Rhetorische Pflastersteine
Die Debattenlage über die Ostdeutschen und die Demokratie ist mit rhetorischen Pflastersteinen belegt, die sich gut im verbalen Affekt auf den jeweiligen Gegner schmeißen lassen. Einige Beispiele: Die Hamburger Morgenpost titelte zu Sachsen „Der Schandfleck“, der Spiegel ließ bei einer Titelgeschichte das Wort Sachsen ins Braune verlaufen und der westsächsische CDU-Bundestagsabgeordnete Marco Wanderwitz sieht viele Menschen im Osten, „in einer Form diktatursozialisiert, dass sie auch nach dreißig Jahren nicht in der Demokratie angekommen sind.“ Ein Teil der (ostdeutschen) Bevölkerung habe „gefestigte nichtdemokratische Ansichten“; man könne darum nur „auf die nächste Generation“ hoffen, so Wanderwitz.
Die sächsische Sozialministerin Petra Köpping (SPD) sieht die Abkoppelung vieler Ostdeutscher vom bisherigen politischen Konsens in der Nichtanerkennung ihrer Lebensleistung begründet, wobei nicht immer klar ist, was damit genau gemeint wäre – und ob diese Anerkennung materiell oder nicht materiell erfolgen solle. Die Bundesregierung veröffentlicht regelmäßige Berichte zum „Stand der inneren Einheit“, die nicht mehr als ein kurzes Medienecho hervorrufen.
Der Görlitzer Soziologe Raj Kollmorgen und der Leipziger Journalist Olaf Jacobs analysieren die Privatisierung der ehemaligen volkseigenen Betriebe und stellen durchaus kritisch die fortbestehende Dominanz westdeutscher Eliten in den neuen Bundesländern fest. Die Journalistin Jana Hensel und der Kultursoziologe Wolfgang Engler wiederum versuchen die besondere Situation – sie nennen es, die „Erfahrung, ostdeutsch zu sein“ – umzudrehen und die Ostdeutschen zur gesellschaftlichen Avantgarde zu erklären. Dazu passt die wiederholt geäußerte These, dass der Osten eine Art „Labor“ gesellschaftlicher Zukunftsentwicklungen und der damit verbundenen Diskurse ist, sein kann, sein könnte.
Und schließlich, um nicht den Elefanten im Raume stehen zu haben, artikulieren sich Unwillen, Protest, enttäuschte Erwartungen und Pessimismus, Systemzweifel und non-konforme politische Haltungen in einem intensiven Demonstrationsgeschehen und einem Wahlverhalten, das in allen ostdeutschen Bundesländern, aber mittlerweile auch in den westdeutschen Flächenländern eine Partei binnen eines Jahrzehnts wachsen ließ, die vom sächsischen Verfassungsschutz nun als gesichert rechtsextrem eingeschätzt wird und dennoch das Potential hat, bei den drei kommenden ostdeutschen Landtagswahlen die jeweils höchsten Stimmenanteile zu gewinnen. Ich spreche von der AfD.
Kurz und gut: Das Thema ist weit, es berührt sehr viele Befindlichkeiten, die sich oft, viel zu oft, in einem Narrativ niederschlagen, dem zufolge der Osten sich als Opfer des Westens und der Strukturfehler der Wiedervereinigung begreift – interessanterweise: sehr viel weniger als Opfer der DDR oder gar zweiter Diktaturen. Dem zufolge die Ostdeutschen sich als Bürger und Bürgerinnen zweiter Klasse verstehen, und sie deshalb aus westlicher Sicht zu Störenfrieden der bundesrepublikanischen politischen Kultur werden. Diese Sonderlinge, so die westliche Perspektive, hat man über Jahr mit Subventionen gefüttert und bekommt als Dank nur Unfriede und Zorn zurück.
Damit könnte ich nun auch schließen, Sie hätten alle die Ihnen bekannten und oft diskutierten Thesen gehört – und ich bin mir sicher, Michael Bartsch hätte Freude und Lust daran, diesen Diskurs scharfzüngig auseinanderzunehmen oder gar noch auf die Spitze zu treiben. Danach würden wir uns heute Abend Anekdoten aus unseren Biographien erzählen – und bestätigen, was schlecht oder auch was besser gelaufen wäre. So oder ähnlich spielen sich die meisten Dresdner Debatten ab. Immerhin wären wir dann jetzt fertig, und ich würde Ihnen nicht noch 20 Minuten Vortrag zumuten. Aber ehrlich gesagt: Darauf hätte ich jetzt keine Lust – und ich vermute, meine Gastgeber und Sie auch nicht.
Drei Thesen
Ich stelle im Folgenden drei Thesen auf, die ich mit Datenmaterial belegen möchte.
1. Das Verhältnis der Ostdeutschen zur Demokratie ist kein ostdeutsches, sondern ein gesamtdeutsches Thema. Die Schwäche der großen Parteien und der Aufstieg der AfD haben zwar vor allem in Ostdeutschland, aber mittlerweile in ganz Deutschland zur Störung des eingespielten Gleichgewichts der politischen Lager geführt. Dies hat machttaktische Konsequenzen und führt regelmäßig zu inhaltlich dysfunktionalen Regierungen. Diese wiederum suchen den kleinsten gemeinsamen Nenner, was zu Repräsentationslücken führt, die wiederum von populistischen Parteien gefüllt werden.
2. Der Aufstieg des Populismus ist vielmehr ein europäisches und internationales Phänomen. Deutschland ist ein Nachzügler dieser Entwicklungen. Der aus Ostdeutschland nahe Blick nach Polen und Ungarn zeigt allerdings, welche Gefahren und auch welche Grenzen der Aufstieg des Populismus hervorbringt.
3. Die wirtschaftliche Entwicklung der neuen Bundesländer, der Aufbau des Wohlstandes und der wohlfahrtsstaatlichen Absicherung sollte eigentlich ein Grund zum Stolz und zur Selbstachtung sein könnte, ist es merkwürdigerweise aber nicht. Wirtschaftliche Strukturfragen müssen allerdings in den Blick genommen werden, damit sich Wirtschaft in den kommenden Jahren positiv entwickeln kann. Die demographische Entwicklung in Ostdeutschland ist und bleibt dagegen ein Grund zur Sorge und dürfte zu einer Abbremsung der guten Entwicklungen führen, ebenso der sich verstärkende Gegensatz zwischen Stadt und Land. Gegensteuern ließe sich hier nur durch gezielte Anwerbung von ausländischen Fachkräften – ein Ziel, das aber wiederum auf eine migrationsskeptische bis migrationsfeindliche Gesellschaft trifft. Kein anderes Thema besitzt ein derartiges politisches Mobilisierungs- und Spaltungspotential wie Migration.
Einstellungen zur Demokratie – am Beispiel Sachsens
Eines der großen und soliden Instrumente der Einstellungsforschung ist der Sachsen-Monitor. Im Auftrag der Staatsregierung fragt das Meinungsforschungsinstitut infratest dimap alle zwei Jahre nach den Einstellungen der Sächsinnen und Sachsen zur persönlichen Zufriedenheit, zur gesellschaftlichen Lage, zur Demokratie und zu Ressentiments gegenüber Minderheiten etc.
Die Teilnehmenden des Sachsen-Monitors 2021/22 wurde im letzten Corona-Winter 2021/22 befragt. Es gehört zu den überraschenden Ergebnissen, dass trotz der zeitweiligen strengen staatlichen Regeln die Zufriedenheit mit der Demokratie in Sachsensehr hoch ist: 91% der Sachsen halten die Demokratie für eine gute Regierungsform. Fragt man hingegen, wie die Bevölkerung die Umsetzung der Demokratieprinzipien findet, verändert sich das Bild etwas: 60% der Menschen sind zufrieden oder sehr zufrieden mit der Umsetzung der Demokratie. Fragt man nun genauer nach, welchen Einrichtungen Vertrauen oder Misstrauen entgegengebracht wird, so zeigt sich folgendes Bild: Großes Vertrauen gilt der Polizei mit 71%, den Oberbürgermeister- und Bürgermeisterinnen mit 64%, dem Bundesverfassungsgericht mit 62%. Der Landesregierung vertrauen 54%, der Bundesregierung nur noch 39 %.
Diese Ergebnisse gibt es übrigens überall: Je näher Politik und Verwaltung dem alltäglichen Leben sind, desto höher die Zustimmungswerte: daher bringen die Bürger und Bürgerinnen den Kommunen das höchte, der Europäischen Kommission im fernen Brüssel das geringste Vertrauen entgegen. Die Einstellungen der Sächsischen und Sachsen stellen hier keine Besonderheit dar.
Etwas anders ist es jedoch, wenn wir auf die untere Skala der Ergebnisse blicken: Hier rangieren im niedrigen 20%-Bereich die Parteien, die Kirchen und die Medien. Unter ihnen schneiden der Öffentlich-Rechtliche Rundfunk und die Tageszeitungen deutlich besser als die Sozialen Medien ab, auch wenn sie gerade für jüngere Menschen die bevorzugte Informationsquelle darstellen. Blickt man auf das innergesellschaftliche Vertrauen, also auf das Miteinander der Menschen, so fällt auf, dass auch das Misstrauens der Menschen untereinander zugenommen hat: 62 Prozent – sieben Prozent mehr als 2018 – sagen, „man kann nicht vorsichtig genug sein“, wohingegen nur noch 36 Prozent die Ansicht vertreten, dass den meisten Menschen vertraut werden könne.
Ebenfalls besorgniserregend sind die Einstellungen zur Partizipation in der Demokratie, die ein Einfallstor für den Populismus sind: Hohe Zustimmungswerte, nämlich zwischen 60-70%, erzielen im Sachsen-Monitor formulierte Auffassungen wie „Leute wie ich haben keinen Einfluss auf die Politik“, „Deutschland hat keine echte Demokratie, da die Wirtschaft und nicht die Parlamente das Sagen haben“ oder die Behauptung, dass die freie Meinungsäußerung eingeschränkt sei.
Demgegenüber haben die Sachsen eine große Erwartung an die direkte Demokratie. Auffällig ist der hohe Zustimmungswert von 58 Prozent zu der demokratie- und rechtsstaatsfeindlichen Aussage, „wenn die Mehrheit des Volkes etwas fordert, dann sollte das von der Politik auch umgesetzt werden – egal was Gerichte, Parlamente oder das Grundgesetz dazu meinen“.
Stabil hoch sind die sächsischen Ergebnisse im Blick auf Ressentiments und diskriminierenden Einstellungen. So muss konstatiert werden, dass diese deutschlandweit und besonders in Sachsen weit bis in die Mitte der Gesellschaft verbreitet sind. Das gilt für die Ausländerfeindlichkeit und die Muslimfeindlichkeit. Populistische Haltungen, die auf einen scharfen Gegensatz zwischen dem „einfachen Volk“ und einer elitären politischen Gruppe abzielen, finden in einem beachtlichen Teil der sächsischen Bevölkerung ein Echo. Die Zustimmung zur Aussage „Was Deutschland jetzt braucht, ist eine einzige starke Partei, die die Volksgemeinschaft insgesamt verkörpert“ ist mit 36 Prozent hoch. Zudem meinen 35 Prozent der sächsischen Bevölkerung, dass es in einer Demokratie auf die Rechte der Mehrheit ankomme und in Deutschland zu viel Rücksicht auf die Rechte von Minderheiten genommen werde. Beide Aussagen offenbaren eklatante Defizite im Verständnis zentraler Prinzipien der demokratischen Grundordnung.
Wichtig für unsere Betrachtungen ist das Thema Vertrauen deshalb, weil ohne Vertrauen in die Mitmenschen und in Institutionen eine Demokratie nicht gelingen kann. Internationale Vergleichsstudien zeigen, dass Diktaturerfahrung Auswirkungen auf die Herausbildung von persönlichem und gesellschaftlichem Vertrauen hat – und dass die Zerstörung oder Störung von gemeinschaftsbildenden Großorganisationen wie den Kirchen, den Gewerkschaften, der freien Presse nachhaltige Folgen auf die Herausbildung von Vertrauen hat. Im europäischen Kontext schrumpfen Vertrauenswerte von Holland über Westdeutschland, Ostdeutschland, Ost-Mitteleuropa bis nach Belarus und Russland. Die sächsischen Werte sind in diesem Kontext zu verstehen.
Vom Populismus zur Systemkritik
Der Osten Deutschlands und dessen politische Kultur ist durch ein hohes Maß an innerer Zerrissenheit geprägt. Manche Konflikte reichen bis in die Zeit der gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Transformation der 1990er Jahre zurück. Hinzu treten gesellschaftlich-emotionale Prägungen, die in der DDR-Zeit ihren Ursprung haben. Dazu kommen der Aufstieg des Rechtspopulismus bzw. des Rechtsextremismus und die Ablehnung von Migration bzw. die starken Ressentiments gegenüber Ausländern und Migranten und Migrantinnen. Sie stehen in Wechselwirkung zu dem intensiven Migrationsgeschehen in den Jahren 2015-2016 und auch zu den politischen Reaktion auf die Ausbreitung des Coronavirus ab 2020.
Viele Forscher sprechen im Blick auf das Erstarken des Rechtspopulismus in Deutschland von nachholenden Effekten. Starke rechtspopulistische Bewegungen gibt es in Europa bereits seit den 1970er Jahren. Regional unterscheiden sich die Entwicklungen so, dass es in Mittelosteuropa ein Erstarken des Rechtspopulismus gab und gibt (PiS, Fidesz), während in Südeuropa der Linkspopulismus erblühte, etwa in Griechenland: „Koalition der Radikalen Linken“ (Syriza) oder Podemus („Wir können“) in Spanien.
Fragen wir uns, was es denn nun mit dem Populismus auf sich hat, so lässt sich von einem schillernden Begriff sprechen. Denn: Der Populismus kann im demokratischen Gewande erscheinen, ja förderlich für die Demokratie sein, wenn er als Mittel der Rhetorik Problemlagen zuspitzt, vereinfacht, um eine öffentliche Debatte anregen will. Das war schon immer so und diesen rhetorischen Populismus wird es auch immer geben.
Als politisches Gesamtkonzept ist der Populismus allerdings anti-demokratisch und anti-pluralistisch, wie der deutsch-amerikanische Politikwissenschaftler Jan-Werner Müller schreibt. Der Populismus erhebt einen „moralischer Alleinvertretungsanspruch“, er erscheint als anti-elitäre Kritik, er arbeitet stark mit dem Gegensatz: Volk gegen (korrupte) Elite. Damit verbunden sind Ausgrenzungsmechanismen: das Freund-Feind-Denken und der Opfer-Tätern-Gegensatz werden gepflegt. Gerne verbindet er sich, auch in Sachsen, mit der Forderung nach direkter Demokratie und einer Kritik am System der repräsentativen Demokratie.
Ähnlich wie gerade aus den Daten des Sachsen-Monitors abgeleitet, zeigt der Populismus eine hohe Institutionenfeindlichkeit, etwa gegenüber Verfassungsgerichten und Medien. Dass diese Einstellungen auch zu politischen Handlungen führen können, haben wir in Polen und Ungarn beobachten können. Populismus neigt zu Polarisierungen, Dramatisierungen und Verschwörungstheorien, bindet sich gerne an charismatische Führungspersönlichkeiten, die angeblich den Volkswillen verkörpern. In Sachsen und im gesamten Osten der Bundesrepublik, mittlerweile aber auch in Westdeutschland, hat der Populismus Wirkungen gezeitigt. Es ist ein politisches Milieu entstanden, dass allzu gerne aus berechtigten politischen Zweifeln und kritikwürdigen Sachfragen schnell die „Systemfrage“ stellt, wodurch die Demokratie gefährdet und extremen politischen Einstellungen Tor und Tür geöffnet wird.
Wie deuten wir nun diese Entwicklungen?
Die Herausbildung der politischen Kultur in den neuen Bundesländern hat zweifelsfrei mit der der Erfahrung der politischen und wirtschaftlichen Transformation von der DDR über die 1990er Jahre, die einsetzende Globalisierung und die multiplen Krisen der letzten 15-20 Jahre zu tun. Die ostdeutsche Gesellschaft hat einen harten Wandel von einer geschlossenen Gesellschaft in eine offene Gesellschaft erleben und verkraften müssen, in dem weder Staat noch Partei vorgeben, wie die Dinge zu bewerkstelligen sind.
Nach dem starren Korsett der sozialistischen Gesellschaft mit klaren Erwartungen an Mitgliedschaften in Partei, betrieblichen und gesellschaftlichen Organisationen ist die ostdeutsche Gesellschaft in den drei Jahrzehnten distanzierter mit Formen gesellschaftlicher Selbstorganisation umgegangen. Hinzu kommt der Prozess der Individualisierung, also die Auflösung gesellschaftlicher Strukturen, der Pluralisierung von Lebensstilen, der die gesamte westliche Welt seit 1960er und 1970er Jahren ergreift und nun in Ostdeutschland wie Ostmitteleuropa nachgeholt wird.
Der Neuaufbau gesellschaftlicher Strukturen benötigt Zeit und ist eine generationenübergreifende Aufgabe. So lag die Demokratiezustimmung in der Bundesrepublik Deutschland 25 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg bei einem ähnlichen Wert wie in den fünf östlichen Bundesländern 25 Jahre nach der Friedlichen Revolution. Zudem verlaufen individuelle und gesellschaftliche Prozesse vor unterschiedlichen Zeithorizonten. Während 30 Lebensjahre individuell eine relative lange Zeitspanne sind, sind sie historisch gesehen eine relative kurze Dauer. Es sind zwar mittlerweile die „blühenden Landschaften“ entstanden, und es hat sich die materielle Situation der Bürgerinnen und Bürger in den neuen Ländern wesentlich verbessert, aber der Wohlstand ist unterschiedlich verteilt und das Land weist längerfristig strukturelle Defizite auf.
Das führt zu enttäuschten Erwartungen, überhöhten Erwartungen, zu Vergleichen und zu realen Ängsten. Diese Trends produzieren Gewinner und Verlierer. Während die einen durch sozialem Aufstieg, größerer Entscheidungsfreiheit und einem ‚maßgeschneiderten‘ Lebensumfeld Vorteile gewinnen, sind andere Individuen oder Gruppen von der größeren Selbstverantwortung überfordert, haben Angst oder erleben wirtschaftlichem Abstieg. Sie suchen wiederum „Sündenböcke“, wofür sie nicht selten Ausländer, die ‚da oben‘ oder den Staat identifizieren.
Es handelt sich im Kern um Wohlstandskonflikte, um Verteilungskonflikte um wachsende, aber im Vergleich zu Westdeutschland weiterhin geringere Ressourcen, vielleicht zu Osteuropa allerdings deutlich größere Ressourcen. Ungeduld ist verfrüht, wenn man vergegenwärtigt, dass der nachholende Entwicklungsschub aufgrund der unterschiedlichen wirtschaftlichen Ausgangssituationen in Ost- und Westdeutschland Zeit braucht und Verunsicherungen normal sind.
Demographie und wirtschaftliche Entwicklung
Neben den bereits beschriebenen politischen und gesellschaftlichen Veränderungsprozessen, sorgt auch die demographische Entwicklung in Sachsen für deutliche Veränderungen in der Gesellschaft. Hierzu liefert die „Zweite Sozialberichterstattung für den Freistaat Sachsen 2022“ reichlich Material. Merkliche Differenzen gibt es zwischen den Großstädten und den ländlichen Regionen. Die großstädtische Zentren Dresden und Leipzig werden wachsen, langsamer altern, attraktive Jobs und ein vielfältiges Kultur- und Bildungsangebot vorhalten, weshalb sie vor allem für chancenorientierte Menschen attraktiv sein werden. Je weiter aber Landkreise von den Wachstumszentren entfernt sind, desto stärker minimieren sich diese Trends.
Sachsens dritte Großstadt Chemnitz und die acht anderen Landkreise werden deutliche Bevölkerungsverluste mit einer überdurchschnittlich alternden Gesellschaft und einem erkennbaren Rückgang der erwerbsfähigen Personen erleben, was Fragen für die wirtschaftliche Prosperität und Entwicklung dieser Regionen aufwirft. Um dies zu kompensieren, bräuchte es pro Landkreis (bis 2035) eine Zuwanderung von rund 20.000 Personen, idealerweise mit guter Berufsqualifikation. Dies wiederum dürfte gesellschaftliche Debatten hervorrufen.
Wie kann eine neue Männerpolitik aussehen?
Der Freistaat Sachsen – wie alle neuen Bundesländer - hat seit 1988 rund ein Fünftel seiner Bevölkerung verloren. Vor allem junge Menschen haben die Region verlassen, mehr Frauen als Männer. In den ländlichen ostdeutschen Gebieten beobachten wir seit den 1990er Jahren den massenhaften Weggang von Frauen im gebärfähigen Alter, einen deutlicher Männerüberhang, der in einzelnen Gebieten teilweise bis zu 40 Prozent beträgt. Wo nicht genügend junge Frauen leben, ist die Familiengründung schwierig, kann Frust und Perspektivlosigkeit wachsen. Männerpolitik ist zweifelsfrei ein Desiderat der ostdeutschen Geschlechterpolitik. Wer „kümmert“ sich um diese jungen Männer – gesellschaftlich, verbandlich, politisch? Welche positiven Erfahrungen können ihnen helfen, eine stabile Zukunftserwartung zu entwickeln?
Auch hier sind die sächsischen oder ostdeutschen Probleme keineswegs singulär, sondern europaweit und weltweit zu beobachten – vom Rust Belt in den USA bis zu den Dörfern in „Polen B“, wie man in unserem Nachbarland sagt, von den „la campagnie“ in Frankreich, die schön besungen wird, aber trotzdem Le Pen wählt, bis zum Ostharz. Schrumpfende Regionen erleben zudem in der Regel einen Abbau von Infrastrukturen.
Für das Gefühl, irgendwo beheimatet zu sein, braucht es Teilhabemöglichkeiten: erstens eine Wirtschaft, die Arbeitsplätze zur Verfügung stellt, zweitens Strukturen der Daseinsvorsorge vom Supermarkt über die Ärztin bis zu Kitas und Pflegeeinrichtungen, drittens kulturelle und gesellschaftliche Angebote wie Sport, Kirche, Kino, Chor, Bürgerinitiativen, in denen Menschen sich treffen, ihre Interessen pflegen und sich selbst organisieren können. Ist dieses Gleichgewicht gestört, können objektive und/oder gefühlte Probleme schnell in Zorn umschlagen.
Verlängerte Werkbank des Westens
Die Bevölkerungsentwicklung hat Auswirkungen auf die wirtschaftliche Entwicklung. Noch steht Sachsen diesbezüglich relativ stabil da. Doch die Überalterung der Bevölkerung kann – regional unterschiedlich – die wirtschaftliche Entwicklung abbremsen. Das ist deshalb keine gute Zukunftsperspektive, weil die ostdeutschen Länder auch über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung trotz eines sehr erfolgreichen Aufholprozesses weiterhin noch relativ strukturschwach dastehen. Durch den Beitritt zur Bundesrepublik und die flächendeckende Deindustrialisierung, der sich eine Reindustrialisierung mit einem markanten Wirtschaftswachstum anschloss, wurde der Osten Deutschlands wie der gesamte Osten Europas zur verlängerten Werkbank des Westens.
Es gehört meines Erachtens zu den – allerdings wenig überraschenden Strukturfehlern - der Wiedervereinigung, dass keines der großen Unternehmen seinen Firmensitz ab 1990 nach Ostdeutschland verlegte. Auch heute gibt es im gesamten deutschen Osten keine Konzernzentrale eines 40 großen DAX-Unternehmens. Lediglich mit Carl Zeiss Meditec und Jenoptik, beide in Jena ansässig, finden sich zwei Unternehmen im M-Dax. Das alles hat Nachteile für die Wirtschaftskraft der neuen Bundesländer, für die Steuerung von Unternehmen, für die Karrieren von Individuen, die eben in Zentralen gemacht werden, aber auch für die Gesellschaft als Ganzes, der potentielle Sponsoren, Spender und Stifter fehlen, die Kultur, Kunst, Zivilgesellschaft und Sport fördern. Diese wirtschaftliche Lage in Ostdeutschland hat wiederum Auswirkungen auf die Steuereinnahmen der Bundesländer. Die neuen Bundesländer werden auf absehbare Zeit weiter Nehmer-Länder im Länder-Finanzausgleich bleiben.
Dennoch ist viel geschehen: Das BIP pro Kopf in den neuen Bundesländern liegt noch immer deutlich über dem der ost-mitteleuropäischen Nachbarländer. Die Bundesrepublik liegt insgesamt bei 46.000 Euro BIP pro Kopf. Der europaweite Durchschnitt liegt bei 38.000 Euro. Schaut man sich die Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschland an, so liegt Westdeutschland etwa auf einem Niveau mit den Niederlanden und die ostdeutschen Länder rund um den EU-Durchschnitt, etwa auf einem Niveau mit Italien. Tschechien dagegen hat ein BIP von 25.000 Euro und Polen und Ungarn von 17.000, so dass man sich fragen kann, ob diese positive wirtschaftliche Entwicklung wirklich ein Grund zur Unzufriedenheit sein kann.
Demokratie und politische Selbstorganisation
In einer Demokratie hängt politischer Erfolg nicht nur von den besten Konzepten, feschen Slogans und attraktivsten Kandidatinnen und Kandidaten ab, sondern auch am Organisationsgrad und der Organisationsfähigkeit von Parteien, Verbänden, Gewerkschaften, Lobbygruppen und Vereinigungen.
Blickt auf den Organisationsgrad der Parteien in Ostdeutschland, so ist dieser - durch die Bank - als äußerst gering zu bezeichnen. Schauen wir auf die neuen Bundesländer, so gibt es ungefähr 30.000 Parteimitglieder in Sachsen, in den restlichen östlichen Bundesländern zwischen 22.000 in Brandenburg und 13.000 in Mecklenburg-Vorpommern. Im Stadtstaat Hamburg engagieren sich dagegen 25.000 Menschen parteipolitisch, in NRW, das ja ungefähr so viele Menschen wie ganz Ostdeutschland hat, 270.000.
Blicken wir exemplarisch auf Sachsen, sind die Zahlen ernüchternd: Die CDU hat noch rund 10.000 Mitglieder, die SPD 4600, die Linke etwa 6500, die Grünen etwas unter 3500 und die AfD ca. 2200. Sie ist unter organisatorischen Vorzeichen - nicht an den Wahlurnen - also ein Scheinriese.
Warum sind diese Zahlen wichtig? Weil sie a) ein Indikator sind, welche personellen Rekrutierungsmöglichkeiten eine Partei, b) wie breit sie in der Bevölkerung verankert ist und somit in der Breite der Gesellschaft wirken kann, aber auch c) welchen Einfluss ein Landesverband im bundespolitischen Kontext der jeweiligen Partei spielen kann.
Seien wir ganz nüchtern: Egal, ob nun CDU, SPD, Grüne oder FDP – die ostdeutschen Landesverbände in Summe haben einen schweren Stand, wenn sie ihre Delegierten auf Bundesparteitage schicken, um Entscheidungen oder Personal durchzusetzen. Bei der Linken und der AfD mag die Lage etwas anders sein. Wem es aber bereits innerparteilich nicht gelingt, große Trends zu setzen, dem wird dies bundespolitisch noch weniger gelingen.
Will der Osten im politischen Konzert der Bundesrepublik eine gewichtigere Rolle spielen, geht an einer besseren Selbstorganisation kein Weg vorbei. Laute Demonstrationen, wütende Bücher, Interviews, Events mögen in einer Medienwelt für Aufmerksamkeit sorgen. Für die nachhaltige Verbesserung des politischen Einflusses braucht es nicht ein Empowerment über Ostquoten, sondern den Willen zum persönlichen Engagement in Parteien – oder Verbänden oder Gewerkschaften etc.
Schaut man sich allerdings die Vertrauenswerte gegenüber Parteien und Politik im Allgemeinen, so könnten sie schlechter kaum sein. Hierin spiegeln also die Distanz zu politischen Organisationen nach erwarteter oder erzwungener Parteimitgliedschaft in Zeiten der DDR, aber ebenso die delikate Mischung aus überhöhten Erwartungen an Politik und den Staat, besonders den Versorgungsstaat, falsche oder vorschnelle Versprechungen von Politikern etc. Das Nicht-Engagement ist zudem ein Ausfluss der bereits beschriebenen Individualisierungsprozesse, die mir einem Rückzug ins Private und einem Unwillen, selbst gesellschaftliche Verantwortung zu übernehmen, einhergehen.
Was brauchen wir?
Trotz multipler Krisen und Herausforderungen hält die überwältigende Mehrheit der Ostdeutschen die Demokratie für eine gute Regierungsform. Der Rechtsstaat funktioniert in Ostdeutschland wie in Westdeutschland, die Wirtschaft floriert, die Gesellschaft ist im Kern intakt. Zugleich gibt es eine große Unzufriedenheit mit dem Funktionieren der Demokratie. Hinzutreten Verlustängste, etwa durch Strukturveränderungen im ländlichen Raum, schrumpfende tragende gesellschaftliche Großorganisationen wie Kirchen, Gewerkschaften, Parteien und sich entkoppelnde mediale Vermittlungswege samt einer wachsenden Skepsis gegenüber dem öffentlichen Rundfunk. Diese Trends verstehen offenkundig rechtspopulistischen Bewegungen und Parteien besser als traditionelle Parteien auszunutzen.
Wir brauchen:
Erstens einen Konsens und ein breites Engagement zur Stärkung der Demokratie
Zweitens klarte Debatten ohne Umschweife, die Populismus auch Populismus nennen ebenso wie klare Debatten, die ohne moralische Vorverurteilungen nach rechts wie links an belastbaren Zukunftslösungen arbeiten.
Drittens: Mehr Engagement in Parteien, Verbänden, den Kirchen und Gewerkschaften, denn ohne mehr ostdeutsche Selbstorganisation wird der ostdeutsche Einfluss in Gesamtdeutschland nicht wachsen.
Viertens: Eine Renaissance und mehr Entscheidungsmacht für die Kommunen, weil dort Demokratie am konkretesten erlebbar ist und Menschen Selbstwirksamkeitserfahrungen machen können, wenn es um Veränderungen geht, gerade auch im ländlichen Raum.
Fünftens: Mehr politische Nachtgebete in Ostdeutschland, mehr Orte der Reflektion, der Diskussion und der Wertebindung, Orte, der Rückbindung an eine transzendente Kraft, die uns Kraft für das Hier und Heute gibt. Dadurch entsteht Vertrauen, dieses mühselig zu pflegende Pflänzchen, durch das unser Leben und unsere Demokratie lebenswert wird; nur dadurch entsteht Mut zum Handeln und zum Optimismus, der uns Demokraten gut zu Gesicht steht.
Lassen Sie mich deshalb mit einem Gebet Dorothee Sölles, also einer der Begründerinnen des Kölner Politischen Nachtgebets schließen:
Du hast mich geträumt Gott
wie ich den aufrechten Gang übe und niederknien lerne
schöner als ich jetzt bin glücklicher als ich mich traue
freier als bei uns erlaubt
Hör nicht auf mich zu träumen Gott
ich will nicht aufhören mich zu erinnern
dass ich dein Baum bin gepflanzt an den Wasserbächen des Lebens.