Lange Zeit hat man Hass und Hetze in den sozialen Medien als relativ unpolitisches und rein virtuelles Problem behandelt. Viele ihrer Ausdrucksformen – so die sprachliche Verrohung und Enthemmung – betrachtete man quasi als natürliche, wenn auch lästige Begleiterscheinung einer technologischen Modernisierung, die anonyme und impulsive Interaktionen en masse ermöglicht. Die Algorithmen, die nun unseren Blick auf die Welt anleiten, wirkten lange wie eine zweite Haut, die sich über die Gesellschaft spannt. Jeder schien nun selbst verantwortlich für die Inhalte, mit denen er unter ihrer Ägide interagiert. Von der Verantwortung der Tech-Unternehmen, die mit der technischen Kuratierung dieser Interaktionen einhergeht, war zunächst kaum die Rede. Abgesehen von Maßnahmen gegen Online-Kriminalität und jugendgefährdende Inhalte galten staatliche Eingriffe eher als unangemessen.
Dementsprechend wollte man den Gefahren der Digitalisierung von sowohl staatlicher als auch zivilgesellschaftlicher Seite zunächst mit der Förderung von Medienkompetenz begegnen. Und mit dem digitalen Engagement von Demokraten, die die Herausforderung eines veränderten politischen Wettbewerbs annehmen müssten. So wie die Bürger generell zur digitalen Zivilcourage aufgerufen waren. Ausdruck solcher Bemühungen sind etwa zahlreiche Angebote in der politischen Bildung, die einerseits "Online-Radikalisierung" vorbeugen und andererseits im Umgang mit Hassrede im Netz schulen sollen. Hierzu zählen auch zivilgesellschaftliche Initiativen, die "digitale Straßenarbeit" betreiben, über Fake News aufklären und Online-Kampagnen gegen rechts organisieren.
Bedingungen demokratischer Gegenrede
Zur wichtigsten Handlungsform der Projekte gegen Rechtsextremismus im Netz hat sich daher die sogenannte Gegenrede entwickelt. Darunter versteht man, grob gesagt, jegliche Form der Kommunikation, die sich gegen rechtsextreme Propaganda im Allgemeinen und Hassrede im Besonderen richtet. Sie kann darin bestehen, konkreten Inhalten zu widersprechen – sei es durch die Erwiderung von Fakten, sei es durch Gegentrolling oder darin, die Erzählungen der extremen Rechten herauszufordern – durch Gegennarrative, die die rechtsextremen Erzählungen entblößen, oder durch alternative Erzählungen, die eine andere Sichtweise auf bestimmte Probleme bieten.
Mag die Gegenrede als das wichtigste Instrument im virtuellen Kampf gegen rechts gelten, so lässt sich nur schwer etwas über ihre Effektivität aussagen. Der anhaltende Zuspruch für rechtsextreme Akteure in den sozialen Medien lässt zumindest erahnen, dass sie allein nicht ausreicht, um ihnen ernsthaft Einhalt zu gebieten. Trotz der verstärkten Bemühungen gegen Propaganda und Manipulation im Netz – einschließlich der zahlreichen Faktenchecker-Dienste, die sich generell gegen Falschmeldungen richten – erweist sich beispielsweise die Klientel der AfD als in hohem Maße resistent gegen faktenbasierte Argumente. Ja, sie sieht die wahren Faktenchecker vielmehr in den Organen der eigenen Partei, aber auch in den rechtsextremen Alternativmedien und Influencern.
Um diesen Akteuren eine effektive Gegenrede entgegenzusetzen, müssen Informationen und Botschaften so aufbereitet werden, dass sie auch tatsächlich eine positive Wirkung haben. Das kann natürlich nicht bedeuten, der extremen Rechten nachzueifern, die das Publikum systematisch täuscht. Ein gewisser Pragmatismus aber, der eine Flexibilität in Auftreten, Ansprache und der Sprache selbst erlaubt, scheint unumgänglich, wenn die emotionalisierten Gemüter argumentativ abgeholt werden sollen. Eine Gegenrede, die ihren Zweck darin findet, das vermeintlich moralisch Richtige zu sagen, ohne auf die wirklichen Folgen zu achten – der Soziologe Max Weber nannte das "Gesinnungsethik" –, läuft nämlich stets Gefahr, Abwehrreflexe auszulösen oder als Pappkamerad zu dienen, an dem sich rechtsextreme Online-Aktivisten abarbeiten können. Wo die Gegenrede keine dem Kontext angemessene Form und Sprache bieten kann, mag es sogar besser sein, ganz zu schweigen – um so wenigstens nicht die Sichtbarkeit rechtsextremer Inhalte zu erhöhen.
Unter solchen "verantwortungsethischen" Prämissen kann organisierte Gegenrede durchaus zur Stabilisierung demokratischer Diskurse beitragen. Sei durch Gegen- oder alternative Narrative, sei es durch koordinierten Online-Aktivismus oder taktisches Moderationsverhalten, sei es durch das strategische Auftreten demokratischer Institutionen oder zivilgesellschaftlicher Akteure. Allerdings hat die demokratische Gegenrede Grenzen, wenn nicht sogar einen Nachteil gegenüber dem rechtsextremen Online-Aktivismus. Denn wo rechtsextreme Akteure von den neuen Manipulationsmöglichkeiten exzessiv Gebrauch machen können, verbieten sich diese für Demokraten weitgehend. Gewiss, auch sie streben häufig nach Geltung oder gar Macht, wobei sie mal mehr, mal weniger Vereinfachungen und Täuschungen anwenden. Ein systematischer, ja perfider Gebrauch der angstverstärkenden, postfaktischen und metrisch-manipulativen Mechanismen findet aber, wie sich klar feststellen lässt, vor allem auf der Seite der extremen Rechten statt.
Demokratische Akteure hingegen, die an Stabilität, Kontinuität und Verständigung, ja an einem aufgeklärten Diskurs insgesamt interessiert sind, können von den vielfältigen technischen Möglichkeiten, die soziale Medien für Manipulationen bereithalten, nicht – zumindest nicht im selben Maße – Gebrauch machen. Andernfalls würden sie ihre Werte verraten und demokratische Standards unterlaufen, die ja nicht nur für Wahlvorgänge, parlamentarische Abläufe und Regierungstätigkeiten gelten, sondern auch dafür, wie man den Diskurs führt. In der Tat sieht sich der digitale Antifaschismus mehreren Dilemmata gegenüber, die nicht nur die Integrität demokratischer Akteure betreffen, sondern die Substanz der Demokratie selbst.
Dilemmata demokratischer Gegenrede
Zuallererst befinden sich demokratische Akteure in einem Polarisierungsdilemma. Für sie kann es kaum opportun sein, ihrerseits die politischen Emotionen anzukurbeln, mit denen die extreme Rechte in den sozialen Medien die Gesellschaft spaltet, um ihre illiberale Politik in Gang zu bringen. Gerade rechtsextreme Bedrohungsnarrative weisen bestimmten Gruppen nicht nur eine Schuld an Missständen zu, sondern erklären sie auch zu einer existenziellen Gefahr, die eine kompromisslose Frontstellung verlangt. Damit sind diese Erzählungen nicht nur gefährliche Rede, weil sie zu Gewalt gegen jene Gruppen anregen. Sie gefährden damit auch die Demokratie, insofern sie das demokratische Prinzip der Verständigung aushebeln.
Zwar gibt es durchaus Ängste, die auch von demokratischen Erzählungen adressiert werden, doch sind diese emotional nicht so wirkmächtig. Was etwa die Gefahr des Klimawandels angeht, mobilisieren hier durchaus auch Demokraten mit Ängsten. Allerdings ist diese Gefahr relativ abstrakt und vielschichtig, sodass sich kein klares Feindbild aufdrängt, angesichts dessen die Gemeinschaft zusammenrückt. Vielmehr wird die Schuld häufig in den eigenen Reihen gesucht, ja sogar bei jedem Einzelnen. Konkreter ist da schon die Bedrohung des Rechtsextremismus selbst. Er lässt sich eher mit spezifischen Akteuren verbinden und stellt für einige eine akute Lebensgefahr dar. Und doch lässt sich gegen ein solches Feindbild nicht so einfach Hass mobilisieren wie etwa gegen vermeintlich Fremde, wo die identitäre Distanz oft eine größere ist. Damit fehlt Demokraten ein Mittel der emotionalen Mobilisierung, mit dem die extreme Rechte erfolgreich in den sozialen Medien agiert.
Ein weiteres Problem in der strategischen Interaktion stellt das Wahrheitsdilemma dar. Es verbietet sich für Demokraten nämlich auch, gezielt Fake News zu streuen, die Menschen, die sie erreichen wollen, also zu desinformieren und zu desorientieren. Das widerspräche den demokratischen Prämissen, die nach mündigen und aufgeklärten Bürgern, aber auch nach Verständigung über Fakten und Wahrheiten verlangen. Gerade die rechtsextremen Erzählungen von Verschwörung und Verrat untergraben jedoch das Vertrauen in demokratische Institutionen und Verfahren. Zugleich sabotieren sie eine ausgewogene Meinungsbildung, da sie die Rezipienten von tendenziösen Informationen abhängig macht. Dies wiederum beeinträchtigt die Fähigkeit zu Dialog und kritischem Nachdenken, da es den Korridor von als möglich empfundenen Wahrheiten verengt und gegenteilige Ansichten der Lüge verdächtig macht.
Zwar erheben auch demokratische Akteure stets einen Wahrheitsanspruch, doch ist ihnen (im Idealfall) eine Denkweise eigen, die in Betracht zieht, dass der eigenen Position potenziell ein Irrtum zugrunde liegen könnte – und dass es andere legitime Sichtweisen auf ein Problem geben kann. Bei aller Leidenschaft für das eigene Programm: Der politische Gegner ist in einer demokratischen Kultur doch so weit wertzuschätzen, dass er nicht in die Rolle des Feindes gedrängt wird. Der "Infokrieg" der extremen Rechten, die unmittelbar auf die Durchsetzung der eigenen Politik abzielt – mit allen unkonventionellen Mitteln –, ist daher ein asymmetrischer, weil Demokraten nicht dieselben Waffen nutzen können.
Schließlich stehen demokratische Akteure noch vor einem Mobilisierungsdilemma. Denn auch die naheliegende Option, dem digitalen Faschismus mit einem verstärkten Online-Aktivismus die Stirn zu bieten, hält Fallstricke bereit. Zum einen tragen, ganz konkret, auch kritische Reaktionen auf rechtsextreme Inhalte in der Interaktionsökonomie der sozialen Medien zur besseren Sichtbarkeit ebenjener Inhalte bei. Zum anderen dürfte, ganz allgemein, eine digitale Mobilisierung der liberalen Öffentlichkeit im Kampf um die Metriken in den sozialen Medien ein politisches Wettrüsten im Online-Aktivismus nach sich ziehen. Wenn nun, wie neuerdings zu beobachten, auch das linksliberale Lager stärker zu Schwarmhandlungen übergeht, muss man damit rechnen, dass auch die Gegenseite eine Schippe drauflegt. Und käme es gar zur Übernahme jener Methoden, wie sie den rechtsextremen Online-Aktivismus auszeichnen (einschließlich der Nutzung von Bots und Doxing-Techniken), würde das die Demokraten selbst zu Manipulatoren machen.
Dem guten Willen zum Trotz kann also demokratische Gegenreden selbst Schaden an der Demokratie anrichten. Und das nicht nur dann, wenn sie selbst die aufklärerischen Werte verletzt. Denn je mehr sich der politische Wettbewerb ins Digitale verlagert, desto größer wird der Zwang auf alle, von den persuasiv-manipulativen Möglichkeiten Gebrauch zu machen. Überhaupt begünstigen die sozialen Medien mit ihren auf Informationshäppchen ausgelegten Kommunikationsformen simplifizierte Botschaften und emotionalisierte Laienmeinungen, sodass die Qualität des demokratischen Diskurses abnehmen dürfte – und das obwohl eine zunehmend komplexe Welt das Gegenteil verlangt. Nicht zuletzt steht zu befürchten, dass im politischen Wettstreit noch weniger als zuvor das Argument zählt, sondern stattdessen – neben identitären Kriterien – eine vermeintlich numerische Masse, die noch nicht einmal repräsentativ für die tatsächlichen Mehrheitsverhältnisse sein muss. Auch metrische Ansätze zur Unterstützung der Gegenrede sind daher für Demokraten mit Vorsicht zu genießen.
Maik Fielitz ist wissenschaftlicher Referent am Institut für Demokratie und Zivilgesellschaft (IDZ) in Jena und Non-Resident Fellow am IFSH. Er hat Politikwissenschaft, Geschichte und Friedens- und Konfliktforschung an den Universitäten Jena, Marburg und Athen studiert.
Holger Marcks ist Sozialwissenschaftler. Er arbeitet am Institut für Friedensforschung und Sicherheitspolitik an der Universität Hamburg, wo er zu Propaganda und Mobilisierung in der virtuellen Welt forscht.
Dieser Beitrag beruht auf dem Kapitel "Das erneuerte Paradox der Toleranz. Auswege aus dem digitalen Faschismus" des Buchs: "Digitaler Faschismus. Die sozialen Medien als Motor des Rechtsextremismus."
Mehr zum Thema erfahren Sie bei unserem Online-Fachtag "Gegen Hass im Netz. Digitale Zivilcourage - Bildung - Beratung - Strafverfolgung" am Dienstag, dem 1. Juni 2021, ab 9:00 Uhr.