Es ist noch nicht elf Uhr an diesem 2. Oktober. Trotzdem sitzen alle Teilnehmer des jährlich stattfindenden Schreibseminars auf ihren Plätzen und warten gespannt auf den Beginn. Keine Minute dieser wertvollen Zeit darf verloren gehen. Was werden Frau Prof. Ilse Nagelschmidt und der Schriftsteller Michael Wüstefeld vorbereitet haben? Nach herzlicher Begrüßung und einer kurzen Vorstellungsrunde, beginnt das Programm. So wird es im Hörsaal einer Uni sein und ich freue mich, den literarischen, spannenden Ausführungen gut folgen zu können. Es gibt viele Bezüge zu vorhandener Literatur großer Schriftsteller und Schriftstellerinnen. Die Liste der noch zu lesenden Bücher wird lang und länger. Ich notiere nicht allein! Durch Coronamaßnahmen werde ich aus der Spannung gerissen. Das Zimmer muss gelüftet werden.
Die Ernsthaftigkeit des Themas "75 Jahre Kriegsende" gibt tiefe Einblicke in familiäre Erlebnisse der Teilnehmer. Es darf geweint werden, wenn Ereignisse sehr berühren. Prof. Nagelschmidt und MichaelWüstefeld finden immer den Bogen zur Gegenwart. Auch der Bogen des Altersunterschiedes - von Mitte 20 bis 85 Jahren - ist bemerkenswert und sehr bereichernd. Das spürt man beim Vortragen der fertigen, eigenen Arbeiten. Die enge Verbundenheit der gesamten Gruppe spiegelt sich im "Familienfoto" und kleinen gegenseitigen Aufmerksamkeiten wieder.
30 Jahre Deutsche Einheit so verbringen zu dürfen ist ein Geschenk!
Annette Richter
Fünf Granaten
14.04.1945, 11.00 Uhr
Die Amerikaner rücken vor, kommen als Freunde und Befreier. Aus dem Wald, hinter der Bahnlinie Chemnitz-Leipzig, erscheinen die jüngsten Männer des Dorfes, der „Volkssturm“. Sie werfen Granaten.
Die erste Granate trifft den sogenannten Block der Deutschen Reichsbahn. Die zweite erreicht den Hof eines Bauern in Richtung Stadt. Es ist der Kreßnerhof. Zwei Menschen sterben. Die dritte Granate schlägt in einer Birke ein. Die vierte Granate landet in der Mitte des Hofes von Familie Stein. Die Splitter erreichen den Küchenschrank.
Die fünfte Granate ist bis heute nicht explodiert.
Als sie diesen Bericht soeben am Telefon hört, zittern ihre Hände. Sie kann den Hörer kaum auflegen. Es ist Christian Stein, dessen aufgeregte Stimme sie heute kaum erkennt. Fast 40 Jahre ist sie mit ihm befreundet. Über seine Wiesen können sie sich winken oder am Feldweg über die Neuzugänge in seinem Schafstall plaudern. Seine Besorgnis ist begründet. Die Geschichte der Granaten kannte sie schon und auch die Geschichte des großen Teiches, der zum Gut der Familie Stein gehört. Nach Kriegsende war darin jede Menge Munition entsorgt worden. Die Kinder fahren bis heute nicht Schlittschuh darauf und als Feuerlöschteich ist er unbrauchbar.
Doch nun lauert die Gefahr 20 Meter von ihrem Haus entfernt. Der Besitzerwechsel des Nachbargrundstückes ergab neue Bauaktivitäten. Eine Bruchsteinmauer sollte gebaut werden. Das Fundament wurde gerade ausgehoben. Doch vor wenigen Stunden wurde das gesamte Gelände gesperrt. Von rot-weißen Bändern war Herr Stein alarmiert und rief eigentlich aus Neugier an. Es hatte nicht lange gedauert, bis die Kampfmittelbeseitigung anrückte. Es ist Sommer 2016.
71 Jahre waren wir Fahrrädern und Autos neben der Granate gefahren, hatten die Kinder gespielt und unser Hund in der Erde gebuddelt. 71 Jahre dauerte es, bis Christian Stein erfuhr, wo die letzte, ihm angsteinflößende, und so sinnlose Granate lag. Viel wurde plötzlich wieder über die Sinnlosigkeit des Einsatzes der 15-Jährigen in den letzten Kriegstagen zum Volkssturm gesprochen. Aber auch darüber, wie oft schon "ihr" Franzose, er war ein Kriegsgefangener, zu Besuch gekommen war. Er hatte es bei seiner Zwangsarbeit "gut getroffen", wie man in Sachsen so sagt. Es war eine Freundschaft entstanden und Familie Stein reiste nach der Wende mit dem Wartburg in Frankreich ein.
Die Auffindung der letzten von fünf Granaten hat uns alle wieder ein Stück näher gebracht. Heute sind wir dankbar über 75 Jahre Frieden.
Schmochtitz, 3.10.2020