Orthodoxe Theologie des Krieges? Der Krieg in der Ukraine und die orthodoxen Kirchen

In der Ukraine herrscht Krieg mit tausenden Toten, Millionen Flüchtlingen und weitreichenden Zerstörungen. Trotz dieser Opfer rechtfertigt Patriarch Kirill als Oberhaupt des Moskauer Patriarchats die militärische Invasion Russlands. Wie ist das zu erklären? Gibt es eine orthodoxe Theologie des Krieges? Und wie positionieren sich die ukrainischen Kirchen?

Seit der militärischen Invasion Russlands in die Ukraine am 24. Februar 2022 herrscht über den Osten hinaus in allen Landesteilen der Ukraine Krieg. Nach Angaben des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte mussten bis zum 4. Juli 2022 mindestens 4889 Tote unter der Zivilbevölkerung verzeichnet werden, die Zahl der Verletzten lag bei mindestens 6263. Mehr als 8 Millionen Menschen haben das Land als Flüchtlinge verlassen, die Zahl der Binnenflüchtlinge wird auf mehr als 7 Millionen geschätzt. Nach Angaben der UNESCO wurden bis zum 18. Juli 2022 164 Kulturstätten, darunter 72 religiöse Gebäude, zerstört.

Patriarch Kirill, das Oberhaupt des Moskauer Patriarchats und damit der wichtigsten religiösen Organisation im postsowjetischen Russland, hat diese Invasion in öffentlichen Stellungnahmen gerechtfertigt. Angesichts der einseitigen Aggression Russlands und der hohen Zahl an Opfern, unter denen sich auch viele orthodoxe Gläubige befinden, stellt sich die Frage: Wie lassen sich diese Stellungnahmen erklären? Hat der Patriarch damit auf politischen Druck reagiert? Wurde die Kirche politisch instrumentalisiert? Oder sind die Stellungnahmen Ausdruck der theologischen Überzeugung des Patriarchen? Spiegeln sich in ihnen grundlegende Auffassungen des Moskauer Patriarchats zu Krieg und Frieden wider?

In den Krieg ist nicht nur das Moskauer Patriarchat involviert, unmittelbar sind davon vielmehr die orthodoxen Kirchen betroffen, die in der Ukraine gegenwärtig die Mehrheit der orthodoxen Gläubigen und damit mehr als 60% der Bevölkerung repräsentieren: die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK), die bis vor kurzem noch eng mit dem Moskauer Patriarchat verbunden war, und die Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU), die 2018 gegründet wurde und 2019 durch das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel die Anerkennung als autokephale Kirche erhalten hat. 

Moskauer Patriarchat

Für die Stellungnahmen Patriarch Kirills zum Krieg in der Ukraine ist charakteristisch, dass er den Krieg nicht als einen solchen benennt, sondern allenfalls von einem Konflikt oder auch allgemein von einem „Unheil“ spricht, unter dem die Bevölkerung in der Ukraine zu leiden hat. In Übereinstimmung mit den politischen Sprachregeln versteht er den Krieg als militärische Spezialoperation, die der Verteidigung Russlands gegenüber äußeren Feinden dient.

Dabei sind es drei Verteidigungslinien, die der Patriarch skizziert: Russland habe sich einerseits gegenüber weit in den Osten hinein erhobene geopolitische Ansprüche des „Westens“ zur Wehr zu setzen. Andererseits habe es dem damit verbundenen Bestreben Einhalt zu gebieten, westliche Wertvorstellungen zu implementieren, was mit der gezielten Verdrängung der russischen Sprache und der Vernichtung über Jahrhunderte bestehender historischer und kultureller Traditionen einhergehe. Der Patriarch konnte deshalb den Krieg in der Ukraine mit dem Schutz der orthodoxen Gläubigen vor „Gay-Pride-Paraden“ in Zusammenhang bringen. Schließlich gehe es um einen Kampf gegen „äußere dunkle und böse Kräfte“, einen „metaphysischen Krieg“, der darauf zielt, die biblisch beschriebene Ankunft des „Antichristen“ aufzuhalten.

Vom "Gerechten Krieg"

Mit dieser Argumentation kann sich der Patriarch auf die offizielle Position des Moskauer Patriarchats zu „Krieg und Frieden“ stützen, wie sie in der im Jahre 2000 verabschiedeten Sozialkonzeption als dem wichtigsten Dokument des Moskauer Patriarchats zu sozialethischen Themen festgehalten ist. Hier wird der Krieg, wiewohl er als Ausdruck des Bösen im Menschen begriffen wird, als grundsätzlich legitim verstanden, wenn er der „Verteidigung der Nächsten sowie der Wiederherstellung verletzter Gerechtigkeit“ gilt. Dementsprechend kann an die augustinische Vorstellung von einem „gerechten Krieg“ angeknüpft werden.

Mit dem Hinweis auf Joh 15,13 („Es gibt keine größere Liebe, als wenn einer sein Leben für seine Freunde hingibt.“) wird der soldatische Dienst als Konsequenz der geforderten patriotischen Haltung positiv hervorgehoben und die besondere Fürsorge der Kirche für das Militär herausgestellt. Zwar finden sich in der Sozialkonzeption auch einige Überlegungen zu dem Friedensauftrag der Kirche, der u.a. darin gesehen wird, dass sich die Kirche „der Kriegs- und Gewaltpropaganda und den verschiedenen Erscheinungsformen des Hasses“ widersetzt, „die in der Lage sind, brudermordende Konflikte zu provozieren“. Im Mittelpunkt steht jedoch der Krieg, der als unumgängliches Mittel des „Kampfes gegen das Böse“ bestimmt wird.

Was speziell den Krieg in der Ukraine betrifft, so wird in verschiedenen aktuellen kirchlichen Stellungnahmen als Legitimationsgrund die auch staatlich propagierte Idee einer „russischen Welt“ (russkij mir) angeführt. Mit der Idee wird die historische und kulturelle Einheit der Brudervölker der Russen, Weißrussen und Ukrainer betont: Diese Völker seien gemeinsam der „Heiligen Rus“ entsprungen, sie seien gemeinsam aus dem „Kiewer Taufbecken“ hervorgegangen. Es seien Feinde von außen, die das Volk spalten wollten. Der Krieg wird deshalb als Verteidigung der „Wahrheit Gottes“ verstanden, dass diese Völker ein Volk seien, religiös verbunden durch die Zugehörigkeit zum Moskauer Patriarchat.  

Die offizielle Position des Moskauer Patriarchats zum Krieg in der Ukraine lässt sich damit nicht als Ausdruck politischer Opportunität interpretieren, sie spiegelt vielmehr theologische Überzeugungen wider, die den Krieg in der Ukraine religiös legitimieren. Von „westlicher“ Seite sind sie als solche entsprechend scharf kritisiert worden: Die Ratsvorsitzende der EKD, Annette Kurschus, wertete die Aussagen von Patriarch Kirill als „Gotteslästerung“, Kardinal Kurt Koch fand darin eine „pseudoreligiöse Rechtfertigung des Angriffskrieges“ und sprach von „Häresie“. Bemerkenswerterweise gab es jedoch auch Kritik aus dem Moskauer Patriarchat selbst. Dazu gehörte u.a. ein offener Brief von Priestern und Diakonen, die den „brudermörderischen Krieg“ in der Ukraine verurteilt und zu seinem sofortigen Ende aufgerufen haben.

Die Ukrainische Orthodoxe Kirche (UOK)

Eine unmissverständliche Verurteilung des Krieges kam von einer Kirche, die sich in den letzten Jahren betont unpolitisch gegeben hatte und von der deshalb eine solche Reaktion nicht unbedingt zu erwarten gewesen wäre: der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats. Diese Kirche war anders als die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats, die sich kurz nach der Gründung eines souveränen Staates der Ukraine im Jahre 1991 von dem Moskauer Patriarchat abgespalten hatte, in enger Verbindung mit dem Moskauer Patriarchat verblieben.

Ihr wurden in dieser Zeit zwar gewisse autonome Rechte zugebilligt, sie galt jedoch als Repräsentantin des Moskauer Patriarchats auf ukrainischem Boden. Mit dem Moskauer Patriarchat teilte sie die Idee einer historisch tief verwurzelten kulturellen und religiösen Einheit der ostslavischen Völker. In der politischen Situation der Ukraine war eine solche Position immer schwieriger zu vermitteln. Um sich nicht zu kompromittieren, hat sich die Kirche deshalb mit Stellungnahmen zu politischen Ereignissen stark zurückgehalten und im Gegenzug ihren geistlichen Auftrag herausgestellt.

Als sich Metropolit Onufrij, das Oberhaupt der Ukrainischen Orthodoxen Kirche, bereits unmittelbar nach Beginn des Krieges zu Wort meldete und den Krieg als „Sünde Kains, der seinen eigenen Bruder aus Neid erschlug“ verurteilte, ließ das entsprechend aufhorchen und unterstrich die Wahrnehmung dieses Kriegs als eines durch nichts zu rechtfertigenden militärischen Angriffs. In einer Predigt wenig später forderte der Metropolit allerdings Russland und die Ukraine zu Verhandlungen auf und betonte, dass „mit dem Schwert“ erzwungene Lösungen nicht dauerhaft sein könnten.

Es waren Aussagen wie diese, die der Ukrainischen Orthodoxen Kirche den Vorwurf eines „geistlichen Quietismus“ eintrugen: des Rückzugs aus dem Politischen in eine reine Welt des Geistlichen in einer Situation, in der kirchlich eine klare Stellungnahme gefordert ist. Bei den betreffenden Aussagen des Metropoliten ist allerdings zu beachten, dass sie in eine Zeit fallen, in der sich die Ukrainische Orthodoxe Kirche noch als Teil des Moskauer Patriarchats verstand und sich positiv auf die gemeinsame Herkunft aus dem „Taufbecken des Dnepr“ bezog. Am 27. Mai dieses Jahres sollte sich das ändern: Auf einer Synode hat sich die Ukrainische Orthodoxe Kirche überraschend von dem Moskauer Patriarchat losgesagt. In der dazu veröffentlichten Erklärung wird als hauptsächlicher Grund für die Lossagung die Position des Moskauer Patriarchats zum Krieg genannt.  

Orthodoxe Kirche der Ukraine (OKU)

Die Orthodoxe Kirche der Ukraine ist aus zwei orthodoxen Kirchen hervorgegangen, die sich dezidiert als Kirchen verstanden haben, die in der Ukraine beheimatet sind und Interessen der Ukraine vertreten: die bereits erwähnte Ukrainische Orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats und die Ukrainische Autokephale Kirche. Letztere führt ihre ursprüngliche Gründung auf das Jahr 1920 zurück, seit Anfang der 1990er-Jahre konnte sie wieder eigene kirchliche Strukturen in der Ukraine etablieren. Auf einer Synode im Jahre 2018, die auf die Vereinigung aller orthodoxen Kirchen in der Ukraine zielte, haben sich die beiden Kirchen zur Orthodoxen Kirche der Ukraine zusammengeschlossen, die Ukrainische Orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats blieb der Synode fern.

Die Gründung einer eigenständigen, vom Moskauer Patriarchat unabhängigen Kirche war durch das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel befördert worden, im Jahre 2019 wurde die Orthodoxe Kirche der Ukraine offiziell durch das Ökumenische Patriarchat anerkannt. In Reaktion darauf hat das Moskauer Patriarchat die Kirchengemeinschaft mit dem Ökumenischen Patriarchat aufgekündigt, die neu gegründete Orthodoxe Kirche der Ukraine galt in der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats entsprechend als illegitim. Vor diesem Hintergrund sah sich Metropolit Epifanij, der 2018 als Oberhaupt der Orthodoxen Kirche der Ukraine gewählt worden ist, von Anfang an in Opposition zum Moskauer Patriarchat.

Bereits vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine am 24. Februar hat er zu nationaler Einheit und kämpferischen Widerstand gegenüber Russland aufgerufen, so kurz vor dem Angriff im Zusammenhang mit der russischen Anerkennung der „Volksrepubliken“ Donezk und Luhansk. Scharfe Kritik hat Metropolit Epifanij insbesondere an der Idee einer „russischen Welt“ geübt. Diese Idee habe schreckliches Leid in der Ukraine verursacht, jede russische Bombe auf die Ukraine zerstöre den Mythos von der „Heiligen Rus“ und dem „dreieinigen Volk“ der Russen, Weißrussen und Ukrainer. Es müsse deshalb „für immer mit dieser blutbefleckten chauvinistischen Ideologie gebrochen werden“. In den letzten Monaten hat der Metropolit deshalb mehrfach an die Ukrainische Orthodoxe Kirche appelliert, sich vom Moskauer Patriarchat zu distanzieren und sich der Orthodoxen Kirche der Ukraine anzuschließen.

Fazit

Eine ausgearbeitete „orthodoxe Theologie des Krieges“ hat keine der in den Krieg in der Ukraine involvierten Kirchen entwickelt. Am ehesten lassen sich Leitlinien einer solchen Theologie noch in der Sozialkonzeption des Moskauer Patriarchats und als spezielle Begründung für den Krieg in der Ukraine in der Idee einer „russischen Welt“ finden. Ansonsten gibt es nur eine Reihe von kirchlichen Stellungnahmen, die sich dahingehend zusammenfassen lassen, dass anders als in den „westlichen“ Kirchen nicht die in den letzten Jahrzehnten entwickelte Vorstellung von einem „gerechten Frieden“, sondern von einem „gerechten Krieg“ bestimmend ist.

Der Einsatz militärischer Mittel wird dabei von beiden Seiten gutgeheißen – vom Moskauer Patriarchat auf russischer und von der Orthodoxen Kirche der Ukraine auf ukrainischer Seite. In beiden Fällen wird man deshalb nicht von politischer Instrumentalisierung der Kirchen sprechen können, beide Kirchen begreifen den Krieg vielmehr als unumgängliches Mittel, berechtigte politische Interessen durchzusetzen. Die Ukrainische Orthodoxe Kirche hat sich durch ihre vermittelnde Position hingegen den Vorwurf des „geistlichen Quietismus“ eingetragen, ihr Aufruf zu Verhandlungen und zum Frieden wurde als Parteinahme für Russland und das Moskauer Patriarchat interpretiert. Mit ihrer Lossagung von dem Moskauer Patriarchat hat die Ukrainische Orthodoxe Kirche jetzt die Konsequenzen gezogen. Das Beispiel der Ukrainischen Orthodoxen Kirche zeigt damit die Schwierigkeit, der genuin kirchlichen Aufgabe der Friedensverkündigung in Zeiten des Krieges gerecht zu werden.

Zur Zeit ist nicht absehbar, ob es in der Ukraine zu einer Vereinigung der Orthodoxen Kirche der Ukraine und der Ukrainischen Orthodoxen Kirche und damit zu einer innerkirchlichen Befriedung kommt. Es gab zwar ein erstes informelles Treffen zwischen Vertretern beider Kirchen, aber ein offizieller Dialog wurde bisher nicht aufgenommen. Auch auf globaler Ebene sind kaum Ansätze einer innerorthodoxen Verständigung erkennbar, eher trägt das Moskauer Patriarchat durch den Aufbau paralleler Strukturen zur weiteren Spaltung bei. Wie sich damit auf kirchlicher Seite die politische Konfrontation widerspiegelt, so ist umgekehrt von den Kirchen kaum ein Impuls zu einer friedvollen Lösung zu erwarten. Es werden deshalb voraussichtlich erst nach dem Ende des Krieges die Weichen neu gestellt – auch in Hinblick darauf, wie auf orthodoxer Seite der Krieg theologisch zu konzipieren ist.

Prof. Dr. Jennifer Wasmuth ist Lehrstuhlinhaberin für "Ökumenische Theologie unter besonderer Berücksichtigung des Orthodoxen Christentums und seiner globalen Wirkung in Geschichte und Gegenwart“ an der Theologischen Fakultät der Georg-August-Universität in Göttingen. Sie ist seit vielen Jahren an Dialogen mit orthodoxen Kirchen beteiligt. Dazu gehören der bilaterale Dialog der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) mit dem Moskauer Patriarchat und der internationale Dialog des Lutherischen Weltbundes (LWB) mit den byzantinisch-orthodoxen Kirchen.