitungsteam der Westsächsischen Hochschule Zwickau, als es dort um die Errichtung einer Erstaufnahmestelle für Geflüchtete in der Region ging. Damals suchten, vor allem aufgrund des Kriegs in Syrien, zahlreiche Menschen Schutz in Deutschland und Europa. Wie kam es dazu, dass Sie Autorin wurden?
Als Deutschlehrerin war mir 2015 schnell klar geworden, dass bei dem herrschenden Lehrkräftemangel auch für Deutsch als Fremd- oder Zweitsprache (DaF /DaZ) kaum ausgebildete Lehrer und Lehrerinnen zur Verfügung stehen würden. Dabei war der Bedarf riesig. Dass etliche Menschen auf ehrenamtlicher Basis den ankommenden Asylsuchenden helfen wollten, wusste ich aus vielen Gesprächen: Einige hatten für viel Geld Lehrmaterialen im Buchhandel gekauft, die sowohl die Ehrenamtlichen als auch die Geflüchteten überforderten. Oder sie arbeiteten mit der Fibel des eigenen Kindes, in der Umi der Bär, der die Kinder an das Lesen und Schreiben heranführt, im Schlauchboot daherkam. Das war für geflüchtete Menschen, die vielfach unter Lebensgefahr das Mittelmeer in Schlauchbooten überquert hatten, ein möglicher Trauma-Trigger. Außerdem lernen Erwachsene grundsätzlich anders als Erstklässler.
Meine Idee war daher, Ehrenamtliche sowohl für die Vermittlung grundlegender Deutschkenntnisse als auch für die Begegnung und den Umgang mit Asylsuchenden in der Region fit zu machen. Für Laien in Unterrichtung von Sprache braucht es fachlich fundiertes Basiswissen, das bei ausgebildeten Lehrkräften vorausgesetzt wird. Ich recherchierte also in den Angeboten unterschiedlicher Verlage und fand damals nur Lernmaterialien, die für anderen Zielgruppen ausgelegt waren: zum Beispiel für Sprachkurse an Volkshochschulen durch ausgebildete Lehrkräfte. Anders als jetzt gab es auch keine Gelder zur Anschaffung passender Materialien. Deswegen beschloss ich, selbst Lernmaterialien zu erstellen, die grundlegende Prinzipien der Sprachvermittlung für Erwachsene und didaktische Tipps beinhalten. Außerdem war mir wichtig, die Ehrenamtlichen für mögliche kritische Situationen in der Begegnung zu sensibilisieren. Im Vorbereitungsteam an der Hochschule fand sich dann schnell unsere Gruppe von fünf Frauen als Autorinnen für das Starterpaket-Projekt zusammen.
Die Starterpakete enthalten 300 bunte sogenannte Zeige-Blätter im DinA3-Format: Sie ermöglichen das Lernen der deutschen Sprache auf sehr anschauliche Weise und abgestimmt auf Themenbereiche. Dazu gibt es passende Übungsblätter und Kartensätze zum spielerischen Lernen. Die Lernmodule vermitteln vielfältiges Basiswissen: etwa zur Orientierung im öffentlichen Nahverkehr, über das Wahlsystem oder die medizinische Versorgung in Deutschland. Schließlich liefert die Handreichung (Katalogformat) für die Ehrenamtlichen didaktisch-methodische Impulse zur Gestaltung des Unterrichts und informiert über Kommunikationsmodelle, interkulturelles Lernen auf Augenhöhe und verantwortungsbewussten Umgang mit traumatisierten Menschen. Wie haben Sie all das erarbeitet, welche Kompetenzen brachten die Autorinnen im Team mit?
Wir Autorinnen machten uns zur Aufgabe, Materialien zu entwickeln, mit denen in Erstaufnahme-Einrichtungen sinnvoll gearbeitet werden konnte. Uns war klar, dass sich dafür keine klassischen Arbeitshefte eignen würden. Aufgrund der nicht planbaren Aufenthaltsdauer der Menschen in den Erstaufnahmen entwickelten wir flexibel einsetzbare Themenmodule. Inhaltlich greifen sie Informationen auf, die man braucht, um sich in einer fremden Sprache und Kultur zurechtzufinden. Die Lerninhalte vermittelten wir über die bunten „Zeige-Blätter“, dafür brauchten wir unbedingt eine Vielzahl von Bildern. Denn niemand konnte davon ausgehen, dass sich die Asylsuchenden und die Ehrenamtlichen in einer Brückensprache, wie zum Beispiele Englisch oder Russisch austauschen, könnten. Wir arbeiteten schließlich mit der Bildersammlung der Bremer Lebenshilfe.
Unsere Projektgruppe, die damals zufällig zusammenfand, bündelte unterschiedliche Kompetenzen. Anne Potzel (heute Anne Kruscha) brachte langjährige Erfahrungen im DaZ-Bereich (Deutsch als Zweitsprache) mit, Herdis Klarmann ist ebenfalls Dozentin im Sprachenbereich an der Westsächsischen Hochschule Zwickau (WHZ). Dajana Conrad und Manja Franke kamen aus ganz anderen fachlichen Bereichen der Hochschule und brachten ihre Perspektiven in die Materialentwicklung ein. Mein fachlicher Hintergrund waren unterschiedliche Unterrichts- und Weiterbildungserfahrung sowie die Vernetzung mit regionalen Akteuren. Als Gruppe sind wir viele Stunden im Austausch gewesen, haben redaktionell überarbeitet, was teilweise in Einzelschritten von uns als „Hausaufgabe“ vorgearbeitet wurde.
Welche Erfahrungen und Erkenntnisse aus der Arbeit mit Geflüchteten sind mit eingeflossen?
Neben diesem ganzen Prozess der Materialentwicklung schrieb ich die Handreichung für die Ehrenamtlichen. Hier floss viel aus unserem Austausch mit unterschiedlichen Akteuren ein, die mit Geflüchteten arbeiteten. Auch aus meinem örtlichen Helferkreis, den ich selbst fachlich begleitete, bekam ich Rückmeldungen zu unserem Material. Wir boten außerdem Workshops für interessierte Angehörige der Hochschule in Zwickau an, um sie auf den Einsatz in der Erstaufnahmeeinrichtung vorzubereiten.
Ich erinnere mich an eine der ersten Info-Veranstaltungen für Ehrenamtliche, deren Einsatzort die Unterkunft der Stadtmission für allein geflüchtete Männer aus Syrien, Afghanistan und anderen Ländern sein sollte. Eine junge Frau kam in sehr kurzen Hosen und trug ein tief ausgeschnittenes T-Shirt. Da ich in früheren Jahren als Deutschlehrerein in Schulklassen mit einem hohen Anteil muslimisch geprägter Jungs unterrichtet hatte, war mir klar, dass wir die Ehrenamtlichen für interkulturellen und interreligiösen Umgang sensibilisieren sollten.
Von den Geflüchteten selbst kamen häufig Fragen zur medizinischen Versorgung in Deutschland, deswegen nahmen wir das Thema mit in einzelne Module auf und stellten Informationen für die Handreichung zusammen. Auch Hinweise zu möglichen Traumatisierungen der Geflüchteten und Kontaktadressen zu entsprechenden Hilfsorganisatoren gab ich in der Handreichung an. Der Austausch mit den Ehrenamtlichen zeigte, dass die Hauptamtlichen in den verschiedenen Projekten oft gar nicht die Zeit hatten, diesen vielen Fragen und Probleme der Geflüchteten gerecht zu werden.
Auch dieses Jahr ist von einem Krieg geprägt: Seit dem russischen Angriff auf die Ukraine am 24. Februar sind zahlreiche Menschen nach Deutschland geflohen, bis Mitte Juli 2022 wurden etwa 50.000 ukrainische Geflüchtete in Sachsen registriert. Reagieren Sie mit der vierten Auflage des Starterpakets auf die aktuelle Situation? Und was ist an neuen Informationen hinzugekommen?
Als klar war, dass viele Geflüchtete aus der Ukraine auch nach Deutschland kommen würden, entschieden die Landeszentrale (SLpB), der Sächsische Ausländerbeauftragte (SAB) und ich als Vertreterin der Autorinnen, die vierte Auflage des Starterpakets herauszubringen. Denn die ersten drei Auflagen waren allesamt bereits nach kurzer Zeit vergriffen gewesen. Die von uns entwickelten thematischen Module in Form der Zeige-Blätter zur Visualisierung der Lerninhalte sind auch heute sehr aktuell und richten sich an Geflüchtete jeglicher Herkunft. Somit können alle noch vorhandenen früheren Auflagen des Starterpakets nach wie vor verwendet werden. Einige der Blätter wurden für die vierte Auflage aktualisiert oder ergänzt.
Und in der Handreichung haben wir Links auf Websites hinzugefügt, die über die Situation in der Ukraine informieren oder Hinweise auf Besonderheiten der ukrainischen Sprache geben. Außerdem haben wir alle in vorigen Auflagen aufgeführten Online-Links auf Seiten mit vertiefendem Wissen oder hilfreichen Kontakten durchgesehen und auf den aktuellsten Stand gebracht.
Die allermeisten Inhalte der Handreichung und des Lernmaterials gelten nach wie vor. Für diejenigen, die eine der früheren Auflagen nutzen, sind die aktualisierten Zeige-Blätter sowie eine Übersicht mit Seitenangaben und Links (alt und aktualisiert) im Downloadbereich hinterlegt. Hier werden wir auch nach Drucklegung der vierten Auflage Aktualisierungen bereitstellen: etwa nützliche aktuelle Informationen oder Materialergänzungen.
Wie erleben Sie und die Ehrenamtlichen aus Ihrem Netzwerk die momentane Lage im Vergleich zur Situation vor sieben Jahren?
2015 waren viele Institutionen und Strukturen überfordert – obwohl man vermutlich auf vergleichbare Szenarien grundsätzlich hätte vorbereitet sein können. Ich weiß nicht, wo wir ohne das Engagement von sehr vielen Ehrenamtlichen gestanden wären. Mein Eindruck ist, dass durch die in den vergangenen Jahren gewachsenen Strukturen zum Beispiel die Zusammenarbeit von Kommunen und unterschiedlichen ehrenamtlichen Initiativen und Vereinen besser geworden ist. Nach wie vor benötigen wir in unterschiedlichen Bereichen – nicht nur in der Arbeit mit Geflüchteten – sehr viel ehrenamtliches Engagement.
Auf der anderen Seite sehe ich in den Netzwerken und Arbeitskreisen eine stetig kleiner werdende Zahl der immer gleichen Akteurinnen und Akteure. Viele sind mittlerweile ihrer teilweise jahrelangen ehrenamtlichen Tätigkeit müde geworden oder haben sich anders orientiert. In meinem Heimatort hatten wir 2015 einen Helferkreis mit über 100 Ehrenamtlichen. Davon ist kaum jemand übriggeblieben. Derzeit ist es schwierig, neue Ehrenamtliche zu motivieren, um überhaupt wieder verschiedene Angebote für Geflüchteten machen zu können. Ähnliches höre ich aus unterschiedlichen Orten.
Wie ist Ihr Eindruck: Wird in Sachsen – und in Deutschland allgemein – anders mit den ukrainischen Geflüchteten umgegangen als mit den Menschen, die beispielsweise aus Syrien, Afghanistan, dem Irak oder nordafrikanischen Ländern kommen?
Was viele Engagierte, Ehrenamtliche und Hauptamtliche – mich eingeschlossen – frustriert, ist die politische Entscheidung, dass Geflüchtete aus der Ukraine anders eingestuft werden. Sie werden in anderen Strukturen geführt als viele, die bereits seit Jahren in Deutschland sind oder aus anderen Ländern nach Deutschland kommen. Ich weiß von Menschen aus Afghanistan und Syrien, die sich seit Jahren darum bemühen, hier arbeiten zu dürfen. Sie erleben, dass die Menschen aus der Ukraine ganz anders behandelt werden.
Auch die Spendenbereitschaft für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die ich an der örtlichen Spendenannahmestelle immer wieder erlebe, ist eine andere als 2015. Vielleicht hat das mit der den Sachsen näheren Kultur der Ukrainer und Russen zu tun. Vielleicht auch mit der Geschichte der Menschen, die die DDR noch bewusst erlebt haben. Allerdings gilt auch hier, was ich bereits oben zum ehrenamtlichen Engagement gesagt hatte: Viele Menschen unterstützen gern mit Sachspenden, entscheiden sich jedoch dagegen, selbst aktiv zu werden.
Die Erfahrungen, die Starterpaket-Autorin Sieglinde Eichert hier schildert, decken sich mit den Ergebnissen der SLpB-Studie „Engagement in Sachsen“.