Herr Buchen, Russlands Präsident Wladimir Putin hatte bei seiner Fernsehansprache am 21. Februar den Angriff auf die Ukraine angekündigt. Mittlerweile ist Krieg. Russische Truppen und Panzer sind aus unterschiedlichen Richtungen in das Land eingedrungen. In den Großstädten der Ukraine suchen Menschen in U-Bahnschächten Schutz vor Raketenangriffen, in Kiew und Charkiw wird gekämpft. Es gibt laut Berichten zahlreiche Tote und Verletzte. Haben die Ereignisse der letzten Woche Sie überrascht?
Tim Buchen: Der russische Einmarsch in dieser Drastik war ein Schock für mich, allerdings kam er nicht aus heiterem Himmel. Angesichts der Entwicklungen in den letzten Wochen waren die Ereignisse natürlich nicht völlig überraschend. Es gab sehr konkrete Hinweise, unter anderen die von Geheimdiensten öffentlich gemachten Informationen. Und tatsächlich war die Rede von Wladimir Putin, in der er die sogenannten Volksrepubliken anerkannt hat, ja mit der Ankündigung des Angriffes verbunden. Insofern war ich nicht überrascht, aber dennoch entsetzt.
Ein wesentlicher Punkt Putins ist die Osterweiterung der NATO, die er verhindern will. Und auch die westliche Orientierung der Ukraine wertet er als feindliche Übernahme – durch die Europäer und die USA. Den NATO-Staaten droht er, sollten sie in den Krieg eingreifen, mit einem Atomschlag. Und dann gibt es die Passagen seiner Ansprache, in denen er die ukrainische Regierung als „Neonazis“ bezeichnet, die Menschen in ihrem Land misshandelt und ermordet hätten. Er stellt die Ukraine als Bedrohung Russlands dar – daher wolle er den Staat, „entmilitarisieren und entnazifizieren“. In dem Zusammenhang verweist er auch auf den sowjetischen Sieg gegen die Nationalsozialisten im Zweiten Weltkrieg. Dieser solle nicht umsonst gewesen sein, so Putin. Wie ordnen Sie als Historiker diese Rhetorik ein?
Tim Buchen: Zum ersten Punkt: Dass Putin die Ausweitung der NATO nach Osten als Bedrohung wahrnimmt und diesbezüglich von einem Vertragsbruch der Abmachungen von 1990 spricht, ist ja nichts Neues. Und der Westen sollte mit der Position Moskaus angemessen umgehen. Aber diese Perspektive rechtfertigt eben keinesfalls den Angriff auf einen souveränen Staat. Und dem Wunsch der Ukraine nach westlicher Orientierung darf Putin sich nicht in den Weg stellen. Er verschweigt außerdem, dass auch Russland Anfang der 1990er Jahre mit Übernahme der ukrainischen Atomwaffen den ukrainischen Staat anerkannt hat, und zwar in seinen Grenzen inklusive Krim und Donbass.
Zum zweiten Punkt: In seiner Rede stellt der russische Präsident falsche Behauptungen auf. In den historischen Verweisen vermischt er Tatsachen und Halbwahrheiten mit Lügen. Er versucht, historisch gewachsene Feindbilder zu bedienen. Wenn er einen durch die ukrainische Regierung verübten oder geplanten „Genozid“ behauptet, ruft er mit diesem Begriff reale traumatische Verbrechen gegen die Menschlichkeit auf, die auch auf ukrainischem Boden verübt wurden: Die von Stalin verursachte Hungersnot der ukrainischen Bevölkerung Anfang der 1930er Jahre, den Holodomor, dem an die vier Millionen Menschen zum Opfer fielen. Und die Shoah, die Ermordung der europäischen Juden unter nationalsozialistischer Besatzung. Sowie die über zwei Millionen von den Deutschen ermordeten sowjetischen Kriegsgefangenen. Die Massenmorde in der Schlucht Babyn Jar begannen unmittelbar nach der Schlacht um Kiew, Ende September 1941. Später wurden dort auch Tausende sowjetischer Kriegsgefangener erschossen.
"Putin ist zwar ein schlechter Historiker, aber viel schlimmer ist: Sein Krieg tötet Menschen und verletzt den Frieden und das Völkerrecht."
Er spielt auch auf die Kollaboration ukrainischer Nationalisten mit der deutschen Besatzungsmacht im Zweiten Weltkrieg an, um implizit eine Kontinuität zur gegenwärtigen ukrainischen Regierung herzustellen. Putin verwendet mehrfach den Begriff „Nazis“. Das ist schon eine sehr infame Nutzung historischer Ereignisse, um die heutige ukrainische Regierung zu delegitimieren und zu dämonisieren.
Was die von Putin vorgebrachten, vermeintlich objektiven historischen Tatsachen zur Genese des ukrainischen Staates betrifft – nämlich dass die Ukraine ein leninsches oder bolschewistisches Konstrukt sei und dass sich „schon immer“ die Menschen in der Ukraine als Russen verstanden hätten – das sind falsche Aussagen. Der sowjetischen Ukraine gingen bürgerliche Staatsgründungen voraus: Bezugnahmen auf die rus oder Rusophilie, wie sie in der ukrainischen Intelligenz noch im frühen 20. Jahrhundert verbreitet waren, sind nicht zu verwechseln mit der Zurechnung zu einer russischen Nation.
Vielleicht ist der größte Fehler, den wir machen können, uns auf sein Spiel mit historischen Fakten und Narrativen einzulassen. Natürlich muss der Geschichtsklitterung widersprochen werden. Aber diese ist ja hauptsächlich Ablenkung. Es gibt sowieso keine historische Rechtfertigung dafür, einen friedlichen Staat zu überfallen und dessen Land und Leute mit militärischer Gewalt zu überziehen. Putin ist zwar ein schlechter Historiker, aber viel schlimmer ist: Sein Krieg tötet Menschen und verletzt den Frieden und das Völkerrecht.
Wenn Sie auf die Geschichte der Ukraine blicken: Identifizieren sich die Menschen im Westteil wie im Ostteil des Landes heute gleichermaßen mit dem ukrainischen Staat? Oder würden Sie in Bezug auf die unterschiedliche historisch-politische und gesellschaftliche Prägung von einer Spaltung der Gesellschaft sprechen?
Tim Buchen: Historisch gesehen gibt es die sehr unterschiedlichen Prägungen und Erinnerungen: Während der Westteil der heutigen Ukraine im 19. Jahrhundert zur Habsburger Monarchie gehörte, befand sich der Osten im russischen Zarenreich. Mit dem Zerfall der kaiserlichen Monarchien im Ersten Weltkrieg kamen das ehemalige habsburgische Ostgalizien und das ehemals russische Gouvernement Wolhynien zur polnischen Republik, die einst habsburgischen Landesteile Transkarpathien und Bukowina fielen an die Tschechoslowakei beziehungsweise Rumänien. In unterschiedlichem Maße wurden hier die ukrainische Sprache und Gesellschaft unterdrückt.
Der Osten des Landes hingegen gehörte zur Sowjetunion in Gestalt einer eigenen ukrainischen Republik. Hier wurden ukrainische Nation und Sprache sowie eine sozialistische ukrainische Elite zunächst bewusst gefördert. Das änderte sich mit der Kollektivierung und, Stalins „Säuberungen“. Es gab also schon vor dem Zweiten Weltkrieg sehr unterschiedliche Erfahrungen in der Ukraine.
Die oben erwähnte Kollaboration nationalistischer Gruppen, etwa der „Organisation Ukrainischer Nationalisten“ und der „Ukrainischen Aufständischen Armee“, mit den deutschen Besatzern fand im westlichen Teil der Ukraine statt. Sie verübten auch „ethnische Säuberungen“ an Polen in Wolhynien und Ostgalizien mit ca. 60 000 Todesopfern.
Als nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 die Nationalisten der OUN von Teilen der Gesellschaft als Helden der eigenen Geschichte und Nation gefeiert wurden – und dies, obwohl die Bewegung Massenmorde zu verantworten hatte – fand dies im Osten des Landes keine positive Resonanz. In Bezug auf die Erinnerung und Geschichtspolitik bestanden auch nach 47 Jahren gemeinsamer sowjetischer Staatlichkeit große Unterschiede und es gibt sie bis heute.
Doch halte ich es für einen Fehler, zu meinen, dass die unterschiedlichen historischen Prägungen der Ost-und Westukraine alles determinieren. Denn dabei wird übersehen: Seit 30 Jahre leben die Ukrainer in einem unabhängigen Staat und dieser erlaubt ihnen eine sehr viel freiere und demokratischere Entwicklung als der große Nachbar unter Wladimir Putin. Die Revolutionen von 2004 und vor allem 2014 waren prägende historische Ereignisse, die im Land ähnlich und gemeinsam erinnert werden. Wenn es um die Gegenwart und Zukunft geht, scheint sich die Spaltung in Ost und West zu nivellieren.
Und welche Rolle spielen die ethnisch russischen und russischsprachige Ukrainer:innen, wie stehen sie zu Russland und der russischen Invasion?
Tim Buchen: Auch wenn die russischsprachigen Ukrainer:innen sich nicht mit bestimmten Elementen des ukrainischen Nationalismus identifizieren können – gerade dann, wenn dieser stark auf die ukrainische Sprache und die Geschichte im Zweiten Weltkrieg abhebt: Die Mehrheit der Staatsbürger:innen ist gegen eine Abhängigkeit von einem russischen Imperium à la Putin. Und zwar unabhängig von ihrer sprachlichen und ethnischen Zugehörigkeit. Das hat sich schon 2014 gezeigt.
Die unterschiedlichen russischsprachigen Ukrainerinnen und Ukrainer begreifen sich nicht als Russen oder sind automatisch pro-russisch. An den Reaktionen der ukrainischen Bevölkerung und an der Kraft ihres Widerstands gegen den russischen Einmarsch zeigt sich aktuell ja auch sehr deutlich, wie hoch ihre Zustimmung für den ukrainischen Staat ist. Die gewaltsame Einverleibung durch Russland wollen sie nicht.
Hier muss betont werden, dass viele Russinnen und Russen ja ebenfalls gegen die Invasion sind und dies auch zum Ausdruck bringen. Vielleicht ist das auch für Präsident Putin überraschend, dass seine Spaltungsversuche diesmal nicht so gut funktionieren. Die Abrede ukrainischer Eigenständigkeit und ukrainischen Nationalbewusstseins ruft umso stärkeren Widerstand gegen den Einmarsch hervor, die Versuche der Dämonisierung der ukrainischen Regierung als Wiedergänger der OUN laufen ins Leere. Nicht zuletzt, weil Präsident Volodymyr Zelenskyy aus einer jüdischen Familie in der Zentralukraine stammt: Sein Großvater kämpfte in der Roten Armee gegen die Deutschen, sein Urgroßvater starb in der Shoah.