Europa muss mehr Verantwortung übernehmen

Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen), Mitglied des Europäischen Parlaments, sieht die EU in der Verantwortung, die Weltpolitik aktiver mitzugestalten. Die Handelspolitik sei dabei ein geeignetes Instrument, um gemeinsam gegen Rechtsverletzungen von Großmächten wie China oder Russland vorzugehen. Eine europäische Armee befürwortet er nicht. Der Online-Vortrag fand im Rahmen der Reihe „Welche Zukunft hat Europa?“ statt, die gemeinsam mit der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Technischen Universität Dresden veranstaltet wird.

Eine Handelssperre zwischen der Volksrepublik China und Litauen beschäftigt seit Anfang Dezember die Europäische Union. Die chinesischen Zollbehörden hatten den kleinen baltischen Staat von ihrer Liste gestrichen: so als ob dieser gar nicht mehr existieren würde. China verweigerte die Annahme aller aus Litauen exportierten Waren. Deshalb lagern derzeit hunderte Container voller Holz, Bier und anderer Güter vor der chinesischen Küste.

Auslöser für die Handelsblockade war Litauens Annäherung an Taiwan. Im November wurde in der Hauptstadt Vilnius ein taiwanesisches Vertretungsbüro eröffnet. Dieses wurde nicht, wie international üblich, als „Vertretung Taipehs“ (Taipeh ist die Hauptstadt Taiwans), sondern als „Vertretung Taiwans“ bezeichnet. Peking erkennt Taiwan nicht als eigenen Staat an, sondern pocht darauf, dass es zu China gehört. Bereits im Sommer, als die Eröffnung des Büros in Vilnius angekündigt wurde, zog Peking seinen Botschafter aus Litauen ab. Eine offizielle Erklärung der chinesischen Regierung gab es zu der Angelegenheit aber nicht, wie verschiedene deutsche Medien berichteten.

Reinhard Bütikofer (Bündnis 90/Die Grünen) formulierte in seinem Vortrag eine deutliche Haltung zu diesem Handelsembargo: Es sei „eine autoritäre Zumutung“ seitens der Großmacht. „China versucht exemplarisch, Litauen abzustrafen. Warum eigentlich? Weil Litauen Taiwans Büro, das keine Botschaft ist, umbenannt hat“, so Bütikofer. „Das ist durch die europäische Politik vollständig gedeckt, das geht China eigentlich gar nichts an.“ Die Großmacht wolle jedoch ihren Standpunkt mit allen Mitteln durchzusetzen und Litauen erpressen. Sollte dies gelingen, so wären auch die anderen europäischen Staaten künftig grundsätzlich erpressbar. Wichtig sei, dass man sich nicht von China gegeneinander ausspielen lasse, erklärte der Europa-Abgeordnete.

Neue Schutzinstrumente gegen Erpressung

Zwar vertreten manche in der Debatte zum Handelsembargo auch die Ansicht, dass Litauen mit der Benennung seiner Taiwan-Vertretung vorgeprescht sei, ohne sich mit den anderen EU-Mitgliedsstaaten abzustimmen – um dann doch die EU um Hilfe bitten zu müssen. Aber darüber, dass die EU dem baltischen Staat gegen China in dieser Situation zur Seite stehen sollte, besteht weitgehende Einigkeit – zumal Chinas Embargo gegen Vorgaben der Welthandelsorganisation (WTO) verstößt, in der beide betroffenen Staaten Mitglied sind. Die EU werde konkrete Gegenmaßnahmen ergreifen, so Bütikofer. „Die Einrichtung eines Schutzinstruments gegen solche Formen ökonomischen Zwangs wird zurzeit diskutiert.“

Damit ist die EU nach Ansicht des Grünen-Politikers aus mehreren Gründen auf dem richtigen Weg. Zum einen gelte es, gemeinsam zu verhindern, dass der stärkere Staat China sich rücksichtslos durchsetzt – und dabei gegen internationale Regularien verstößt. Zum anderen sieht Bütikofer in der Handelspolitik das stärkste und damit wichtigste Instrument Europas, sich künftig auf weltpolitischer Ebene zu behaupten.

„Alle vier Grundpfeiler wackeln“

Zu Beginn seines Vortrags nannte Bütikofer vier zentrale Grundpfeiler der europäischen Außen- und Sicherheitspolitik: Erstens sei Europa ein Friedensprojekt und wolle zu Frieden und Stabilität weltweit beitragen. Aufgrund dieser Tradition habe die Staatengemeinschaft 2012 den Friedensnobelpreis erhalten. Zweitens orientiere sich Europa an einem Multilateralismus, der auf einer internationalen Herrschaft des Rechts basiere: In diesem Rahmen könnten kleinere wie größere Staaten politisch mitgestalten. Drittens habe sich die EU in den letzten 70 Jahren sehr stark auf das transatlantische Bündnis verlassen. Viertens sieht sich die EU-Außenpolitik den Menschenrechten verpflichtet.

„Leider wackeln alle vier Pfeiler“, meint Bütikofer. Dass der Frieden in Gefahr sei, zeige sich momentan an der russisch-ukrainischen Grenze. Und dass statt eines Multilateralismus derzeit die Großmachtpolitik auf dem Vormarsch sei, zeige sich an Präsidenten wie Donald Trump, Wladimir Putin oder Xi Jinping. Aber auch die Präsidenten kleinerer Staaten wie der Türkei, der Philippinen oder Ägyptens verstießen gegen internationales Recht oder die Menschenrechte. In besonders ausgeprägter Form vertrete China den Anspruch, „die Nummer 1 der Welt zu sein“. Daher sei es eine Kernfrage aktueller EU-Politik, wie sich Europa den Großmächten gegenüber positioniere.

„Wir tun gut daran, das transatlantische Bündnis, also unsere Partnerschaft mit den USA weiter zu entwickeln“, so der Grünen-Politiker. Allerdings habe sich die EU insgesamt zu sehr darauf verlassen, dass die USA als Bündnispartner die europäische Sicherheit garantieren. Künftig müsse Europa aktiver für die eigene Sicherheit einstehen. Der Umgang mit China sei eine Herausforderung. Oft trete die Großmacht, welche die größten Flotte und das zweitstärksten Militär weltweit besitze, aggressiv auf und verstoße im Zweifel eben gegen internationales Recht. „Wir als EU sehen uns in einem dreifachen Verhältnis zu China: Wir stehen im Wettbewerb miteinander und sind außerdem gleichzeitig Partner und systemische Rivalen“, erklärte Bütikofer.

Grüne Position: „Nordstream 2 war ein gravierender Fehler“

Geographisch am nächsten liegt die dritte Großmacht Russland. Deren Präsident Putin versuche, sich wieder der früheren sowjetischen Machtkonzentration anzunähern: mit Truppen in den Nachbarländern Ukraine, Georgien und Moldawien. Auch im Verhältnis zu den baltischen Nachbarstaaten trete Putin rhetorisch scharf auf. „Russland gegenüber eine einheitliche Politik zu vertreten, ist deswegen schwierig, weil die europäischen Länder jeweils ihre eigene Geschichte mit diesem Staat haben“, erklärt Bütikofer. „Polen teilt eine andere Geschichte mit Russland als wir Deutschen oder die Spanier.“

Nach Ansicht des grünen EU-Parlamentariers hat Deutschland einen großen Fehler begangen, als es der Ostsee-Pipeline „Nordstream 2“ zugestimmt hat – in diesem Punkt vertritt seine Partei eine dezidiert andere Haltung als SPD und CDU. Bütikofer sagte: „Hier hat Deutschland sich geweigert, auf die warnenden Stimmen der Nachbarländer Polen und Frankreich zu hören. Aber auch die Spanier und die baltischen Staaten waren dagegen und haben gesagt: ‚Das spielt Putin ins Blatt, das schadet der europäischen Gemeinsamkeit‘.“

Außerdem fordert Bütikofer grundsätzlich: „Europa muss mehr weltpolitische Verantwortung übernehmen. Und Europa muss einheitlicher agieren.“ Ein Kernproblem liege darin, dass viele EU-Mitgliedsstaaten oft ihre eigenen Interessen im Blick hätten – und nicht das große Ganze. Dazu kommt, dass im Rat der EU das Einstimmigkeitsprinzip gilt. Das bedeutet, dass in vielen zentralen Bereichen – auch in der gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik – jede Entscheidungen von jedem einzelnen Mitgliedstaat mitgetragen werden muss. „Deswegen bringt die EU einheitliches Handeln oft nicht zustande“, so Bütikofer.

Warum einheitliche Handeln oftmals scheitert

Ein Beispiel von vielen: „Als 2020 in Belarus die Wahl gefälscht wurde und daraufhin die Menschen auf die Straße gingen, vor allem die Frauen mutig demonstrierten, wollte die EU die Demokratiebewegung unterstützen – mit Sanktionen gegen den Diktator Lukaschenko. Das ist dann aber wochenlang, monatelang nicht zustande gekommen. Warum? Weil das eine Land Zypern sein Veto eingelegt hat. Dabei hatten die Zyprioten gar nichts gegen die Sanktionen gegen Weißrussland. Aber sie haben einen Deal erzwingen wollen.“ Ihr Ja sei an die Bedingung geknüpft gewesen, dass die EU dann auch gemeinsam gegen die Türkei vorgehen solle.

Dass im Koalitionsvertrag der neuen Ampel-Regierung nun das Ziel formuliert ist, das Einstimmigkeitsprinzip auf EU-Ebene abzuschaffen, war Bütikofer ein wichtiges Anliegen. Doch glaubt er nicht daran, dass dieses umgesetzt werden kann. „Die kleineren EU-Mitgliedsstaaten werden dagegen votieren, weil sie weiter ihr Mitspracherecht haben wollen.“

Handelspolitik als Waffe

Daher setzt der Grünen-Politiker auf einen anderen Weg: Nicht in der Außen- und Sicherheitspolitik, sondern in der gemeinsamen Handelspolitik liege Europas Stärke. „Im Bereich der Handelspolitik wird nicht nach dem Einstimmigkeitsprinzip, sondern per qualifizierter Mehrheit entschieden“, erklärte er. Also könne die EU gemeinsame Entscheidungen auf diesem Gebiet schneller und effizienter durchsetzen. Außerdem sei die Handelspolitik ein durchaus machtvolles Instrument, betonte Bütikofer. Sie werde teilweise zur Waffe, „zum Beispiel dann, wenn man Schutzmasken gegen Covid nur aus China kaufen kann“.

Die enge Verflechtung zwischen Handels- und Außenpolitik zu erkennen und strategisch darauf zu setzen, sei zukunftsweisend für Europa. Ein Beispiel für die Umsetzung dieser Strategie sei das internationale Programm für Infrastrukturpolitik „Global Gateway“. Bis zu 300 Milliarden Euro wird die Europäische Kommission hier mobilisieren, um in Partnerschaft mit Ländern in Asien oder Afrika digitale und andere Infrastrukturen oder erneuerbare Energien zu realisieren. „Um den Entwicklungsbedürfnissen dieser Länder ein Partner zu sein. Aber auch, um dadurch Einfluss zu nehmen auf die Entwicklung und zu verhindern, dass diese Länder in einen Hinterhof des chinesischen Regimes oder anderer autoritärer Regime verwandelt werden“, so formulierte Bütikofer.

Europäische Armee nicht sinnvoll

Befürworter einer europäischen Armee ist der Grünen-Politiker nicht. „Ich bin sehr dafür, dass wir als Europäer sicherheitspolitisch mehr zusammenrücken und mehr gemeinsame Beiträge leisten“, betonte Bütikofer. Da jedoch die Armeen der einzelnen Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ausgestattet und organisiert seien, halte er eine Fusion für nicht sinnvoll.

„Wir als EU investieren schon jetzt viel in unser Militär: Die Mitgliedsländer geben insgesamt etwa dreimal so viel Geld aus wie die russische Föderation – nur dass wir das alles zersplittert ausgeben und deswegen hohe Preise zahlen“, so der Grünen-Politiker. „Wo die USA 30 Waffensysteme haben, hat die EU in demselben Bereich 178 Systeme – und die Effektivität der Zusammenarbeit leidet“.

Dazu komme noch der unterschiedliche politische Hintergrund der Mitgliedsländer. So gebe es etwa in Deutschland den Parlamentsvorbehalt. „Laut Grundgesetz bedürfen bewaffnete Auslandseinsätze deutscher Soldaten der Zustimmung des Deutschen Bundestages, in Frankreich erteilt der Präsident direkt den Marschbefehl“, erläutert Bütikofer. Auch weil sich diese unterschiedlichen Traditionen kaum überbrücken ließen, sei eine europäische Armee nicht der beste Weg zu mehr Handlungsfähigkeit. Wichtiger und effizienter sei dagegen ein gemeinsames sicherheitspolitisches Konzept der EU-Mitgliedsstaaten.

 

Mitschnitt der Veranstaltung auf dem YouTube-Kanal der SLpB

Veranstalter der Reihe:

Die Reihe „Welche Zukunft hat Europa?“ wird gemeinsam von der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, dem Politischen Bildungsforum Sachsen der Konrad-Adenauer-Stiftung sowie dem Zentrum für Internationale Studien der Technischen Universität Dresden und dem Institut für Internationales Recht, Geistiges Eigentum und Technikrecht (TU Dresden) veranstaltet.

Nächster Termin: Dienstag, 11. Januar 2021, 18:30 Uhr: Chaos an den Außengrenzen – Was hat die EU gelernt? Online-Veranstaltung mit Gerald Knaus, Soziologe und Migrationsforscher, und Erik Marquardt, MdEP (Bündnis 90/Die Grünen).

Zu den Referenten und Referentinnen 2022 zählen Günther H. Oettinger, ehemaliger Vizepräsident und Mitglied der Europäischen Kommission, Ministerpräsident a.D. (CDU); Katja Meier, Sächsische Justiz- und Europaministerin (Bündnis 90/Die Grünen), Prof. Dr. Christoph Degenhart, Mitglied des Verfassungsgerichtshofes des Freistaates Sachsen a.D. und andere.