Christian Gesellmann sieht nicht aus, als hätte er zu lange geschlafen. Eher wirkt der Journalist wie man sich einen typischen Reporter so vorstellt: leicht übernächtigt, Oberlippenbart, Lederjacke und Jeans. Trotzdem bedauerte der 36-Jährige „die Entwicklungen 1989/90 regelrecht verpennt zu haben“. Gemeinsam mit Journalistin Adina Rieckmann eröffnete er am Abend des 14. Oktober die Reihe „30/30 - Generationendialog zur Wiedervereinigung“. Gesellmann meinte seine Verpenntheit wörtlich: Als die Mauer fiel, als sich die beiden deutschen Staaten wiedervereinigten, war er im zarten Alter von fünf, sechs Jahren noch gebunden an ein strenges Schlafregime und bekam nur wenig mit von den Ereignissen, die sich vor allem abends auf den Straßen, in den Wohnzimmern, in den Nachrichten abbildeten.
Ein wenig bemühte sich Adina Rieckmann, den Kollegen zu trösten, der mit ihr auf der Bühne des Dresdner Kulturzentrums Scheune saß. Die Landeszentrale will mit „30/30“ aus Geschichte Geschichten machen. Im Jahr 30 der Wiedervereinigung lädt sie im Doppelpack zum Gespräch und zur Diskussionen ein: Jene, die die Einheit im Alter von etwa 30 erlebt haben, treffen auf die Nachwendegeneration – Menschen, die um 1990 geboren sind. Durch diese besonderen Begegnungen entstehen neue Perspektiven, Trennendes und Verbindendes wird sichtbar. Bei 30/30 erzählen Menschen ihre Geschichte, damit das Jubiläum auch in die Zukunft weist. Thema des ersten Abends: „Wie halten wir's mit der Presse?“
Wunsch nach Offenheit
Abenteuerlich klangen Rieckmanns Schilderungen. Die 1962 geborene Journalistin ist überhaupt erst aufgrund der Ereignisse dieser beiden prägenden Jahre zu ihrem Metier gekommen. Sie berichtete von einem Pflasterstein, der noch mahnend in ihrem Regal liege – beinahe hätte sie ihn geworfen in einer besonders aufwühlenden Demo-Nacht. Beinahe. Später habe sie Wäschekörbe voll Leserpost an die Vorgängerredaktion der Zeitung gesichtet, die heute noch als Dresdner Neueste Nachrichten überlebt hat. „Meine Dresden-Kenntnisse kommen von der Sichtung der Körbe“, sagte die 1986 in die Landeshauptstadt gezogene Potsdamerin. „Die Menschen haben damals die Chance gesehen und ergriffen, endlich die Wahrheit sagen zu dürfen.“ Also ist sie Geschichten nachgegangen von aufgelösten Betrieben, korrupten Vorgesetzten, von Solidarität untereinander und dem Wunsch nach Offenheit und Ehrlichkeit in Kritik. Allein durch die Briefe habe sie sich eine zeitgeschichtliche und eine geographische Karte von Dresden erarbeitet.
„Das muss ich den Jüngeren hier vielleicht mal erklären“, sagt Rieckmann an diesem Abend häufiger. Unter strengen Hygieneauflagen aufgrund der Corona-Pandemie fanden 35 Besucherinnen und Besucher an diesem Abend Platz im Saal der Scheune. Gesellmann, der mit seinem Buch "Ostdeutschland verstehen" nach Erklärungen für heutige Gemengelagen auch in der Wendezeit sucht, gab an vollkommen zufrieden damit zu sein, „die Erst-Mitaufarbeitung dieser Zeit zu machen“ und spann den Bogen hin zum derzeitigen Verhältnis zwischen Publikum und Medien. „Wir können ein Höchstmaß an Kritik liefern, ohne gleich mit einem Schreibverbot belegt zu werden“, sagte er und bedauerte im gleichen Atemzug den Niedergang des Lokaljournalismus, die geringe Wertschätzung, die sich in Stellenabbau und auch in der Bezahlung niederschlage: „Ich mag den Lokaljournalismus, aber ich will in keiner Lokalredaktion arbeiten.“ Tätig ist er vor allem für das Online-Magazin Krautreporter und überregionale Medien.
Sachsen, "ein ganz besonderes Volk"
Adina Rieckmann, die für kurze Zeit Pressesprecherin des 1990 neu geschaffenen Staatsministeriums für Kultur gewesen ist, arbeitet heute als freie Journalistin vor allem für den Mitteldeutschen Rundfunk. „Beim Verkauf der Zeitungen ging es damals nicht um die Qualität der Blätter, es ging um die Immobilien“, konstatierte sie. Die Auswirkungen dieses Umgangs mit Medien in Ostdeutschland seien bis heute zu spüren, in der Besetzung von Führungspositionen mit Menschen aus den noch immer neu genannten Bundesländern, beim „Ostbashing mit großer Lust“, wenn es einmal mehr darum ginge, die Sachsen „als ein ganz besonderes Volk“ zu porträtieren, den Osten als bloßen Hort von Neonazis, Zurückgebliebenen und Frustrierten zu zeichnen. Beide, Gesellmann und Rieckmann, fühlten sich nicht repräsentiert in den großen, meinungsbildenden Medienhäusern.
Im Publikum stellte sich die Frage, ob es denn, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, immer noch notwendig sei, in den Kategorien Ost und West zu denken und zu argumentieren. In Bezug auf Medienlandschaft und Berichterstattung waren sich die Journalistin und ihr Kollege einig: So lange es noch Themen gebe, in denen sich der Osten grundsätzlich unterscheidet von den sogenannten alten Bundesländern – seien es Eliten, Kapital oder das Bild des Ostens in den Medien – so lange diese Unterschiede zurückzuführen seien auf strukturelle Veränderungen und Bedingungen, die ihre Ursache haben in den Ereignissen während der Wendejahre, so lange müsse auch diese Diskussion geführt werden.
Tendenz, die Pressefreiheit zu gefährden
Nur ein differenziertes Bild, das alle Grautöne berücksichtigt, könne auch das Vertrauen der Menschen in die Medien wieder herstellen, insbesondere eben auch in Sachsen. Hier beobachten Adina Rieckmann und Christian Gesellmann Druck auf die Medien von mehreren Seiten: von Menschen in der Politik, aus der Wirtschaft, innerhalb der Medienhäuser selbst. Andererseits bombardierten Menschen aus dem rechtskonservativen und Pegida-Umfeld Medien bewusst mit Leserbriefen und Unterstellungen und diktierten auf diese Weise Themen. „Die Tendenz, die Pressefreiheit zu gefährden, ist in Sachsen wahrscheinlich noch höher als in anderen Bundesländern“, konstatierte Christian Gesellmann. Sein Lösungsvorschlag: Konstruktiver Journalismus, der Leserinnen und Leser einbezieht und ihnen nicht nur das Gefühl vermittelt, wichtiger Teil der Berichterstattung zu sein. „Das ist zwar aufwändiger als einfach nur zu kritisieren, zahlt sich auf lange Frist aber aus“, sagte er abschließend.
Die nächste Veranstaltung im Rahmen der Reihe „30/30 - Generationendialog zur Wiedervereinigung“ bringt am 4. November, ab 20 Uhr, unter der Fragestellung „Dicke Luft? Umweltschutz als Kritik am System“ Andreas Schönfelder, Gründer der Umweltbibliothek Großhennersdorf und Fridays for Future Dresden auf die Bühne des Dresdner Kulturzentrums Scheune.