30 Minuten übereinstimmendes Schweigen. So berichtet Utz Rachowski vom ersten Zusammentreffen mit seiner Mutter nach seiner Inhaftierung 1978. Sie musste Beruhigungsmittel nehmen, um ihn sehen zu können. Beim "Sprecher" - so nannte die Stasi die Besuchszeiten - wollten und konnten Mutter und Sohn in Anwesenheit eines Stasi-Mannes nicht sprechen. Das übereinstimmende Schweigen als große Gemeinsamkeit, Verständigung jenseits des gesprochenen Wortes und eine Form, sich den staatlichen Spielregeln zu entziehen.
Das muss Rachowski bei einer Lesung Ende Mai in der Dresdner Schifferkirche Maria am Wasser nicht erklären. Viele Zuhörer haben ihre Jugend in den 1970er Jahren der DDR verbracht. Man teilt die Erlebnisse oder kennt zumindest jemanden, der ähnliches durchgestanden hat.
Unter dem Titel „Die Lichter, die wir selbst entzünden“ liest Rachowski aus seinem druckfrischen Buch. Es sind Anekdoten und Briefe aus seiner Haftzeit. Rachowski stockt, man spürt die Überwindung, all diese Erinnerungen und Beklemmungen auf Papier zu bringen und nun vorzutragen. Er tut es nicht zum Selbstzweck. Hinter seiner freundlichen Zurückhaltung ist Rachowski ein politischer Aktivist, ein Kämpfer für die Meinungsfreiheit und die Freiheit der Kunst.
Kaum aus der Haft entlassen und 1980 in den Westen übergesiedelt, engagiert sich Rachowski für unterdrückte Schriftsteller. Er schmuggelt Texte aus Polen in den Westen, um sie zu verbreiten und er schickt seitdem Postkarten in die Gefängniszellen der Welt. Als Mitglied von Writers-in-Prison organisiert er Öffentlichkeit für weggesperrte Kollegen, hält Kontakt zu Angehörigen, schreibt Briefe an Despoten und aufmunternde Grüße in Postkartenform an seine Schützlinge. Besser nicht zu Weihnachten, da gibt es meist viel Post. Über das Jahr verteilt, einfache Postkarten mit Fotos aus der Welt. Sie spenden Kraft in kargen Zellen.
Ähnliche Zuwendung erfuhr auch Rachowski. Er berichtet, wieviel Hoffnung und Kraft ihm die kurze und verbotene Nachricht gab, Amnesty International würde sich um seinen Fall kümmern. Nun hilft er seit Jahrzenten anderen, so auch der Nobelpreisträgerin Aung San Suu Kyi, ihren Weg durchzustehen, die Hoffnung zu bewahren und in Freiheit zu kommen. Es gelingt nicht immer. Rachowski ist viel zu bescheiden, um für Unterstützung zu werben, aber die wichtige Arbeit der Writers-in-Prison benötigt diese dringend.
Das Thema der Unterdrückung wiegt schwer, aber Rachowski stellt sich ihm frei von Bitterkeit und selbstbewußt entgegen. Ganz gleich, ob er nach seiner Verurteilung dem DDR-Machtapparat mit feiner Ironie begegnet: „Nun sind es statt der geforderten zweieinhalb Jahre 27 Monate geworden, das klingt schon viel weniger.“ Oder er gibt heute inhaftierten Kollegen einen Lichtblick, denn es sind die Lichter, die wir selbst entzünden.