Schön, dass ich heute bei Ihnen in Mittweida sein kann, um mit Ihnen hier vor Ort und auch digital den 30. Geburtstag der Landeszentrale für politische Bildung im Freistaat Sachsen zu feiern. Zunächst einmal: Herzlichen Glückwunsch!
Es freut mich sehr, dass wir nicht in Ihrer schönen Landeszentrale in der auch sehr schönen Landeshauptstadt zusammenkommen, sondern in der Hochschule Mittweida, einem Ort mit 150-jähriger Lehr- und Forschungstradition, einem Ort der Bildung mitten im Herzen Sachsens. Ein schönes Sinnbild dafür, wo sich die politische Bildung verortet: dezentral und damit nah bei den Menschen.
Lieber Herr Dr. Löffler,
es muss wohl auch auf Ihren Wunsch zurückgehen, dass es zwar einen Blick zurück und würdigende Worte darüber gab, was in den letzten 30 Jahren Bildungsarbeit gelungen ist. Vor allem wollen wir uns nun aber ganz unfeierlich der politischen Bildung, der Zivilcourage und dem Dialog in Zeiten der Polarisierung zuwenden, um anschließend einen Blick in die Zukunft zu werfen - oder wie Sie es bereits so treffend in der Ankündigung zu dieser Veranstaltung formuliert haben: „Für uns bedeutet das 30 Jahre Dialog, Moderation, jede Menge Bücher, Tagungen, Lesungen und Vorträge, kurz: das Ringen um eine politische Kultur, in der Konflikte sachlich ausgetragen werden.“
Statt Blumen also die kritische Verortung im Hier und Jetzt. Dies entspricht auch dem Fahrplan, den der große liberale Vordenker Ralf Dahrendorf bereits 1990 in seinen Betrachtungen über die Revolution in Europa allen Mittelosteuropäischen Ländern auf ihren Weg in die Freiheit vorhersagte: die verfassungsrechtliche Festschreibung des demokratischen Rechtsstaats würden 6 Monate, für den Übergang zur Marktwirtschaft 6 Jahre und für die Entwicklung von Bürgertugenden zu selbstständigen und verantwortungsvollen Handeln 60 Jahre benötigt!
Nach der Dahrendorf´schen Prognose wäre nun also die Halbzeit erreicht auf dem Weg zu einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft, getragen und gepflegt von engagierten Demokratinnen und Demokraten. Unabhängig davon, dass er wohl nicht die Sondersituation mit den Chancen, die die deutsche Einheit bot, im Blick hatte, lässt sich heute feststellen: Seine Vorhersage war zu pessimistisch und zu optimistisch zugleich.
Was die Entwicklungspotentiale der ostdeutschen Mehrheitsgesellschaft betrifft, war seine Annahme zu pessimistisch: Die große Mehrheit wählt wie die Mehrheit der Westdeutschen. Und die große Mehrheit der Ostdeutschen ist froh und glücklich, in der Demokratie angekommen zu sein. Dies belegen auch die Zahlen des Sachsen-Monitors 2018 mit Blick auf die Zufriedenheit mit der Demokratie und seiner Institutionen.
Zu optimistisch - wie so viele Menschen in den Jahren nach der Friedlichen Revolution - war Dahrendorf wohl bei der weiteren Entwicklung der demokratischen Gesellschaften nach der Auflösung des Ost-West-Konflikts. Das Ende der Geschichte war doch noch nicht erreicht. Allerdings hat er die neuen Herausforderungen für die westlichen Demokratien vor allem in Folge der zunehmenden und sich beschleunigenden Globalisierung selbst frühzeitig erkannt. So warnte Dahrendorf 2003 bereits mit seinen acht Thesen zum Populismus vor einer zunehmenden Polarisierung, nicht mehr so sehr zwischen rechts-links, sondern zwischen einer offenen und geschlossenen Gesellschaft, zwischen Verteidigern und Entdeckern oder somewheres und anywheres, wie es in verschiedenen aktuellen sozialwissenschaftlichen Studien nun beschrieben wird.
Wer also heute auf den Osten unseres Landes blickt, muss erkennen, dass die Menschen hier doppelt herausgefordert sind: Immer noch durch den spezifischen Systemwechsel nach 1989, und schon durch die den alle Menschen verunsichernden revolutionären Übergang vom Industrie- zum Informationszeitalter mit Digitalisierung, Entgrenzung, Globalisierung, Klimawandel und aktuell die Pandemie. All diese Umbrüche und Krisen verunsichern Menschen rund um den Globus und so erleben wir, dass die daraus erwachsenden Ängste einen Teil der Bevölkerungen populistischen Parolen gegen „das Establishment“ oder „das System“ folgt. In Polen, Ungarn, Brasilien und im Amerika unter Trump haben sich Rechtspopulisten durchgesetzt, in verschiedenen Ländern Lateinamerikas siegten Linkspopulisten. Hier wie dort hoffen ihre Wähler auf starke Anführer, die ihnen trotz komplexer Lage beruhigende, einfache Lösungen vorschlagen. Es fehlt an Geduld, die es aber in einer tiefgreifenden Übergangssituation zu bewahren gilt, wenn das Alte verschwindet, das Neue aber erst allmählich geboren wird. Und es fehlt an Vertrauen, dass sich die Demokratie der mehrfachen Herausforderung gewachsen zeigen wird. Und in der Breite der Gesellschaft fehlt es zuweilen am Willen, den konstruktiven Streit zwischen den unterschiedlichen Polen der Gesellschaft zu ertragen und als Teil des demokratischen Aushandlungsprozesses zu betrachten. Lassen Sie uns also mit allen, die das Argument schätzen und nicht die Wutkeule schwingen, in das politische Gespräch eintreten. Kontroversen sind kein lästiges Übel, sondern notwendige Voraussetzung für das Gelingen von Demokratie. Wir brauchen die Auseinandersetzung – entschlossen, aber mit Zivilität, ohne Ausgrenzung und Verachtung. Robuste Debatten und Streit in der Sache sind nicht schädlich. Demokratie darf Unterschiede nicht glattbügeln, sondern sie muss umgekehrt Raum geben für Differenz und Widerspruch. Nur im Disput der Verschiedenen lassen sich Alternativen prüfen und Kompromisse finden, die von möglichst Vielen akzeptiert werden. Deshalb gehört Toleranz gegenüber dem Anderen zu einer aufgeklärten Demokratie dazu. Eine Erkenntnis die in unserer Geschichte hart errungen wurde und so habe ich mit Freude gelesen, dass die Landeszentrale zum Beispiel einen Workshop für Schülerinnen und Schüler zum Thema „Endlich Frieden - Besser Streiten. Miteinander im Gespräch bleiben vor dem Hintergrund des dreißigjährigen Krieges“ anbietet.
Es ist also klar: Damit das Miteinander der Verschiedenen gelingt, brauchen wir den Dialog und das Engagement von möglichst vielen Bürgerinnen und Bürgern, die politische Funktionsträger nicht stellvertretend für sich und anderen agieren lassen, sondern die sie stützen und tragen. Zu einer redlichen Debatte gehört übrigens auch die kritische Selbstreflexion. Der öffentliche Diskurs, Sie wissen es alle, er ist nie perfekt. Er ist es auch in den vergangenen Jahrzehnten nie gewesen. In der Politik und in den Medien zeigt sich in letzter Zeit allerdings die Tendenz, aus guten pädagogischem Absichten heraus Diskussionen lieber einzuhegen – anders ausgedrückt: tatsächlich oder angeblich schädliche Auffassungen auszugrenzen. Dem vermeintlich Guten oder tatsächlich Guten soll zum Durchbruch verholfen werden, damit dass vermeintlich Falsche nicht gefördert wird. Auch hier geht es um das richtige Maß. Der demokratische Diskurs kommt nicht ohne Normen aus.
„Eine gewisse Polarisierung ist normal, ja sogar gesund für eine Demokratie. Aber extreme Polarisierung kann sie zerstören.“ Zu diesem Schluss kommen Daniel Ziblatt und Steven Levitsky in einem aktuellen Aufsatz mit Blick auf die Situation in den USA. Sie verweisen darauf, dass „wer einen Sieg der anderen Seite als Katastrophe oder als völlig inakzeptabel ansieht, neigt dazu, außergewöhnliche Mittel zu rechtfertigen, um das zu verhindern: Gewalt, Wahlbetrug, Putsch.“
Nun steht unsere Demokratie nicht am Rande der Dysfunktionalität oder gar Selbstzerstörung, wie es für die USA trotz der Abwahl von Donald Trump leider immer noch realistisch erscheint. Es gibt in Deutschland gleich mehrer stabilisierende Faktoren, die uns vor einer vergleichbaren Entwicklung bewahren: Die soziale Markwirtschaft, in der die schöpferische Kraft des Kapitalismus eingehegt und mit sozialem Ausgleich verbunden wird, eine beträchtliche Medienvielfalt mit einem unabhängigem öffentlichen Rundfunk, ein freiheitliches Bildungssystem, zu deren Schätzen die Akteure der Politischen Bildung zählen, starke und unabhängige Institutionen und vor allem Gerichte sowie nicht zuletzt ein politisches System, das mit dem Verhältniswahlrecht einer Polarisierung entgegenwirkt, indem es zu einer Ausdifferenzierung der politischen Lager kommt. Dabei habe ich eine rechtstreue Bürgergesellschaft, die ganz überwiegend die Demokratie bejaht, noch gar nicht erwähnt. Das ist ein großer Unterschied zum Deutschland der Weimarer Republik, die auch daran zugrunde ging, dass es zu wenige Demokraten gab.
Sehr geehrte Damen und Herren,
auch bei uns erleben wir allerdings, dass Rechts- und Linksradikale sowie Islamisten den demokratischen Grundkonsens in unserem Land bedrohen, Extremisten und Fanatiker säen Hass und verbreiten das zersetzende Gift von Fremdenfeindlichkeit, Rassismus und Antisemitismus, sie verachten unseren freiheitlich-liberalen Lebensstil und schrecken vor Morden aus ideologischen oder religiösen Gründen nicht zurück. Aber sie bleiben ohne Aussicht darauf unsere liberale Demokratie substantiell zu gefährden. Hier muss und wird sich der Rechtsstaat als handlungsfähig gegen alle erweisen, die unsere Demokratie mit Gewalt bedrohen. Und die große Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger wird sich widersetzen, in dem sie weder dem Hass noch den populistischen Verführern folgen werden.
Wer die Demokratie heute schützen möchte, der muss auch die Debattenräume schützen, insbesondere die digitalen Debattenräume, die ja immer bedeutender für den öffentlichen Diskurs werden. So müssen wir neben all den positiven Errungenschaften, die die Digitalisierung hervorbringt, auch deren Kehrseite zur Kenntnis nehmen: Forscher des MIT (Massachusetts Institute of Technology) haben nun bestätigt: Unwahrheiten verbreiten sich über Social Media-Plattformen deutlich schneller und weiter als Fakten. Diese Anfälligkeit für Fehlwahrnehmungen liegt schon in der menschlichen DNA begründet. Wir Menschen erleben echte Freude - einen messbaren Dopaminschub - wenn wir Informationen verarbeiten, die unsere Überzeugungen unterstützen. Geprüfte Informationen erhalten so durch ein Reich der Fiktionen verführerische Konkurrenz. Fakten und wissenschaftliche begründete Argumente sind dann nur noch eine von mehreren Interpretationsmöglichkeiten und eine sachliche, evidenzbasierte Debatte wird systematisch untergraben.
Der Schutz der Integrität von Debattenräumen ist eine Aufgabe für die Institutionen des Rechtsstaates, aber vor allem auch seiner Bürgerinnen und Bürger. Auch in Debatten und insbesondere in digitalen Debatten brauchen wir die Zivilcourage aller aufrichtigen Demokratinnen und Demokraten.
Und es ist offensichtlich, dass unter solchen Bedingungen die zentralen Aufgaben der politischen Bildung wichtiger und dringlicher sind denn je:
Bürgerinnen und Bürgern Wissen und Kompetenzen vermitteln, mit denen sie sich ein eigenes Urteil bilden und selbstbestimmt Entscheidungen fällen können.
Bürgerinnen und Bürger dazu befähigen, die eigene Situation zu reflektieren, Selbstverantwortung und Verantwortlichkeit für die Gesellschaft zu erkennen, zu übernehmen und gestaltend auf Prozesse einzuwirken.
Genau an dieser Stelle wirkt die politische Bildung flankierend: vor Ort und nah bei den Bürgerinnen und Bürger. Es ist wichtig, dass wir die lokalen Strukturen, die Kommunen als jenen Raum begreifen, in dem sich die Debatten-Demokratie für einen Großteil der Gesellschaft materialisiert. Es ist der Raum, in dem wir lernen, die größere politische, kulturelle, auch religiöse und ethnische Diversität zu berücksichtigen, die sich in unserem Land entwickelt hat. Unterschiede, Widersprüche und sogar Gegensätze werden ein Teil unserer Wirklichkeit bleiben, ob uns das gefällt oder nicht. Diese Pluralität wollen wir aber nicht nur aushalten, sondern wir wollen ihr verstärkt Rechnung tragen – durch Toleranz gegenüber verschiedenen Haltungen, durch Respekt gegenüber dem Anderen, auch dem Fremden. Und durch die Entwicklung einer gemeinsamen Zukunft, die alle gleichermaßen, Alteingesessene wie Neubürger, auf dieselben Grundwerte und demokratischen Regeln verpflichtet und allen eine Perspektive in Wohlstand und Freiheit bietet.
Bürgerinnen und Bürger, die selbst bereit sind Verantwortung zu übernehmen, egal ob in Vereinen, auf lokalpolitischer Ebene, in Nichtregierungsorganisationen, Parteien oder anderen Bündnissen und Bewegungen, sie alle stärken das Fundament unserer Demokratie. Wenn es der politischen Bildung gelingt, Menschen in diesem Sinne zu aktivieren, dann ist das das schönste Geschenk, das sich alle, die sich in diesem Bereich engagieren, machen können. Und wer die Arbeit der politischen Bildung, der Bundes- und Landeszentralen kennt, der kann auch mit mehr Optimismus in die Zukunft schauen.
Ich weiß, dass den Bürgern Zumutungen nicht erspart bleiben werden und dass Viele die Demokratie immer wieder mit Skepsis, sogar Ablehnung begegnen werden. Ich weiß, dass es nicht allen Teilen der Bevölkerung leicht fällt, sich dem Wandel und Fortschritt zu stellen und dabei die Risiken nicht zu fürchten. Ich weiß um die anthropologische Konstante der Furcht vor der eigenen Autonomie, der eigenen Verantwortung, letztlich der Furcht vor der Freiheit. Aber ich weiß natürlich auch: Es existiert ebenfalls jene andere anthropologische Konstante: die unauslöschliche Sehnsucht nach Gerechtigkeit, Freiheit und lebenswertem Leben. Und deswegen lernen es Menschen immer wieder, die in ihnen angelegte Fähigkeit zu Eigenverantwortung wachzurufen. Aus dieser Fähigkeit ist unsere Demokratie erwachsen, aufgrund dieser Fähigkeit hat sich unsere Demokratie immer wieder verändert. Demokratie ist also nicht, Demokratie wird. Sorgen wir also miteinander dafür, dass dieses Werden unter uns lebendig bleibt!