Ob Gershwin oder Mozart: Zur Saisoneröffnung spielen Ensembles des Gewandhauses traditionell an verschiedenen Orten der Leipziger Innenstadt. Derart inspiriert, fanden sich in diesem Jahr rund 200 Leipziger Bürgerinnen und Bürger unter dem „Gesang vom Leben“ ein – dem Deckengemälde im Hauptfoyer des Gewandhauses. Erstmals fand, eingebettet in den Saisonauftakt, das neue Format Demokratie-Tag statt.
Das Zuhören, als Teil des Austausches, komme heutzutage häufig zu kurz, so die Beobachtung von Dr. Roland Löffler, Direktor der SLpB und Moderator des Panels „Zuhören: Herausforderung für die Demokratie“. Dieser Kritik schloss sich Dr. Skadi Jennicke, Bürgermeisterin und Beigeordnete für Kultur der Stadt Leipzig, an. Zuhören bestehe nicht nur darin, abzuwarten, bis der andere mit reden fertig sei. „Oft sind wir vor allem getrieben, unsere eigene Position loszuwerden, wir kommentieren und bewerten, was das Zuhören verhindert“. Bevor man etwa in der Leipziger Stadtverwaltung entscheide, brauche man Raum für den freien Diskurs, berichtete die Bürgermeisterin. „Darin probieren wir uns gedanklich aus, denn gute Lösungen sind nie gleich fertig“, sagt Jennicke. Einander zuzuhören, sei dafür unerlässlich.
Ist der Osten laut?
Auf die Frage, ob die Menschen im Osten so laut seien, weil ihnen niemand zuhöre, bemerkte die zweite Panel-Teilnehmerin Jana Hensel, dass die Menschen des demokratischen Spektrums des Ostens durchaus viel miteinander sprechen und sich zuhören würden. Die aus Leipzig stammende Autorin und Journalistin schilderte, dass sie seit der Zuwanderung vieler Geflüchteter im Jahr 2015 im Osten – trotz politischer Polarisierung – eine sichtbar gewordene, demokratisch engagierte Zivilgesellschaft erlebe.
Bürgermeisterin Jennicke brachte den Punkt ein, dass auch nach über 30 Jahren Wiedervereinigung ein Resonanzraum für ostdeutsche Biografien und Besonderheiten fehle. Dazu würden vielfach gar keine Fragen mehr gestellt, dabei brenne dieses Thema Menschen im Osten unter den Nägeln, erklärte die Bürgermeisterin. Das Desinteresse daran empfänden viele als Zurücksetzung. Jana Hensel ermunterte auch junge Menschen, die nach dem Mauerfall geboren worden und im ostdeutschen Sozialisationsraum aufgewachsen sind, über ihre Prägung und Erfahrungen zu sprechen. Viele von ihnen fühlten sich als ostdeutsch.
Klare Kante gegen Populismus - und trotzdem zuhören
„Hilft Zuhören in Sachsen weiter?“ Auf diese Frage antwortete Bürgermeisterin Jennicke mit einem das erste Panel abschließenden Appell: Klare Kante gegen populistische Positionen zeigen, aber den Menschen dennoch zuhören und auch nachfragen. Im Foyer des Gewandhauses kamen an diesem Nachmittag Familien mit Babys, ältere Herrschaften und andere Gäste der Podiumsdiskussion miteinander ins Gespräch. Es müsse thematisiert werden, dass im Osten noch immer geringere Löhne gezahlt würden als im Westen, forderte einer der Teilnehmer in seinem Wortbeitrag. Es gehe darum, „eine Gleichheit herzustellen“.
Zum Zuhören zwischen den beiden Panels lud das „Reinhold Quartett“ ein: Vorgetragen wurde der zweite Satz aus Peter Tschaikowskis 1. Streichquartett D-Dur op.11. Danach diskutierten Frank-Michael Erben, Konzertmeister des Gewandhausorchesters, Psychologie-Professorin Dr. Margarete Imhof (Johannes Gutenberg-Universität Mainz) und die Soziologin Jutta Allmendinger, Präsidentin des Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professorin an der Humboldt-Universität zu Berlin, über das Thema „Zuhören: Schlüssel zu Musik und Gesellschaft“.
Wer hat das Privileg?
Es sei das Privileg der Musikerinnen und Musiker: „Uns wird immer zugehört, wenn wir die Menschen berühren“, so Frank-Michael Erben vom Gewandhausorchester. Als Psychologin brachte Prof. Margarete Imhof ein: Zuhören sei nicht zu verwechseln mit dem Dasitzen und nichts sagen, so wie Sehen nicht mit Lesen verwechselt werden solle. „Zuhören ist ein aktiver Prozess für den wir einen Plan brauchen. Zuhören ist auch anstrengend. Wenn wir dabei nicht aufmerksam sind, misslingt es", so Imhof.
Prof. Jutta Allmendinger ergänzte, dass für das Zuhören zentral sei, bestimmte Vormeinungen abzubauen und sich dem Gegenüber zu öffnen. „Zuhören hängt sehr stark davon ab, wem man zuhört“, so die Soziologin. „Und dafür muss man der Person begegnen.“ Hat das Zuhören hierzulande kein gutes Image? Auf diesen Punkt ging Bildungsforscherin Imhof ein: „Die Person, die zuhört, ist in der vermeintlich weniger mächtigen Position. In anderen Kulturen gilt es als Privileg, zuzuhören.“ Vielleicht deshalb werde in Deutschland das Zuhören nicht gut eingeübt, so die Professorin. Auch in den Medien fehle es an wirklicher Auseinandersetzung und Interaktion. „Es wird gehört, aber nicht zugehört. Das ist eine Verflachung!“
„Schluss mit der Demokratie“
Anders in der Musik: Frank-Michael Erben, auch Primarius des Gewandhaus-Quartetts, berichtete, dass jedes Mitglied eine gleichberechtigte Stimme habe und so Demokratie und Zuhören im Quartett gelebt würden. Zwischen den Musikerinnen und Musikern gelte es als Grundvoraussetzung des Zusammenspiels, sich gut gegenseitig zuzuhören – um fein abgestimmt aufeinander reagieren und sich dabei im Zweifel von den Noten lösen zu können. Große Orchester brauchen allerdings einen Dirigenten – und dann „ist Schluss mit der Demokratie“, sagte er lachend.
Ob die Musik ein Schlüssel für das Miteinander in der Gesellschaft sei – darauf antwortete Erben, dass das Orchester nicht nur den Raum mit Musik fülle, sondern Hirn und Herz der Menschen berühren wolle. Das Zuhören der Menschen werde für die Musiker und Musikerinnen auf der Bühne spürbar. „Dann erscheint der Saal wie ein großer Schwamm, der aufsaugt, was das Orchester spielt.“
Musik und Gesellschaft
Soziologin Jutta Allmendinger konstatierte, dass Musik ein Gemeinschaftsgefühl auslöse. Es sei fraglich, ob dies auf andere Themen übertragen werden könne. An dieser Stelle brachten sich viele Teilnehmende ein: Musik in der Gesellschaft stimme auch grundsätzlich auf das Zuhören ein, so das Statement einer Leipzigerin - das gelte für Kinder in der Musikschule, Familien bei der Hausmusik oder eben Spitzenorchester. Eine andere Zuhörerin hielt fest, dass das Gewandhausorchester beim Musizieren ja eine gemeinsame Aufgabe habe. Sie frage sich, wo diese gemeinsame Aufgabe in der Gesellschaft zu finden sei. „Worüber wollen und müssen wir eigentlich miteinander reden? Und welchen gemeinsamen Leitgedanken können wir vom „Demokratie-Tag“ mitnehmen?“
Insgesamt gab es zum Thema Zuhören viel Gesprächsbedarf. Den Demokratie-Tag einzubetten in die Saisoneröffnung des Gewandhausorchesters, war ein gelungener Auftakt für eine Debattenkultur in Leipzig, in der das Zuhören nicht zu kurz kam.