Seit der Krimannexion und dem Beginn des Kriegs in der Ostukraine im Frühjahr 2014 befindet sich die EU überwiegend im Modus des Krisenmanagements vis-à-vis Russland. In den letzten sechs Jahren hat sich erwiesen, dass die russischen Handlungen gegenüber der Ukraine keine einmalige Krisensituation bilden, sondern Ausdruck einer Politik sind, die Souveränität und territoriale Integrität anderer Staaten verletzt und keinen Kompromiss mit westlichen Akteuren in der Nachbarschaft sucht. Damit verbunden ist ein Ansatz, der zum Ziel hat, die EU und viele ihrer Mitgliedstaaten zu schwächen. Schließlich hat nicht nur der Fall Alexej Nawalnyj gezeigt, dass die russische Führung bereit ist, brutale Methoden anzuwenden, um die Entstehung einer tragfähigen politischen Opposition zu verhindern. Die EU braucht eine Russlandpolitik, die in der Lage ist, mit einem solchen Russland effektiver umzugehen.
Zu den großen Erfolgen der EU-Russlandpolitik zählt, dass sich alle Mitgliedstaaten im Frühjahr 2014 auf Sanktionen gegen Russland einigen konnten und dass diese immer noch in Kraft sind. Zwar war es unrealistisch zu glauben, die Sanktionen allein könnten die russische Führung zu einem Umdenken in Bezug auf die Ukraine bewegen. Dennoch waren und sind die restriktiven Maßnahmen ein wichtiges und seltenes Signal der Einheit der EU vis-à-vis Russland, das in Moskau mit großer Überraschung wahrgenommen wurde. Die Versuche des russischen Regimes, die Sanktionen loszuwerden, zeigen, dass diese die Führung des Landes auf verschiedene Weise treffen. Wieder einmal offensichtlich wurde dies am Anfang der Covid-19-Pandemie, als Wladimir Putin im Rahmen der Vereinten Nationen vorschlug, alle bestehenden Sanktionen als Zeichen von Solidarität in der Gesundheitskrise zu kassieren.
Probleme des EU-Ansatzes
Die Sanktionen wurden im März 2016 durch fünf Prinzipien ergänzt, die den heutigen Umgang der EU mit Russland bestimmen: 1) vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen, 2) Ausbau der Beziehungen zu den Staaten der Östlichen Partnerschaft (ÖP) und Zentralasiens, 3) Stärkung der Resilienz innerhalb der EU gegenüber Bedrohungen aus Russland, 4) selektives Engagement mit Russland in Bereichen wie Naher Osten, Terrorismusbekämpfung und Klimawandel, 5) Ausbau zwischenmenschlicher Kontakte und Unterstützung der russischen Zivilgesellschaft. Diese Prinzipien, vorgeschlagen von der damaligen Hohen Vertreterin Federica Mogherini und gebilligt von allen EU-Außenministerinnen und -Außenministern, haben die vor 2014 existierende Russlandpolitik de facto ersetzt. Alle damaligen Instrumente – Verhandlungen über ein neues Abkommen und über Visaliberalisierung, die »Vier Gemeinsamen Räume« der Kooperation, die Partnerschaft für Modernisierung und regelmäßige EU-Russland-Gipfeltreffen – wurden auf Eis gelegt und bisher nicht wieder aufgenommen. Eine Rückkehr zum Status quo ante erscheint derzeit undenkbar.
Die fünf Prinzipien weisen auf Schwächen der EU-Außenpolitik hin. Gerade hinsichtlich Russland gehen die Interessen der Mitgliedstaaten seit vielen Jahren weit auseinander. Die Prinzipien sind der kleinste gemeinsame Nenner für die Gesamt-EU, über den hinauszugehen weder möglich noch gewollt zu sein scheint. Vorrang für das eine oder andere Prinzip könnte zudem eine erneute Russlanddebatte im EU-Rahmen auslösen und so den fragilen Konsens gefährden. Die Prinzipien bilden kein stimmiges Ganzes, und es ist nicht zu erkennen, dass sie in den letzten Jahren konsequent und wirksam mit Leben erfüllt worden wären.
Dies ist zum Teil verständlich. Die vollständige Umsetzung der Minsker Vereinbarungen ist unrealistisch, weil die Ziele Russlands und der Ukraine in Bezug auf den Donbas inkompatibel sind. Ein Ausbau der EU-Beziehungen zu den anderen postsowjetischen Staaten findet im Rahmen der Östlichen Partnerschaft und der Zentralasien-Strategie statt. Diese Initiativen sind wichtig und müssen fortgesetzt werden. Allerdings kann die EU als schwacher Akteur besonders auf dem Feld der harten Sicherheit den Hauptsorgen dieser Staaten oft nicht Rechnung tragen. Was das selektive Engagement betrifft, ist es schwierig, mögliche Felder zu finden, wo eine Zusammenarbeit mit Russland über die schon bestehende hinaus sinnvoll wäre. Dies liegt vor allem daran, dass die russische Führung die Brüsseler Institutionen wenig ernst nimmt und diese sowie die Mitgliedstaaten schwächen will. Unter diesen Umständen ergäbe eine vertiefte Kooperation wenig Sinn.
Resilienz und gesellschaftliche Kontakte als Schwerpunkte
Im Hinblick auf die direkte Beziehung zu Russland bleibt also nur, sich auf die Prinzipien 3 und 5 zu konzentrieren, also erstens die EU und ihre Mitgliedstaaten resilienter zu machen und zweitens Kontakte zwischen den (Zivil-) Gesellschaften auszubauen. Im Rahmen der fünf Prinzipien richtet sich das Streben nach mehr Resilienz zwar in erster Linie gegen Russlands Versuche, der EU und ihren Mitgliedstaaten durch kalkulierte Maßnahmen zu schaden. Doch die Anstrengungen der EU können positive Effekte weit über den Umgang mit Russland hinaus haben, da auch andere Akteure ähnliche Strategien gegen die EU anwenden. Der Ausbau (zivil) gesellschaftlicher Kontakte weckt bei der russischen Führung Befürchtungen vor einer erstarkenden Opposition in Russland bis hin zu einem von außen unterstützten Regimewechsel. Sowohl die Gesetzgebung zu zivilgesellschaftlichen Organisationen als auch der russische Umgang mit dem Petersburger Dialog offenbaren, dass die Führung weitgehende Kontrolle über die Entwicklung dieses Bereichs ausüben will. Von daher geht es weniger um Zusammenarbeit mit offiziellen russischen Stellen und mehr um gesellschaftliche Kooperationen. Diese können durch die Institutionen der EU und jenen in den Mitgliedstaaten gefördert werden, wie zum Beispiel im EU-Russland-Zivilgesellschaftsforum. Im deutschen Kontext ist solche Förderung unter anderem beim Koordinator für die zwischengesellschaftliche Zusammenarbeit mit Russland, den Ländern der Östlichen Partnerschaft und Zentralasien angesiedelt.
Koalitionen als gangbarer Weg
Ein Weg zu einem effektiveren Ansatz könnte über Koalitionen von Mitgliedstaaten führen, die in einem oder mehreren Bereichen der bestehenden Russlandpolitik ähnliche Ziele verfolgen. Solche Koalitionen könnten die Prinzipien 3 und 5 mit Leben erfüllen, indem sie gegen bestimmte russische Handlungen vorgehen, wie etwa Desinformation, Geldwäsche oder Cyberangriffe. Auch dort, wo es darum geht, bestimmte Gruppen in Russland zu unterstützen, könnten Koalitionen aktiv werden, etwa bei Visafragen und zivilgesellschaftlicher Kooperation. Dies wird leichter sein, als sämtliche Prinzipien auf EU-Ebene neu zu justieren, denn einige Mitgliedstaaten hegen starke Präferenzen für einzelne Prinzipien.
Als Beispiel für den Beginn einer solchen Zusammenarbeit kann die gemeinsame Erklärung Frankreichs, Lettlands und Litauens vom September 2020 dienen. Darin befürworten sie Maßnahmen, welche die Sicherheit von Wahlen erhöhen und gegen Desinformation gerichtet sind. Auch wenn die Erklärung nicht explizit auf Russland zielt, sind viele der angesprochenen Maßnahmen auch und gerade im Hinblick auf Russland relevant. Die drei Staaten regen an, die EU möge in diesem Bereich aktiver handeln, im Sinne des am 3. Dezember präsentierten European Democracy Action Plan. Es ist wichtig, dass Frankreich, Lettland und Litauen an die Brüsseler Ebene appellieren. Der Sinn der in dieser Analyse angedachten Kooperation läge allerdings darin, dass die interessierten Mitgliedstaaten aus eigenem Antrieb handeln, ohne darauf zu warten, dass ihr Ansatz zu einer Politik der Gesamt-EU wird. Im Fall der erwähnten Erklärung würden also alle drei Staaten gemeinsam Bilanz über die Ressourcen und Maßnahmen ziehen, die sie für die Sicherheit von Wahlen und gegen Desinformation verwenden bzw. ergreifen. In einem zweiten Schritt würden sie künftig ihre Handlungen in diesen Feldern koordinieren und nach Synergiemöglichkeiten suchen. Hierbei könnten sie an bestehende EU-Maßnahmen anknüpfen, zum Beispiel den Gemeinsamen Aktionsplan gegen Desinformation, und diese durch nationales Handeln stärken.
Was zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit anbelangt, verfügen Aktivistinnen und Aktivisten zum Beispiel in Deutschland, Polen, Schweden, Finnland und der Tschechischen Republik über umfangreiche Kontakte mit geeigneten russischen Akteuren und könnten von einem systematischen Austausch untereinander profitieren. Das würde es erleichtern, kreative Wege zu finden, mit den zahlreichen Hürden umzugehen, denen sich zivilgesellschaftliche Zusammenarbeit in Russland gegenübersieht. Offizielle Unterstützung materieller und immaterieller Art in den entsprechenden Mitgliedstaaten könnte hierzu einen Beitrag leisten.
Der hier vorgeschlagene Ansatz ist möglicherweise riskant, weil Außenpolitik fürs erste wieder stärker auf die Ebene der Nationalstaaten verlagert würde. Dennoch liegt ihm die Idee zugrunde, über den einzelnen Nationalstaat hinauszugehen. Die Stärke des Vorhabens läge darin, dass eine Reihe von interessierten Mitgliedstaaten sich in dem jeweiligen Bereich einigen und mit vereinten Kräften handeln würde. Ähnliche Koalitionen von betroffenen EU-Mitgliedstaaten könnten sich weiteren Vorhaben widmen: Um die Geldwäsche durch Russland einzudämmen, könnten sich beispielsweise Deutschland, Estland, Lettland, Dänemark, Schweden und Polen zusammenschließen. Um gegen Cyberangriffe vorzugehen, könnten unter anderem Deutschland, Estland, Finnland, Schweden und die Niederlande eine Koalition bilden. Hier könnten sich bestehende Bekämpfungsstrategien ergänzen. Selbst wenn eine Zusammenarbeit bereits existiert, ergäbe es Sinn, sie als gemeinsame Initiative zu bündeln und damit auszuweiten. Auf diese Weise ließen sich Verbindungen zwischen Mitgliedstaaten stärken, Aspekte einer gemeinsamen Russlandpolitik sichtbarer machen sowie EU-Bürgerinnen und -Bürger weiter für den Ernst der Lage sensibilisieren.
Problematisch wäre, wenn konkurrierende Gruppen von Mitgliedstaaten zwei sich widersprechende Politiken ausarbeiteten. Mit klugen Interventionen könnte der Hohe Vertreter der EU für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, dies verhindern oder auf einen Kompromiss hinwirken.
Entwicklung der EU-Außenpolitik
Eine Vorgehensweise, die dem oben skizzierten Ansatz folgt, kann zudem auf weiteren bestehenden Initiativen aufbauen und dazu beitragen, die deutsch-französische Zusammenarbeit im Sinne des Aachener Vertrages zu intensivieren. Sowohl Deutschland als auch Frankreich haben in letzter Zeit versucht, eine vertiefte Kommunikation mit den östlichen EU-Mitgliedstaaten über die Politik vis-à-vis Russland und den Ländern der Östlichen Partnerschaft zu betreiben. Die Reisen des französischen Präsidenten Macron nach Warschau im Februar 2020 sowie nach Lettland und Litauen im September 2020 zeugen von dieser Absicht auf Seiten Frankreichs. Sie fügen sich in Macrons breitere internationale Initiative ein, die unter anderem einen strategischen Dialog mit Russland anstrebt. Ähnliche hochrangige Anstrengungen gibt es auf der deutschen Seite, zum Beispiel gegenüber Polen und Litauen. Außerdem existiert eine Reihe von Dialogen auf Expertenebene.
Deutschland und Frankreich könnten sich also zusammenschließen und gezielt nach Gemeinsamkeiten mit den Partnern im Osten der EU suchen. Es ginge weniger darum, sich auf eine einheitliche Linie in Bezug auf Russland insgesamt zu verständigen. Vielmehr würde man ausloten, wo es mit mehreren östlichen EU-Mitgliedstaaten Schnittstellen gibt, und sich in diesen Teilbereichen auf gemeinsame oder koordinierte Handlungen verständigen.
Allerdings gilt es, über den bisherigen Ansatz hinauszugehen. Dieser scheint darin zu bestehen, den deutschen bzw. den französischen Standpunkt zu kommunizieren und die Meinung der anderen Seite besser zu verstehen, ohne eine Konvergenz der Positionen anzustreben. Sowohl die deutsche als auch die französische Seite sind wohl bereit, auch die Interessen der östlichen Mitgliedstaaten im Dialog mit Russland zu vertreten. Wenn aber nicht wesentlich mehr Vertrauen aufgebaut wird, scheint diese Idee wenig überzeugend. Vielversprechender wäre der Versuch, Stimmen aus diesen Staaten in einen wie auch immer gearteten Dialog mit oder über Russland einzubinden. Dies würde auch dafür sorgen, dass die Beziehungen zu den ÖP-Staaten besser berücksichtigt werden, weil Akteure zum Beispiel in Polen und Litauen über besonders enge Kontakte zu Belarus und der Ukraine verfügen.
Zudem sollte eine deutsch-französische Kooperation in Bezug auf die Zusammenarbeit mit der russischen Zivilgesellschaft ausgelotet werden. Gerade weil der Petersburger Dialog auf der deutschen und der Trianon-Dialog auf der französischen Seite unterschiedliche Ansätze verfolgen, würde es sich lohnen, sich über bisherige (Miss-) Erfolge auszutauschen und gegebenenfalls gemeinsame Botschaften an die russische Führung in Hinsicht auf deren Umgang mit der Zivilgesellschaft zu formulieren.
Wichtig bei der Entwicklung von Koalitionen ist, dass die beteiligten Mitgliedstaaten ihren Willen erklären, ihre Politik in einen EU-Ansatz einzubetten. Eine enge Zusammenarbeit zwischen den betreffenden Mitgliedstaaten und Brüssel wird essentiell sein, damit die Teilansätze auf Dauer die EU-Russlandpolitik stärken helfen, statt sie zu schwächen. Ein solcher Versuch birgt die Chance, Teile des bestehenden Ansatzes mit mehr Inhalt zu füllen und die EU in bestimmten Feldern resilienter zu machen, in denen sie nicht nur, aber auch mit destruktiven russischen Handlungen der letzten Jahre konfrontiert ist. Insofern könnten Teilansätze einen Beitrag zur Entstehung einer robusteren EU-Außenpolitik insgesamt leisten, die durch wechselnde Koalitionen von Mitgliedstaaten angestoßen wird.
Dr. Susan Stewart ist Leiterin (a. i.) der Forschungsgruppe Osteuropa und Eurasien der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik. Im Rahmen der Veranstaltung "Wie spricht man mit dem Kreml? Neue Ära der deutsch-russischen Beziehungen" am 7., 8., 13. und 19. April 2021 wird sie ihre Thesen als Gast auf dem Podium diskutieren.Ihr Artikel "Eine robustere Russlandpolitik für die EU" ist erstmals in SWP-Aktuell 2020/A 96, Dezember 2020 erschienen.