Frau Grimm, Frau Michel, die SLpB hat Ihr Buch „Die anderen Leben“ seit Juli in ihr Programm aufgenommen. Sie dokumentieren darin die Gespräche von zehn Eltern-Kind-Paaren über deren Erfahrungen in der DDR und nach dem Fall der Mauer. Was war der Anlass, so ein Buch zu schreiben?
Michel: In meinem Film „Zonenmädchen“ erzähle ich meine eigene Geschichte und die meiner vier Schulfreundinnen. Ich gehe der Frage nach, wie wir erzogen wurden für eine Zukunft, die dann gar nicht eingetreten ist. Im Zuge der Recherchen für den Film haben wir auch das Gespräch mit unseren Eltern gesucht. Letztlich haben zwei mit ihren Eltern gesprochen – und das stellte sich schon als kompliziert heraus. Es gibt sehr unterschiedliche Erinnerungen vom Leben bis hin zu Mauerfall und Transformation, die die Generationen sehr verschieden wahrnehmen. Als ich mit dem Film auf großer Kinotour war, stellte sich in den Gesprächen mit dem Publikum heraus, dass es in vielen anderen Familien wenig Kommunikation darüber gibt. Damit war offensichtlich, dass es sich um ein strukturelles Problem handelt und nicht so sehr darum, dass es nur in unseren Familien irgendwie zufällig kompliziert gewesen ist.
Sie sind beide Filmemacherinnen, haben vor diesem Buch aber noch nicht zusammen gearbeitet. Wie haben Sie sich gefunden?
Michel: Es ging einige Zeit ins Land bevor ich die Förderung für das Projekt hatte. Gleichzeitig habe ich noch meinen Film „Montags in Dresden“ angefangen, der drei Menschen porträtiert, die regelmäßig zu Pegida gingen. Mir wurde klar, dass ich mir für dieses Projekt eine Verbündete suchen muss. Dörte Grimm engagiert sich im Kontext von Dritte Generation Ost und macht selbst Filme zum Thema.
Grimm: Sabine hat mich angeschrieben, dann haben wir uns gegenseitig unsere Filme geschickt und uns verabredet. Als sie mir von ihrem Anliegen berichtete, habe ich mich schnell entschieden: Da wollte ich unbedingt dabei sein!
Warum haben Sie keinen gemeinsamen Film gedreht?
Michel: Wir haben schon in der Recherche festgestellt, wie schwer sich dieser Dialog gestalten kann. Da wir eine wirklich ehrliche Atmosphäre für diese Gespräche schaffen wollten, war die Zusicherung von Anonymität ausschlaggebend. Alle Hinweise auf die biografischen Details haben wir unkenntlich gemacht. Ich denke, das erklärt automatisch auch die Frage, warum es kein Film geworden ist. Die Dinge, die dann ausgesprochen werden, diese ehrlichen Bestandsaufnahmen von DDR, Transformation und Wendezeit – mit einem Buch konnten wir einen größeren Spielraum für Identifikationsflächen und eigene Erinnerungsräume schaffen. Wer liest, bekommt kein Bild vorgegeben.
Grimm: Unseren Paaren fiel es schon schwer, sich im Beisein von mir und Sabine sowie der Zusicherung von Anonymität für dieses Gespräch zu öffnen. Wenn ich mir vorstelle, dass noch ein ganzes Kamerateam daneben steht, das noch Wünsche hat, wie Bilder auszusehen haben oder Einstellungen zu drehen sind, erschwert das den Zugang sicherlich noch mehr. Wir hatten darum entschieden, wir dokumentieren erst einmal die Gespräche.
Wie sind Sie auf Ihre Gesprächspartnerinnen gekommen?
Michel: Viele kenne ich aus den Diskussionen nach meinen Filmvorführungen. Nachdem ich verstanden hatte, dass es ein Muster gibt, habe ich angefangen, nach den Kontakten zu fragen. Da wusste ich noch gar nicht, wofür, aber irgendwie dachte ich, das ist so kostbar, dass ich die auf diese Weise kennenlernen darf. Bei der Auswahl ging es uns darum, ein möglichst breites gesellschaftliches Spektrum abzubilden.
Grimm: Uns war wichtig, dass unsere Gesprächspartner und Partnerinnen aus möglichst unterschiedlichen sozialen Kontexten stammen: staatsnah, staatsfern, Opposition, Kirche, Stadt, Land, Menschen aus dem Bildungsbereich sowie der Arbeiterschaft und so weiter.
Fünf Jahre dauerte die Arbeit an dem Buch. Würden Sie sagen, es ist ein Bindeglied zwischen Ihren Filmen „Zonenmädchen“ und „Montags in Dresden“?
Michel: Bei meinen Arbeiten frage ich mich: Warum macht jemand etwas, was treibt die Person an? Welche Erfahrungen spielen eine Rolle. Warum entscheidet sich jemand, AfD zu wählen? Woher kommt diese Wut, woher so ein Unmut, das Gefühl, fremdbestimmt zu sein, sich nicht einbringen zu können? Bei meiner Beschäftigung mit Menschen, die in Dresden regelmäßig zu Pegida gehen, habe ich festgestellt, dass dort sehr viele Dinge eine Rolle spielen. Natürlich auch fehlende Aufarbeitung, aber nicht nur. Besonders in den Neunzigerjahren war jemand ganz schnell ein Jammerossi, wenn er oder sie über weniger erfolgreiche Erfahrungen mit dem neuen Gesellschaftssystem gesprochen hat. Das ist in den letzten Jahren differenzierter geworden. Aber nach wie vor sind bestimmte Themen nicht Teil des gesellschaftlichen Diskurses. Und auch in der kleinsten Zelle der Gesellschaft, in den Familien, wird wenig darüber gesprochen. Das Ganze ergibt eine ganz ungute Mischung.
Woher kommt diese Sprachlosigkeit?
Grimm: Wir denken, dass es für unsere Elterngeneration mit dem totalen Umbruch in allen Lebensbereichen ihres Lebens zu tun hat. Als die Zeit gekommen wäre, über diese Umwälzungen zu reflektieren, die in so großer Geschwindigkeit über sie hereingebrochen sind, war der Diskurs über den Osten durch Institutionen und die Medien größtenteils schon festgelegt. Das hat viele irritiert und sprachlos gemacht. Wenn man schon alleine durch die Tatsache, dass man in der DDR gelebt hat, unter eine Art Generalverdacht gerät, wird es schwierig, darüber reflektiert und auch selbstbewusst zu sprechen. Die Kinder sind größtenteils viel besser mit diesen Veränderungen zurechtgekommen. Sie haben trotzdem erlebt, in welchen Widersprüchen und Kämpfen sich ihre Eltern befanden. Dadurch, dass es so eine Verteidigungshaltung nach Außen gegeben hat, war es kompliziert, in den Familien vielleicht auch mal kritische Fragen zu stellen.
Hat es das letztlich indirekt und direkt verhindert, dass es eine Art persönliche, kritische Aufarbeitung gegeben hat?
Michel: Dieses schöne Bild von der friedlichen Revolution, das Zusammenwachsen zweier Staaten und der Niedergang eines Systems wird ja zu recht international verbreitet. Die Wende ist zumindest in den ersten Jahren als eine ausschließlich positive Geschichte wiedergegeben worden, die aber viele Menschen schon in den frühen Neunzigern überhaupt nicht mehr so wahrgenommen haben. Nur haben die sich auch nicht getraut, darüber in einen selbstbewussten Diskurs zu gehen. Da spielt auch Scham eine Rolle, über die eigene Rolle. Uns geht es um eine selbstkritische Betrachtung mit dem, was gelungen ist, und dem, wo man aus heutiger Sicht sagt: Ja, da haben wir auch falsche Entscheidungen in der DDR getroffen, da habe ich den Mund gehalten, das hätte ich nicht machen sollen. All das darf sein und daraus dann kann dann auch so etwas wie ein neues ostdeutsches Bewusstsein entstehen.
Eine Therapiestunde Ost sozusagen?
Michel: Es braucht natürlich auch politische Entscheidungen aber eben auch den Dialog in den kleinsten Zellen. Wir sind weit entfernt, davon zu sagen: Wir müssen einfach nur alle miteinander reden und dann klappt das schon.
Was wollen Sie mit dem Buch erreichen?
Michel: Dieser gesellschaftliche Riss, von dem oft gesprochen wird, ist offensichtlich. Und tatsächlich ist es keine kleine Größe, wenn sich jeder zweite Bürger ostdeutscher Herkunft als Mensch zweiter Klasse fühlt. Das äußert sich eben auch in politischen Tendenzen und hat enorme politische und gesellschaftliche Sprengkraft. Wir glauben, dass wenn die Generationen in Ostdeutschland mehr miteinander ins Gespräch kommen, darüber eben auch ein neues Bewusstsein von sich selbst wachsen kann, mit allem Stärken und Defiziten. Das kann eine positive Kraft entfalten.
Grimm: Die Menschen sollen diese Leerstelle, von der wir vorhin gesprochen haben, selbst ausfüllen. Sie sollen die Deutungshoheit über ihre eigene Geschichte zurück erhalten. Wir wollen dieses Bild ändern, dass alle DDR Biografien gleich aussehen: Unsere Eltern lebten in Furcht und Schrecken und wir saßen alle auf dem Topf und haben Panzer gemalt, zum Beispiel. Man sieht beispielhaft an diesen zehn Gesprächen, dass das Leben in der DDR eben sehr, sehr divers war.
Michel: Mit meinen Filmen war ich auch in den alten Bundesländern, wo die Menschen zum Teil gar nicht verstehen, was den Osten umtreibt, warum der Osten nicht zufrieden ist, wo doch die Innenstädte so schön aussehen und die Autobahn sogar viel besser als in manchen alten Bundesländern. Ganz erstaunt sind die Reaktionen dann, wenn man anfängt, darüber zu erzählen, was im Hintergrund auch noch alles ablief, was für Preise gezahlt wurden und dass die Innenstädte den Menschen, die dort leben, ja aber gar nicht gehören. Dass das Problem ja viel vielschichtiger ist, überrascht die Menschen oft.
Im Rahmen unserer Reihe Kontrovers vor Ort haben Sie ebenfalls mit dem Publikum über Ihre Filme und die Erfahrungen der Menschen diskutiert. Was ist Ihnen da begegnet?
Grimm: Ich hatte den Eindruck, dass unser Angebot sehr wohlwollend aufgenommen wurde, nach dem Motto: Wir kämpfen für euch und eure Geschichten. Uns ist da eine große Dankbarkeit und Wertschätzung begegnet. Die Leute haben sich geöffnet und von ihren Umbrüchen erzählt. Das sind immer wieder positive Geschichten von steigendem Wohlstand und Freiheit, aber auch von Arbeitslosigkeit, Werksschließung und großer Unsicherheit. Die Menschen berichten, wie sie als Familie auseinander gedriftet sind, weil die Kinder zum Studieren und Arbeiten wegzogen und nun in der Heimat fehlen. Wir hatten aber auch immer wieder Menschen im Publikum, die sagen: Jetzt sind 30 Jahre vergangen, was soll denn dieser Blick zurück? Wir glauben aber, dass der Blick zurück bis jetzt eben nicht richtig stattgefunden hat. Auf ideologisch-intellektueller Ebene schon, aber er ist noch nicht in der kleinsten Zelle, der Familie, angekommen.
Michel: Ohne Vergangenheit gibt es auch keine Zukunft.
Eine Art nachgeholtes 1968?
Grimm: Wir würden es nicht unter dieses Label setzen wollen. Die leichtere Position haben die Jüngeren ja immer. Es geht um das Beleuchten der persönlichen Geschichten, ohne dass gleich alles unter einem Generalverdacht landet.
Michel: Klar, ich war 18, als die Mauer fiel. Die ganzen komplizierten Lebensentscheidungen wären dann gekommen. Ich weiß nicht, wie ich mich entschieden hätte. Aber ich finde es absolut wichtig für die gesellschaftliche Weiterentwicklung, dass die Jüngeren in der Lage sind, ihren Familien zu sagen: So wie in der DDR Dinge gelaufen sind, hätten sie sie auch gemacht oder eben anders. Dafür müssen wir ein Gesprächsklima schaffen. Sonst machen das andere, ich denke nur an den Wahlspruch der AfD: Die Wende vollenden...
Haben Sie das Thema für sich inzwischen geklärt oder müssen sie noch mehr mit Ihren Eltern reden?
Grimm: Wenn man sich erst einmal auf die Suche macht nach der eigenen Geschichte, möchte man den Weg immer weitergehen. Mir ist aufgefallen, dass ich mir durch dieses lange Schweigen, was auch in meiner Familie und Umgebung existiert hat, die Geschichten oder Ereignisse oft falsch gemerkt habe. Deswegen ist es so wichtig, immer wieder darüber zu sprechen, um die eigenen Leerstellen zu füllen.
Michel: Es ist ein Thema, mit dem ich beruflich ja auch sehr viel zu tun habe. Mein nächster Film ist über ostdeutsche Frauen in der Politik. Er beleuchtet genauer, was Frauen in die Wiedervereinigung eingebracht haben, aus meiner Sicht eine „Erfolgsgeschichte“. In der Familie sind wir auf dem Weg, aber es ist wirklich weit entfernt davon, finale Sätze darüber sagen zu können.
Grimm: Am Anfang sind die Gespräche in der Familie sicherlich anstrengend. Man hat nicht jedes Mal Lust, beim Familienfest über diese Themen zu sprechen, besonders nicht, wenn man vermutet, dass sie schmerzhaft sein könnten. Aber es lohnt sich, sich dafür extra Zeit zu nehmen. Und je öfter in den Familien darüber gesprochen wird, desto selbstbewusster finden Eltern und Kinder zusammen zu ihrer gemeinsamen Geschichte.
Sabine Michel, geboren 1971 in Dresden, ging 1990 – mit dem letzten Ost-Abitur – nach Paris und studierte später Filmregie in Potsdam/Babelsberg. Ihr Kurzfilm "Hinten scheißt die Ente" führte als Publikumserfolg 2005 zu ihrem ersten Langspielfilm "Nimm dir dein Leben". Seitdem arbeitet die Adolf-Grimme-Preisträgerin für Kino und Fernsehen und am Theater.
Dörte Grimm, geboren 1978 in Pritzwalk, studierte Publizistik, Geschichte und Ethnologie in Berlin. Seit 2008 arbeitet sie als Autorin und Filmemacherin. Sie schreibt Kinderbücher, dreht Dokumentarfilme und arbeitet für das Fernsehen. Seit 2015 engagiert sie sich im Verein Perspektive hoch drei / Dritte Generation Ostdeutschland.