Herr Pollmer, Herr Rietzschel, was ist für Sie Heimat?
Rietzschel: Für mich ist es eine Art von Entschlüsselung, dass man, egal wo man ist, die Möglichkeit hat, dahinter zu blicken. Um es konkreter zu machen: Wenn irgendwo in der Stadt eine Brache abgerissen wird, kann ich, wenn das für mich Heimat ist, ein Gefühl dafür entwickeln, was das mit den Leuten macht, ob die das trifft, ob die das gut finden. Heimat kann ein Ort sein und Menschen, Gefühl. Das bedeutet aber nicht, dass ich das qua Geburt habe und dass ich das zum Beispiel nur für Kamenz hätte. In Ansätzen habe ich das auch für Görlitz entwickelt. Was mich an meiner Definition so überzeugt, ist, dass sie anwendbar ist auf andere Dinge, dass sie sich nicht nur auf den etablierten Kern einer schon immer da lebenden Menschengruppe bezieht, sondern dass auch die Ortsfremden Heimat spüren können, einfach weil sie die Möglichkeit haben, dazuzugehören und etwas zurückzugeben.
Pollmer: Gut, dass du angefangen hast mit der Antwort, weil die für mich wichtigste Definition von Heimat daran anschließt. Ich nehme die für mich immer in der Abgrenzung zu Herkunft vor. Herkunft ist dieses Unveränderliche, woher ich komme. Heimat ist für mich die Frage: Wo will ich bleiben? Sie ist etwas in die Zukunft Gerichtetes, ein inklusiver Begriff und nicht biologistisch definiert. Ansonsten kann Heimat so viel Unterschiedliches meinen. Ich denke zum Beispiel, wenn ich den Begriff Heimat höre, an den Fichtepark in Dresden-Plauen, weil das der Park ist, in dem ich in einem Wasserlauf meinen ersten Damm gebaut habe als Kind und in dem ich mir zum ersten Mal das Knie aufgeschlagen habe. Von dort kann ich immer weiter rauszoomen: Dieser Blick übers Wasser zur Silhouette Dresdens ist Heimat, Sachsen ist Heimat, Brandenburg in gewisser Weise auch. Dieses Rauszoomen geht immer so weiter, bis es irgendwann so abstrakt wird, dass ich Heimat gar nicht mehr nur geographisch denke, sondern auch in Menschen, in Denkschulen, in Gefühlen.
Ausgehend von der Definition Heimat als ein „Wo will ich bleiben?“ – ist Brandenburg zu Ihrer Heimat geworden?
Pollmer: Im Sinne dieser Zukunftsfrage bin ich noch heimatlos. Manchmal sieht man Hunde im Park, die laufen ein paar Mal im Kreis und treten das Gras platt und dann legen die sich hin. Übertragen auf mein Leben, habe ich diesen konkreten Ort noch nicht gefunden. Und das hat nichts damit zu tun, dass ich immer noch durch die Welt flippern möchte.
Ihre Bücher „Mit der Faust in die Welt schlagen“ und „Heut ist irgendwie ein komischer Tag“ mit denen Sie im Rahmen unseres Projektes Kontrovers vor Ort auf Lesereise gehen – würden Sie die als Heimatromane bezeichnen?
Rietzschel: Das klingt immer gleich nach Leni Riefenstahl… Dörte Hansens „Altes Land“ oder „Mitagsstunde“ sind für mich auch eine Art Heimatroman, die diesen Begriff gleichzeitig aber auch dekonstruieren und damit anders umgehen und zeigen, dass das etwas Zerbrechliches sein kann, etwas, was sich auch auflöst. Es muss ja nicht immer nur das Positive, Bestehende, Fixe sein, sondern kann eben auch gerade das Gegenteil sein. Weil mein Buch für mich auch eine Bearbeitung von Zuhause, von Heimat und von Herkunft ist, ist es das auf jeden Fall. Für andere ist es das aber überhaupt nicht. Vielleicht muss man so herangehen und fragen: Für wen ist das dann Heimatroman? Für mich sind die Menschen im Text greifbar. Ich kann nachempfinden, was sie umtreibt. Dass ich die auch nicht gegen die Wand fahren lasse, dass ich mich nicht über sie lustig mache, dass mir die einfach wichtig sind.
Pollmer: Ich finde es total wichtig, dass es solche Bücher wie das von Lukas gibt, die den Heimatbegriff dekonstruieren. Wenn man diesen Begriff nicht dekonstruiert, dann bleiben die auf dem Spielfeld, die ihn besetzen wollen und die riechen meistens komisch. Für mich als jemand, der sich nicht immer sicher ist, wer er ist und wo er hingehört, ist es total wichtig, ständig nach Heimat zu suchen, nach diesen Gefühlen, die Heimaten auslösen können. Und die finde ich garantiert nicht im Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“, sondern viel eher in der Baugrube. Ein Beispiel ist für mich der Neumarkt in Dresden, der für mich an dem Tag als Ort verloren ging, an dem dort kein Schuttberg mehr zu sehen war. Ich halte es für einen wichtiges Streben nach Versöhnung, dass die Frauenkirche wieder steht. Aber dieser Ort und der Neumarkt davor haben nichts mehr mit mir im Sinne meiner Biografie zu tun. Da ist jetzt ein Augustiner Brauhaus, das mochte ich selbst in München nicht.
Sie nähern sich der Idee Heimat aus zwei unterschiedlichen Richtungen: aus einer eher Positiven, das Gute Suchende, und aus einer das Negative erklärenden. Wie haben Sie zusammengefunden?
Pollmer: „Heut ist irgendwie ein komischer Tag“ ist auch eine Verteidigung meiner Heimat, weil ich so müde war, immer nur lesen und auch erleben zu müssen, was Schlimmes bei uns passiert. Ich will dieses Negative gar nicht negieren, es passiert ja wirklich. Da ist aber auch anderes und diesem anderen Platz zu geben, das war die Idee hinter dem Buch. Ich weiß noch, als Lukas und ich uns das erste Mal getroffen haben, das war gleich wie so ein begehbarer Podcast, weil ich sofort dieses Gefühl hatte, dass wir über Ähnliches nachdenken, aber nicht in diesem stumpfen Sinne, dass wir alles auch gleich beurteilen würden. Ganz konkret erinnere ich mich, wie wir mit dem Auto durch die Lausitz fuhren, es lief „Zauberland ist abgebrannt“ von Dendemann, das hat sehr gut gepasst. Wir haben über Medien gesprochen und darüber, dass heute alle dauernd live sind und da hat Lukas irgendwann gesagt: Alle reden und keiner hört mehr zu. Und mit uns war eben das gleich anders, wir haben einander zugehört.
Rietzschel: Es gab einen Zeitpunkt nach Erscheinen von „Mit der Faust in die Welt schlagen“, da waren extrem viele Journalisten in Görlitz. Irgendwann war von Cornelius die Anfrage im Mailfach und ich dachte, ich habe langsam keine Lust mehr. Ich hatte mir fest geschworen, dass ist jetzt das letzte was ich mache und dann ist irgendwann Feierabend. Ich nerve mich ja auch selbst irgendwann, wenn ich nur wiederhole und die ganze Zeit sende und der andere wartet auf die Knackpunkte und die werden dann notiert und die gibt's dann als Zitat irgendwo. Ich lese das gar nicht mehr, weil es mich einfach irgendwann wirklich anödet. Ich hatte bei Cornelius aber nicht den Eindruck, dass er nur das Klassische hören will, sondern dass er auch selber dazu eine Haltung und eine Meinung hat. Er hat viel von sich erzählt und auch von seinem Buch und den Momenten, in denen er zweifelt. Ich hatte das Gefühl, wir sind hier nicht in der Rolle Autor und Interviewer. Das war eine der wenigen Interviewsituationen nach denen ich nicht ermüdet war. Für mich war das ein schöner Tag, auch wenn es extrem kalt war. Kurz darauf, knapp zwei Monate später, im März haben wir uns wieder gesehen bei der Veranstaltung zur Kulturhauptstadt-Bewerbung von Dresden. Wir hatten einen tollen Abend. Irgendwann sind wir auf den Trichter gekommen, dass wir einen Podcast aufnehmen sollten. Ich fand, das ist das Letzte, was die Welt noch braucht. Aus dem Podcast ist dann nichts geworden. Geblieben ist die gemeinsame Lesung. Das probieren wir aus und schauen, wie sich das trägt.
Was erhoffen Sie sich von der Lesereise?
Pollmer: Ich finde es viel aufregender, in Borna oder in Annaberg zu sein, als in Chemnitz oder in Dresden. Das sind Städte, in denen ich länger nicht war, in denen ich vielleicht auch noch nie war und wenn doch, dann viel zu kurz. An Orten, wo man sonst nur vorbeifährt, mal eine Nacht zu verbringen, mal in einer Kneipe zu sitzen, auch mal ein paar andere Farben Sächsisch zu hören, finde ich total gut. Und wenn ich überlege, wo in den vergangenen Jahren ich Nächte und Tage verbracht habe, die ich nicht als gut oder sehr gut, sondern als sensationell einstufen würde, dann war das in Schwarzenberg, in Mühlhausen, in Deutschneudorf. Bei mir ist das eine bedingungslose und auch verschwenderische Neugier, die sich über alles, was sie am wenigsten kennt, am meisten freut.
Rietzschel: In Annaberg haben wir immer unseren Winterurlaub gemacht mit der Familie. Es hat auch etwas Nostalgisches, wieder diese Orte zu besuchen, und zu sehen, wie sie sich entwickelt haben. Selbst wenn ich die Sächsische Zeitung lese, selbst wenn ich den Annaberger Teil der Freien Presse irgendwie abonniere, habe ich natürlich nicht den Eindruck davon, was in der Stadt gerade passiert. Während einer Lesung ist es schon so, man sendet sehr viel und man gibt auch sehr viel. Ich bin danach echt fertig vom vielen Reden und Denken und Sätze im Kopf vorformen. Dann in den Orten noch einmal etwas anderes zu sehen, etwas aufzusaugen und die Möglichkeit zu haben, mit dem Publikum zu interagieren und so zu erfahren wie es den Menschen dort geht, interessiert mich einfach. Ich glaube, wenn man den Leuten so begegnet, ist es sowieso immer am besten.