Sie konnten im Jahr 1979 die DDR verlassen, ihr Buch zu den Ereignissen von damals erschien erst 2020. Wie kam es zu diesem Projekt?
Das Buch hatte ich schon lange in mir getragen, aber nie die Gelegenheit und auch nicht den Mut gefunden, es zu schreiben. Dass es tatsächlich entstanden ist, ist einem Zufall geschuldet: Als ich mit meiner Frau für das Auswärtige Amt in Denver, Colorado war, haben wir dort Volker Bausch getroffen, der daran beteiligt war, aus dem ehemaligen Kaßberg-Gefängnis eine Gedenkstätte zu machen. Dort waren zu DDR-Zeiten die Menschen inhaftiert, die in den Westen freigekauft wurden - auch ich.
Eines Tages hat er mich eingeladen zur Museumsnacht. Ich hatte dort mit 20 oder 30 Besuchern gerechnet. Aber da waren Tausende, die stundenlang gewartet haben, um sich das anzugucken. Und vor allem junge Menschen haben mich gefragt: Was ist ein Freikauf? Wie kam das? Stundenlang habe ich ihnen das erklärt. Und ich habe gemerkt: Das Interesse ist da. Und da habe ich mich hingesetzt und dieses Buch geschrieben.
Wie kam es denn, dass Sie als sehr junger Mensch schon so eine große Distanz zum System DDR hatten?
Ich habe sehr schnell gemerkt, dass zwischen diesem sozialistischen Anspruch in der Theorie und dem Sozialismus in der Praxis eine große Lücke ist. Wir hatten Verwandte im Westen, die kamen uns regelmäßig besuchen, und die waren so ganz anders als die bösen Kapitalisten, die Klassenfeinde, die man uns in der Schule beschrieben hat. Und je älter ich wurde, desto mehr stellte ich mir dann diese Fragen: Warum stehen zum Beispiel die Soldaten an der Grenze mit einem Gesicht nach dem Osten, wenn der Feind aus dem Westen kommt? Und warum darf ich nicht ans Mittelmeer oder auf den Eiffelturm steigen? Und da wurde immer mehr klar: Ich habe ja nur ein Leben und die DDR war mir einfach zu zu eng, hier gab es zu wenig Perspektive. Und das wollte ich ändern. Da hab ich gemerkt: Ich muss hier raus. Und als meine Eltern dann im Herbst 1975 einen Ausreiseantrag stellen, war für mich klar, dass auch meine Zukunft im Westen liegt.
Nachdem die Ausreise jahrelang nicht bewilligt wurde, sind Sie am 14. September 1978 nach Berlin gefahren, um etwas sehr Riskantes zu tun….
Das war wirklich die Zäsur meines Lebens, zweieinhalb Monate vor meinem achtzehnten Geburtstag. Da bin ich ans Brandenburger Tor an die Grenze, um mich dort festnehmen zu lassen, weil ich der DDR zeigen wollte: Ich will raus aus diesem Land! Ich möchte mein Leben selbstbestimmt leben. Das hatte ich seit einem halben Jahr geplant und nur meine Eltern eingeweiht.
Als ich morgens meine Wohnungstür zuzog, habe ich das Gefühl gehabt, ich verlasse wirklich jetzt mein Leben. Ich konnte mich von keinen Freunden verabschieden. Ich konnte mich von meinem Bruder nicht verabschieden. Ich wusste nicht, ob ich wiederkomme, ob ich den Tag überlebe. Und dann bin ich nach Berlin gefahren. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Brandenburger Tor wurde ich immer ängstlicher. An der Schranke zum Grenzgebiet habe ich noch ungefähr 10 Minuten mit mir gerungen. Und dann bin ich auf die Grenze zugegangen. Ein Soldat, der mich gesehen hat, hat sofort seine Kalaschnikow entsichert und auf mich gerichtet. Etwa vier, fünf Meter voneinander blieben wir stehen, und er fragte: Wohin? Und ich sagte: In den Westen. Er sagte: Mitkommen! Dafür habe ich dann ein Jahr und zwei Monate Arbeitslager bekommen.
Sie haben während ihrer Haftzeit die DDR von ihrer ganz hässlichen Seite kennengelernt. Was war von all dem, was sie da erlebt haben, das Schlimmste?
Das Schlimmste war das Gefühl der Ohnmacht und dass man nicht wusste, was wird. Ich wurde vom Arbeitslager in Bitterfeld verschlungen, zermahlen. Ich musste immer kämpfen, das von mir doch was übrig bleibt. An manchen Tagen habe ich nur noch ans Überleben gedacht. Im Lager war ein Tag wie eine Woche, eine Woche wie ein Monat, Monat, wie ein Jahr. Es war auch gefährlich, ich habe fast täglich Arbeitsunfälle gesehen. Schlimme, schlimme Dinge. Und an jedem Morgen habe ich gedacht: Werde ich heute Abend ohne Verletzungen kommen? Werde ich das alles überstehen? Dieses Gefühl der Isolation und dieses Ausgeliefertsein, das war das Schlimmste in diesem Lager.
Wir wollen über die Zeit danach nicht zu viel erzählen, das kann man ja alles in Ihrem Buch nachlesen. Was haben Sie in der Zeit in Haft über die DDR gelernt?
Dass sie ein ganz, ganz schwaches System ist, weil man mich behandelt hat, als ob ich eine Bedrohung wäre. Dabei wollte ich den Sozialismus gar nicht verändern. Ich wollte einfach nur frei sein. Und das war offenbar schon so gefährlich für dieses System, dass sie einen 17- beziehungsweise 18-Jährigen so behandelt hat. Aber das war ein System, das auf ganz schwachen Füßen stand.
Gibt es etwas, was sie den Leuten, sagen wollen, die sie damals so behandelt haben, den Richtern oder Wärtern?
Ich wüsste nicht, was ich ihnen sagen sollte, was jetzt noch wichtig wäre. Die Realität hat gesprochen. Das System, das sie unterstützt haben, hat nicht überlebt. Es konnte nicht überleben, weil dieses System auf einer Lüge fußte, auf der Lüge, dass der Sozialismus Menschen glücklich macht. Aber man kann Menschen nicht nach einem Plan glücklich machen. Dieses System ist untergegangen, weil es untergehen musste. Mehr ist dazu nicht zu sagen.
Sie mussten zum Glück nicht abwarten, bis das System untergegangen ist. Der Westen hat sie dann freigekauft, darauf hatten sie auch spekuliert. Woher kam dieses große Vertrauen, dass die Regierung der Bundesrepublik einen renitenten 18-Jährigen aus der DDR freikaufen würde?
Das wusste ich nicht. Ich hatte keine Ahnung. Es war einfach ein Vabanquespiel. Ich hatte nur ein Ziel: Den Westen. Und ich hatte gehört, dass der Westen Leute gegen Geld freikauft. Das war so ein Gerücht, und ich glaubte das, weil es auch meine Eltern erzählt haben. Und darauf habe ich spekuliert. Aber das ist wirklich klappt, habe ich erst am letzten Tag erfahren, am 20. Juni 1979, als morgens die Zelle aufging: Ich bekam meine Zivilklamotten wieder und eine Urkunde, meine Entlassung aus der Staatsbürgerschaft der DDR. Ich wurde mit anderen Ex-DDR-Bürgern in einen Bus gesetzt und um 17 Uhr waren wir an der Grenze und sind in den Westen ausgereist. Der Jubel, der in dem Moment im Bus ausbrach, war unbeschreiblich.
Sie haben gesagt, sie hatten Angst davor, das Buch zu schreiben, weil sie nicht wussten, welche Emotionen hochkommen. Wie geht es Ihnen jetzt, nachdem sie es geschrieben haben?
Es ist mir sehr schwer gefallen. Das hat viel in mir gemacht, viele Albträume wieder hochgespült: Dinge, die ich verdrängt hatte, aber nicht verarbeitet. Das habe ich mit dem Buch getan. Und es hat einen weiteren Vorteil: Ich brauche mir die Geschichte nicht mehr zu merken. Wenn jemand etwas wissen will, kann ich sagen: Es steht in diesem Buch.
Lesungen mit Falk Mrázek:
23.10: Weißwasser, SKZ Telux, Straße der Einheit 20 (Beginn 19:00 Uhr)
24.10.: Aue, Volkshochschule, Rudolf-Breitscheid-Straße 27 (Beginn 19:00 Uhr)
25.10.: Kamenz, Stadtwerkstatt-Bürgerwiese e.V., Pulsnitzer Str. 17 (Beginn 19:00 Uhr)