Vermutlich glaubt nicht einmal der größte Optimist daran, dass mit einem Präsident Joe Biden im Weißen Haus Amerika wieder zu sich selbst findet. Doch so ganz kann zumindest der mediale Diskurs von dieser Hoffnung nicht lassen. Zu dessen Kennzeichen gehört schließlich, dass der Einfluss von Personen konstant überschätzt wird. Vielleicht ist das sogar unausweichlich: Indem man strukturelle Probleme personalisiert, macht man sie plastischer, verstehbarer, erzählt dann anhand einer Person exemplarisch, was sonst vielleicht zu abstrakt bliebe. Das ist verständlich; aber es führt in der Tendenz auch dazu, Ursache und Wirkung zu verwechseln.
So ist es jedenfalls auch mit den zutiefst gespaltenen Staaten von Amerika, deren inneres Zerwürfnis, vor allem in den deutschen Medien, oft mit den Absichten der handelnden Personen erklärt wird. In dieser Erzählweise hat dann schon der Irak-Krieg George W. Bushs das Land entzweit; Obama dann erfolglos versucht, es wieder zu einen; bevor dann natürlich Donald Trump kam und die Spaltung zum politischen Geschäftsmodell erklärte. Und so fokussiert sich natürlich auch jetzt einiges an Hoffnung auf Joe Biden, denn schließlich: Müsse nicht in dessen ausgleichendem Wesen und seiner Demut, seiner bescheidene Herkunft aus der amerikanischen Arbeiterklasse, und nicht zuletzt in seiner tragische Lebensgeschichte, die von er Überwindung einer tiefen Krise handelt, ein Potential liegen, dass ihn dazu prädestiniert, Amerika wider zu vereinen?
Trump als Symptom
Doch so funktioniert das natürlich nicht. Kein einzelner Politiker hat Amerika gespalten; Das haben die US-Bürger schon selbst geschafft. Trump war und ist – das ist nun auch hinreichend oft betont worden – Symptom, nicht Ursache der Polarisierung der USA, hinter der eben tatsächlich tiefe Interessengegensätze und, schon lange vor dem Aufstieg der sozialen Medien, extrem disparate Realitätswahrnehmungen stehen. Von einer früher – im Vergleich zum ideologisch zerklüfteten Europa – konsensgeprägten Gesellschaft hat sich das Land in einem seit Jahrzehnte andauernden Prozess weit entfernt, und dürfte heute wohl so tief polarisiert sein wie vielleicht keine andere westliche Demokratie
Wer also eine Prognose erstellen will, wie Amerika aus dem Kreislauf einer teuflischen, sich ständig auch selbst weiter verstärkenden Polarisierung herauskommen könnte, der muss die strukturellen Ursachen der Spaltung verstehen – und erst dann danach fragen, welche von ihnen langfristig abnehmen könnten. Grob muss man dabei wohl zwei Ebenen unterteilen. Einmal die konkreten Konfliktlinien, also was Politikwissenschaftler in der Regel als Cleavage bezeichnen; und dann zweitens eine wissenssoziologische Makroebene, die sich darum dreht, unter welchen Bedingungen in einer Gesellschaft verschiedene Interpretation der Realität produziert werden können.
Race and Religion
Beginnen wir also mit den konkreten Konfliktlinien der US-Gesellschaft. Betrachtet man sie, dann ist es vielleicht gar nicht so abwegig, dass die Dinge – gewiss nicht innerhalb einer Legislaturperiode, aber vielleicht in ein oder zwei Jahrzehnten – zur Ruhe kommen könnten. Da ist, erstens, die Konfliktlinie race, also die ethnische Konfliktlinie: Der Frage, mit welchen Mitteln und wie tiefgreifend man die Benachteiligung ethnischen Minderheiten staatlicherseits bekämpfen sollte – inklusive des Streits, als wie rassistisch die amerikanische Gesellschaft in ihrem Kern überhaupt beschrieben werden kann. Dieser Konflikt schwelt seit den 1960er Jahren, als die Demokraten begannen, die Bürgerrechtsbewegung Martin Luther Kings zu unterstützen und die faktische Rassentrennung im Süden der USA zu überwinden. In der Folge wandte sich der konservative Süden, bis dahin eine Hochburg der Partei, den Republikanern zu. Beide US-Parteien homogenisierten sich dadurch insgesamt, die Demokraten wurden liberaler, die Republikaner konservativer. Und während erstere über die Jahrzehnte eine multiethnische Partei wurden, vertraten die Republikaner immer stärker die schrumpfende weiße Mehrheitsgesellschaft.
Zweiten ist da der Konflikt um Religion. Die USA erlebte in 1960er Jahren einen tiefgreifenden Liberalisierungsschub, durch den traditionelle Wert- und Normvorstellungen herausgefordert wurden. Doch anders als im sich rasch säkularisierenden Europa blieb ein Teil des Landes tief religiös und verteidigte äußerst aggressiv eine christliche Sozialmoral. Seit den 1970er Jahren stritt das Land dann in den “Culture Wars” über Abtreibung, Pornographie und Homosexualität. Vor allem viele evangelikale Protestanten reagierten mit Abwehr und begannen seit 1980 ihren Weg in die Wählerkoalition der Republikaner.
Und drittens ist da der Konflikt - am ehesten übertragbar auch auf die europäischen Verhältnisse - zwischen den Gewinnern und Verlieren der Globalisierung, der vor allem auch ein Konflikt ist zwischen prosperierenden Metropolen und immer weiter zurückfallenden ländlichen Regionen.
Das Fatale aber ist: Alle diese Konfliktlinien korrespondieren mittlerweile miteinander, haben dadurch alle ideologischen Schnittflächen und auch Ambivalenzen ausgelöscht, Amerika buchstäblich zweigeteilt. So steht heute ein weißes, christliches, ländliches Amerika, gegen ein multiethnisches, religiöses, urbanes Amerika.
Ende der Dominanz des weißen Amerika
Und doch: So unversöhnlich die Frontlinien auch verlaufen – unabänderlich sind sie nicht. Gesellschaften wandeln sich ständig, objektive Interessenlagen können sich ändern. Was wir etwas gerade beim Thema race erleben, das scheint auch einer klassischen Umbruchssituation geschuldet: der Kampf einer bald nur noch ehemaligen Mehrheitsgesellschaft, die ihren privilegierten Status aggressiv verteidigt. Und die tatsächlichen Animositäten zwischen den Hautfarben haben in Wahrheit abgenommen, offener Rassismus ist – Trump zum Trotz – unsagbarer als noch vor Jahrzehnten. Was in den USA gerade verhandelt wird, das ist tatsächlich das Ende der Dominanz des weißen Amerikas. Wer wollte erwarten, dass solcherlei ganz ohne Friktionen abliefe?
Auch beim Thema Religion scheinen viele der Fronten bei einem Blick in die Meinungsumfragen und Statistiken viel weniger tief als es die polarisierte Auseinandersetzungen, etwa um die Ernennungen um die Richter des Supreme Court glauben machen könnte. Mit Ausnahme des Themas Abtreibung, sind die USA insgesamt über Jahrzehnte liberaler und toleranter geworden. Ein Thema wie Homosexualität etwa wird von der Republikanischen Partei bei Wahlkämpfen kaum noch angerührt. Die Anzahl der streng religiösen Protestanten geht zurück, wenngleich die Entkirchlichung des Landes weit langsamer voranschreitet als in Europa. So könnte sich auch der Kulturkrieg irgendwann abschwächen.
Einzig bei der dritten Konfliktlinie – zwischen den Gewinnern und Verlierern der Globalisierung und dem Gegensatz zwischen Stadt und Land – scheint viel weniger klar, wie er sich in Zukunft entwickeln wird. Die Deindustrialisierung des Landes wurde durch Trumps “America First”-Kurs jedenfalls kaum aufgehalten, und auch die Demokraten haben seit langem kein Konzept, wie die abgehängten Regionen des Landes wieder Anschluss finden könnten. Doch diese Konfliktlinie allein dürfte kaum in jener existenziellen Konfrontation müden, die in der Trump-Präsidentschaft kulminierte und die vorwiegend kulturell geprägt ist.
Keine ambivalenten, postmodernen Flaneure
Allerdings gibt es eine zweite Erklärungseben für Amerikas tiefe Spaltung. Sie beschreibt eher einen übergeordneten soziologischen Prozess, den man von konkreten Streitfragen im Grunde trennen muss. Amerika zerfällt nämlich auch deswegen, weil es besonders früh und stark den Zentrifugalkräften einer entfesselten Moderne ausgesetzt ist. Es ist ein Prozess, den ich als “paradoxe Individualisierung” bezeichne: Nie zuvor in der Geschichte hatten so viele Menschen so viele Freiheiten, wie sie ihr Leben führen wollten – wo sie leben, welchen Vorlieben sie nachgehen wollen, wen sie lieben und, vor allem, welche Arten von Informationen sie konsumieren möchten. Doch hat sie all die Wahlfreiheit nicht in ambivalente postmoderne Flaneure verwandelt, sie nicht offener und toleranter für andere Lebensentwürfe gemacht. Stattdessen wurde all die Autonomie dazu genutzt, eine widerspruchsfreie Welt zu bauen: Echokammern von Gleichgesinnten (keineswegs nur aber gewiss vor allem auch in den sozialen Netzwerken), die sich durch das Ausbleiben von Dissens radikalisiert haben. Demokraten und Republikaner leben nicht länger nebeneinander, heiraten kaum noch untereinander, beten nicht länger in den gleichen Kirchen – und schon gar nicht lesen sie die gleichen Zeitungen oder schauen die gleichen Nachrichtenendungen. Das hat ihre Lebenswelten weit voneinander entfernt, lässt sie die Welt aus diametral anderen Perspektiven betrachten. Schließlich wissen wir aus zahlreichen sozialpsychologischen Studien, dass Menschen, die keinen Dissens mehr erfahren und die in homogenen Gruppen agieren, sich tendenziell radikalisieren.
Wie aber sollte sich das abschwächen? Es handelt sich um einen sozialen Prozess von solcher Grundsätzlichkeit und Tiefe, dass nicht erkennbar ist, wie er gebrochenen werden könnte. Um zum Anfang unserer Überlegungen zurückzukehren: In welcher Weise sollte auch ein noch so aufrichtiger Appel zur Versöhnung an diesen grundlegenden Strukturen etwas ändern? Möglich, dass sich der politische Diskurs des Landes beruhig, wenn nicht länger der Twitterer-in-Chief im Weißen Haus sitzt. Und auch nach Habitus und Herkommen dürfte Biden vielleicht auch nicht ganz die gleichen Ressentiments wie Obama wecken, oder wie auch Hillary Clinton als Kandidatin sie geweckt hat. Allein: den harten Kern der Republikaner wird nichts davon überzeugen: sie werden Biden nach vier Jahren, in denen Trump unablässig das Vertrauen in die Institutionen, den Wahlvorgang und die gesamte politische Klasse weiter untergraben hat, den neuen Präsidenten für einen unrechtmäßigen Usurpator halten – übrigens ebenso, wie die meisten Demokraten es mit Trump gehalten haben.
Polarisierung politisiert
Gleichwohl, eines sollte man nie vergessen: Auch die Polarisierung der USA ist ein zweischneidiges Schwert. Gewiss, sie hat den Kongress seit langem lahmgelegt und die sozialen Beziehungen bis in das Privateste hinein vergiftet. Anderseits hat sie jetzt für einer der höchste Wahlbeteiligung seit 100 Jahren gesorgt. Polarisierung politisiert eine Gesellschaft und daran lässt sich eigentlich auch Positives gewinnen.
Und schließlich: Kein einziger gesellschaftlicher Fortschritt ist allein im Konsens erfolgt, sondern wurde immer auch gegen harte Widerstände erkämpft. Insofern gibt es auch in Joe Bidens Partei einer starke Fraktion, die die Rede vom Zuschütten der ideologischen Gräben ohnehin für den blasierten Traum von Zentristen hält, die den Blick für das große Ganze verloren haben. Denn die Parteilinke hat große Ziele und träumt von der großen Transformation Amerikas und einer radikal anderen Politik. Vor einem Konflikt mit den Wählern Donald Trumps wird man dort jedenfalls gewiss nicht zurückschrecken. So wird die amerikanische Demokratie weiterhin dynamisch bleiben – und dies hoffentlich auch in Zukunft aushalten.
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