Mit der Amtseinführung des neuen US-amerikanischen Präsidenten Joe Biden wachsen die Hoffnungen auf eine Wiederbelebung transatlantischer und multilateraler Beziehungen. Auch für Europa bietet der Wechsel im Weißen Haus die Chance, sich selbst international neu zu positionieren. Hierzu diskutierten am 28. Januar 2021 Federica Mogherini, ehemalige EU-Außenbeauftragte und heutige Direktorin des College of Europe in Brügge, Professorin Nicole Deitelhoff von der Hessischen Stiftung für Friedens und Konfliktforschung und John Kornblum, ehemaliger US-Botschafter in Deutschland. Aufgrund der anhaltenden Corona-Beschränkungen fand die öffentliche Abendveranstaltung der Stiftung Entwicklung und Frieden (sef:), der Stiftung Frauenkirche Dresden und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung (SLpB) online statt. Eingerahmt wurde der Abend von Bildern und Orgelklängen aus der Frauenkirche Dresden.
Transatlantische Beziehungen zwischen Multilateralismus und Nationalismus
In den vergangenen vier Jahren hat sich das Gesicht Amerikas, aber auch der Welt verändert. Die amerikanische Außenpolitik der Trump-Regierung war bestimmt von der Logik eines Nullsummenspiels, so Federica Mogherini. Ziel sei es gewesen zu gewinnen, nicht zu kooperieren. Dies habe auch andere Staats- und Regierungschefs darin bestärkt, sich vor allem um eigene nationale Interessen zu kümmern. Hieraus resultierte eine erschwerte internationale Zusammenarbeit, u.a. auch im Rahmen der Vereinten Nationen. Eine besondere Herausforderung sah Mogherini darin, mit einem Präsidenten zu verhandeln, dessen Außenpolitik sich nicht mehr an Menschenrechten orientierte. Im Hinblick auf die transatlantischen Beziehungen machten sowohl Mogherini als auch John Kornblum deutlich, das größte Problem zwischen Europa und den USA habe darin bestanden, dass Präsident Trump das erfolgreiche multilaterale „Projekt Europa“ nicht mochte und nicht dulden wollte. Mogherini erinnerte daran, wie Steve Bannon beispielsweise in Europa für rechte Parteien warb sowie den Brexit unterstützte, um die EU zu destabilisieren.
Kornblum ergänzte, dass es Trump und seinen Vertrauten glücklicherweise nicht gelungen sei, den Multilateralismus zu zerstören. Dennoch haben sich nicht nur, aber auch durch die Regierung unter Präsident Trump die grundlegenden Voraussetzungen für internationale Kooperation verschoben. Vor einigen Jahren war es der internationalen Gemeinschaft noch gelungen, in vielen multilateralen Prozessen wichtige Meilensteine zu erreichen: vom Pariser Klimaabkommen über die Einigung auf die Ziele für nachhaltige Entwicklung bis zur Unterzeichnung des Iran-Abkommens. Diese Zeiten seien vorbei, so Mogherini: „Die Welt sieht heute anders aus, nicht nur weil wir neue Herausforderungen und Bedrohungen erleben, von der Pandemie bis hin zum Klimawandel, sondern auch, weil sich die Machtstrukturen verschoben haben.“
Europas Stärke – Europas Schwäche?
Auch die partnerschaftliche Beziehung zu den USA wurde auf die Probe gestellt. Für Europa sei es ein Schock gewesen, dass das „Wir“ – und darunter seien bis dato Europa und die USA als Wertegemeinschaft verstanden worden – nicht mehr garantiert war. Aber, und darin waren sich sowohl Federica Mogherini als auch Professorin Nicole Deitelhoff einig, dieser „Schock“ habe auch dazu geführt, dass Europa sich durchaus selbstbewusster positionieren konnte. Europa habe diese Bewährungsprobe bestanden und vielleicht gemerkt, dass es mehr kann, als es sich selbst zutraue. Allerdings könne Europa nur stark sein, wenn es mit einer Stimme spreche, so Deitelhoff. Dies sei in vielen außenpolitischen Fragen – z.B. im Hinblick auf Migration – nach wie vor schwierig.
John Kornblum zeigte sich hingegen enttäuscht, dass sich Europa nach der Wende in den 1990er Jahren nicht so stark entwickelt habe, wie man es von amerikanischer Seite gehofft habe. Europa sei zwar unabhängiger und demokratischer geworden, aber nicht produktiver. Er bedauerte, dass Europa seiner Meinung nach nicht mehr so gut für die Zukunftsaufgaben in Industrie, Technologie und Wissenschaft gerüstet sei wie noch in den 1980er Jahren.
Europäische Friedens- und Sicherheitspolitik weiter fassen
Für die zukünftige europäische Friedenspolitik unterstrich Mogherini, dass der Friedens- und Sicherheitsbegriff integriert betrachtet werden müsse: Investitionen in Handel, Menschenrechte, Friedensförderung, Entwicklung, Humanitäre Angelegenheiten und Klimawandel seien allesamt ebenfalls Investitionen in die Sicherheit Europas. Der Sicherheitsbegriff dürfe nicht allein auf militärische Fragen begrenzt werden. Nicole Deitelhoff bekräftigte, dass es zu Europas Stärke zähle, wenn politische und zivile Aufgaben im Vordergrund stünden. Allerdings habe sich die Weltlage in den vergangenen Jahren dahingehend verschoben, dass immer wieder die Nutzung militärischer Mittel in vielen Konfliktlagen notwendig wurde. Dies fordere Europa heraus. Zudem gelinge eine erfolgreiche Friedens- und Sicherheitspolitik nur dann, wenn sich die Mitgliedstaaten auf eine gemeinsame Linie einigen können. Aber auch das sei in den vergangenen Jahren immer wieder zum Problem geworden; insbesondere in der Migrationspolitik mangele es an gemeinschaftlichen Lösungen.
Konsens bestand darin, dass das Atomabkommen, das 2015 mit dem Iran geschlossen worden war, ein gutes Beispiel für eine zielführende multilaterale Friedens- und Sicherheitspolitik und einen gemeinsamen Erfolg der Europäer und Amerikaner ist. Das Abkommen gilt als eine wichtige Säule für Stabilität und Frieden im Mittleren und Nahen Osten. In den letzten Jahren habe man es geschafft, die Kernpunkte des Abkommens zu erhalten, und dank des Einsatzes von Deutschland und Großbritanniens seien auch Russland und China nicht abgesprungen, erklärte Mogherini. Nach der Aufkündigung durch die USA 2018 setze sie, die selbst an den Verhandlungen beteiligt gewesen war, nun auf einen schnellen Wiedereinstieg durch die Biden-Administration. Mit der neuen Nummer Zwei im US-Außenministerium, Wendy Sherman, die ebenfalls 2015 das Abkommen mit verhandelt hatte, habe Biden bereits ein klares Zeichen gesetzt. Und die Zeit dränge, da sich nach den Parlamentswahlen im Iran im Sommer 2021 möglicherweise ein anderes politisches Bild im Iran zeichne. Mogherini machte klar, dass Europa eine wichtige Rolle spielen sollte, um das Abkommen wiederzubeleben.
Hoffnungen auf die neue US-Regierung
Neben den Hoffnungen auf eine Erneuerung des Iran-Abkommens gibt es zahlreiche weitere multilaterale „Baustellen“, die die vorangegangene US-Administration hinterlassen hat. US-Präsident Biden hat bereits in seinen ersten Tagen gezeigt, dass er höchst entschlossen ist, diese Lücken wieder zu füllen. John Kornblum bescheinigte Biden aus seiner persönlichen Bekanntschaft eine multilaterale und europafreundliche Haltung. Auch Mogherini war davon überzeugt, dass die Europäer in Zukunft nicht mehr allein auf dem internationalen Parkett stehen und die Amerikaner wieder stärker in eine kooperativere Politik investieren werden. Vieles hat Biden bereits nach seinem Amtsantritt angestoßen, wie die Rückkehr ins Pariser Klimaabkommen. Gleichzeitig mahnte sie, dass die USA nach den vergangenen vier Jahren auch viele Scherben im eigenen Land kitten müssten. Hier sei auch bei den Bürger*innen viel Vertrauen in die Demokratie und das Wertesystem zerstört worden.
Weichenstellung für die normative Ausrichtung der digitalen Weltordnung
Mit Blick auf zukünftige Aufgaben für eine friedliche und kooperative Weltordnung wurde ebenfalls thematisiert, dass der Frage nach den Werten in der digitalen Welt eine große Bedeutung zukommt. Alle Diskutant*innen waren sich darin einig, dass Europa grundsätzlich eine große normative Kraft hat, die es zu nutzen gilt. John Kornblum wies allerdings darauf hin, dass dies allein nicht ausreiche. Ein Großteil der Technik, die wir nutzten, sei von amerikanischen Firmen entwickelt worden. Dies könnte sich in den kommenden Jahren ändern, Russland und China nähmen zunehmend Einfluss. Deshalb sei es entscheidend, nun im Rahmen der multilateralen Zusammenarbeit zu definieren, welche Wertevorstellungen wir für die digitale Zukunft zugrunde legen. Er befürchte eine zerstückelte Weltordnung mit verschiedenen Machtzentren und appellierte abschließend sowohl an die USA als auch an Europa, in dieser Frage stärker zusammenzuarbeiten.
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