Was das für die EU bedeutet, haben in einer Doppelfolge der Online-Livedebatten am 1. und 2. Juli Ulrich Brückner, Professor for European Studies am Berliner Center der Stanford University, und Korbinian Frenzel, Journalist bei Deutschlandradio Kultur, diskutiert. Die schrittweise Grenzschließung im März habe er aus einer ersten Schockreaktion nachvollziehen können, sagt Journalist Frenzel. Es sei auf wenige Tage angekommen, in denen man das Richtige tun musste. "Ich habe aber gleichzeitig gedacht: Kriegen wir das wieder eingefangen?" Europäische Errungenschaften, die über viele Jahrzehnte erarbeitet wurden, seien innerhalb kurzer Zeit vom Tisch gefegt worden. Besonders die Alleingänge der Nationalstaaten hätten das Vertrauen in die europäische Integration erschüttert, vor allem in den stark betroffenen Ländern Italien und Spanien. Man könne darüber streiten ob die Grenzschließungen virologisch sinnvoll waren. "Aber als es diese Nachrichten gab, dass es einen Exportstopp von Schutzausrüstung und Mundschutz geben soll, war das für mich der stärkere Moment der Enttäuschung."
Politikwissenschaftler Brückner sieht die Situation weniger dramatisch. "Ich fand völlig überzogen, wie auf die Grenzkontrollen reagiert worden ist." Im Schengen-Abkommen sei festgelegt, dass man bei Notlagen die Grenzen schließen kann. "Wir haben das rauf und runter erlebt bei Terroranschlägen, oder bei Hooligans, die während der Europameisterschaft in Länder einreisen wollten." Zudem gebe es bei der Bewertung innereuropäischer Grenzkontrollen einen Doppelstandard. "Niemand würde im Traum darauf kommen zu sagen, es sei das Ende der Bundesrepublik, wenn einzelne Landesregierungen entscheiden, ihre Grenzen zu schließen." Die Schlussfolgerung, die europäischen Grenzkontrollen seien der Anfang vom Ende, sei "eine völlige Verkennung dessen, worum es in Europa geht und wie das ganze gebaut ist." Bei den internen Gefahren der EU müsse vielmehr Populismus auf Platz eins stehen. Frenzel, der selbst bei Brückner studiert hat, hofft auf die Erkenntnis, dass die Union nun enger zusammenrückt. "Es deutet einiges darauf hin, dass wir in der europäischen Integration ein paar Schritte nach vorne springen müssen, sonst kann dieses Projekt nicht gelingen."
Ökologisch und ökonomisch begründbar
Welche wirtschaftspolitischen Fragen die Coronakrise aufwirft, haben die Experten im zweiten Teil am 2. Juli mit dem Publikum diskutiert. "Die Grundkonstruktionsprobleme des Euro bleiben weiterhin bestehen", fasst Frenzel den Status Quo zusammen: "Wir haben eine gemeinsame Währung, aber keine gemeinsame Wirtschaftspolitik." Es werde sich zeigen, ob die wirtschaftlichen Rettungsmaßnahmen, die nun getroffen wurden, der EU eine neue Währungskrise ersparen. Auf die Zuschauerfrage, ob die Rettungspakete nicht aussichtslose Wirtschaftszweige am Leben erhalten, sind Frenzel und Brückner uneins: zwar habe man die Hilfen an Klimaschutz- und Digitalisierungsziele gekoppelt, aber eben auch an das auslegbare Kriterium der "Widerstandsfähigkeit der europäischen Union". "Da ist natürlich die Frage, ob man Dinge künstlich am Leben erhält, die ökonomisch oder ökologisch betrachtet keine Zukunft haben oder haben sollten", so Frenzel. Brückner sieht das Problem eher darin, dass notleidende Länder nicht genügend Projekte und Möglichkeiten haben könnten, das EU-Geld auch abzurufen. "Solche Projekte oder Unternehmen, die etwas beitragen können zur Digitalisierung oder zum ökologischen Umbau, wachsen ja nicht auf den Bäumen." Problematisch seien eher die nationalen Programme. "Wenn Deutschland allein über tausend Milliarden ausgibt, um einen Wiederaufschwung zu organisieren, wird es eine ganze Reihe an Zombieunternehmen geben, die mit Geld beworfen werden, weil sie nicht schnell genug auf den Bäumen sind". Daher müsse sehr genau geschaut werden, ob das jeweilige Programm wirklich ökologisch und ökonomisch begründbar sei.
Ein Mitschnitt der Diskussion vom 2. Juli ist auf unserem YouTube Kanal verfügbar.
Bis zum 17. Juli veranstaltet die SLpB Online-Bürgerdebatten, in der die Menschen im Freistaat aufgerufen sind, mit Fachleuten über die Folgen der Coronakrise zu diskutieren. Weitere Informationen finden Sie hier.