In Deutschland ist es auf Bundes- wie auch auf Landesebene nicht möglich, die Regierung direkt zu wählen. Dies hängt mit damit zusammen, dass in der Bunderepublik das Verhältniswahlrecht mit einem parlamentarischen Regierungssystem verknüpft ist. Dennoch lassen sich im Anschluss an Bundes- oder Landtagswahlen häufig Diskussionen beobachten, welchen Auftrag die Wählerinnen und Wähler nun eigentlich zur Regierungsbildung sowie parlamentarischen Arbeit erteilt haben. Nicht selten wird dabei mit dem „Willen des Volkes“ argumentiert, der vermeintlich klar zu erkennen sei.
Warum diese Annahme problematisch ist und mit welchem Preis eine Klarheit in der Regierungsbildung verbunden wäre, soll im Folgenden näher betrachtet werden.
Kampf oder Kompromiss? Vom Wahlrecht zur Regierungsbildung
Schon seit der Erfindung von Parlamenten und freien Wahlen zeigte sich im Aufbau der politischen Institutionen ein zentrales Dilemma: Sollte das politische System eher auf Streit oder eher auf Kompromiss aufgebaut sein? Sicherlich sind beide dieser Prinzipien für Demokratien lebensnotwendige Bausteine – aber je nach Verfassung und Wahlsystem ergeben sich hier enorme Unterschiede für den politischen Alltag.
Gerade die ältesten Demokratien der Welt, wie zum Beispiel die Großbritanniens, kennen seit jeher das Mehrheitswahlrecht. In diesem existieren keine Wahllisten, sondern ausschließlich jenes System, welches wir in Deutschland mit der Erststimme verbinden: In einem Wahlkreis treten mehrere Kandidaten an, von denen letztlich nur der Gewinner in das Parlament entsandt wird („winner-takes-it-all-System“). Alle anderen Kandidaten gehen leer aus – wodurch auch die für sie abgegebenen Stimmen keine Bedeutung mehr haben. Ob alle Abgeordneten ihr Mandat mit knappem oder massivem Vorsprung erreichten, spielt später keine Rolle mehr – was zu starken Verzerrungen führen kann, die in der Regel die größte Partei bevorteilen und gerade kleine Parteien übermäßig benachteiligen. So gewann beispielsweise bei der Parlamentswahl in Großbritannien im Jahr 2017 die konservative Tory-Partei 49% der Sitze, obwohl sie nur etwa 42% aller abgegebenen Stimmen erringen konnte. Die „Liberal Democrats“ gewannen hingegen 1,8% der Sitze bei 7,8% Stimmenanteil. Als Ergebnis findet sich ein Zwei-Parteien-System, in denen sich die politische Auseinandersetzung hauptsächlich zwischen zwei großen Rivalen abspielt. Hier liegt der Fokus auf Streit und Konkurrenz. Die stärkste Partei regiert allein, Koalitionen sind in aller Regel nicht notwendig und den Wählerinnen und Wählern ist vollkommen klar, wem sie einen Regierungsauftrag erteilen. Oppositionsparteien bekämpfen die Regierung mit allen Mitteln und versuchen, sich vor allem als bessere Alternative darzustellen.
In politischen Systemen mit Verhältniswahlrecht wie in den skandinavischen Ländern oder auch Deutschland ist dagegen eine vollkommen andere politische Kultur gewachsen. Hier ziehen die Parteien, sieht man von der 5%-Hürde einmal ab, nach der genauen Stimmenverteilung in die Parlamente ein – keine Stimme verliert ihre Relevanz, was zu Mehrparteiensystemen führt, in denen viele mittelgroße Parteien um Einfluss kämpfen. Zwar entspricht die Verteilung der Mandate in den Parlamenten hier immer genau dem Wählerwillen, jedoch sorgt die Fragmentierung, also die Zerteilung der Parlamente in verschiedene Machtblöcke, dafür, dass nur in seltenen Fällen eine Partei „durchregieren“ kann. Stattdessen müssen die Parteien auf die Suche nach Bündnispartnern gehen, was letztlich zu Koalitionsregierungen führt. In diesen politischen Systemen bedarf es einer vollkommen anderen politischen Kultur, da nicht hauptsächlich zwei Erzrivalen in einer Arena immer wieder aufeinandertreffen und nach einem Sieg auf Zeit allein den Ton angeben, sondern die Arena eher die Form eines fortwährenden Verhandlungstisches annimmt, in dem politische Gegner in großer Regelmäßigkeit zur gemeinsamen Arbeit, also zu Kompromissen, gezwungen werden.
Die Gleichgewichtung aller Stimmen ist also letztlich die Ursache dafür, dass sich die Regierungsbildung komplizierter gestaltet. Dabei wäre es jedoch ebenfalls denkbar, dass die Regierung direkt von der Bevölkerung und nicht über den Umweg des Parlaments gewählt wird.
Präsidentielle Regierungssysteme: Machtkampf zwischen Regierung und Parlament
Solche Regierungssysteme werden als „präsidentielle Demokratien“ bezeichnet. Während in parlamentarischen Demokratien das Parlament als einziges Organ direkt durch die Bevölkerung legitimiert wird und diese Legitimation an alle anderen Institutionen „weiterreicht“, wählt die Bevölkerung in präsidentiellen Systemen doppelt: Im Wechsel sendet sie Abgeordnete in die Parlamente und ernennt in Präsidentschaftswahlen das Staats- und Regierungsoberhaupt. Die wichtigste Folge aus diesem Aufbau betrifft das Verhältnis zwischen Parlament und Regierung: Da die Exekutive nicht durch das Parlament gewählt wird, kann sie in der Regel auch nicht durch das Parlament abberufen werden. Beide Seiten müssen sich also nur gegenüber der Bevölkerung rechtfertigen und haben dadurch mitunter auch große Anreize, gegeneinander zu arbeiten, wodurch erneut das Konkurrenzprinzip angefacht und der Raum für Kompromisse eingeschränkt wird.
Der politische Alltag dieses Systems lässt sich in den USA gut beobachten. Hier kombiniert sich ein Präsidialsystem mit einem Zweiparteiensystem, welches, wie oben beschrieben, aus dem Mehrheitswahlrecht resultiert. Entsprechend unversöhnlich stehen sich die beiden großen Parteien („Demokraten“ und „Republikaner“) im dauerhaften Konflikt gegenüber. Dazu kommt, dass die zweite Kammer im Kongress („Senat“) unabhängig von der ersten Kammer („Repräsentantenhaus“) gewählt wird und im Gegensatz zu beispielsweise dem Deutschen Bundesrat sehr weitreichende Befugnisse in der Gesetzgebung genießt.
In den USA müssen sich also drei wichtige Institutionen einig sein, um politisch gestaltend aktiv zu werden: Das Repräsentantenhaus, der Senat sowie der Präsident. Ist dies der Fall, spricht man von einem „unified government“ („vereinte Regierung“). Der Zustand der vereinten Regierung stellt aber die absolute Ausnahme dar, im Zeitverlauf sehr viel üblicher ist der Moment, wenn beide großen Parteien jeweils mindestens eine wichtige Institution halten („divided government“, „geteilte Regierung“). Besonders häufig tritt diese Situation deswegen ein, weil die Bevölkerung nach einer getroffenen Wahlentscheidung zur jeweils nächsten Wahl einen „Denkzettel“ erteilen will und bei dieser Gelegenheit ins andere Lager wechselt. Die Kombination aus unabhängiger Legitimierung und gegenseitiger Konkurrenz führt häufig zu Situationen der dauerhaften Blockade, in der nichts mehr entschieden werden kann, da Kompromissbereitschaft in der resultierenden politischen Kultur fast immer als Schwäche angesehen wird. Dies zeigt sich in Situationen wie den Haushaltsverhandlungen, die teilweise monatelang zum „Shutdown“ der Staatsausgaben führen, weswegen Gehälter für Staatsbedienstete teilweise bis in das Frühjahr des Folgejahres hinein nicht gezahlt werden können. „Bipartisanship“, also die Bereitschaft, über Parteigrenzen hinweg Kompromisse auszuloten, wird in der aufgeheizten öffentlichen Konkurrenzsituation zwischen den Parteien in der USA der letzten Jahre immer mehr als Verrat am eigenen Lager gesehen, immer weniger Politikerinnen und Politiker bekennen sich daher zu diesem Prinzip.
Zwar können Wählerinnen und Wähler in diesem System direkt entscheiden, wen sie an der Spitze der Regierung sehen möchten, jedoch immer zu dem Preis, dass diese letztlich nur begrenzt handlungsfähig ist. Dabei sollte erwähnt werden, dass die USA in dieser Hinsicht ein Extrembeispiel darstellen. Denkbar sind auch sogenannte semi-präsidentielle Systeme, wie beispielsweise in Frankreich, die weniger stark auf dem Prinzip der Konkurrenz und tendenziell etwas mehr auf dem des Kompromisses basieren. Aber auch in Frankreich ist der Präsident auf eine Mehrheit im Parlament angewiesen, gehören der von der Bevölkerung gewählte Präsident sowie der vom Parlament gewählte Ministerpräsident unterschiedlichen Lagern an („cohabitation“), ist auch hier Stillstand zu befürchten.
In parlamentarischen Demokratien mit Verhältniswahlrecht besteht der Nachteil also einerseits darin, dass sich die Koalitions- und Regierungsbildung im Anschluss an Wahlen kompliziert gestaltet und immer mit schmerzhaften Kompromissen verbunden ist, andererseits darin, dass die Bevölkerung nicht direkt darüber entscheiden kann, wer an der Spitze der Regierung steht. Gleichzeitig ist dieses System allerdings besser aufgestellt, wenn es darum geht, die Stimmen der Wählerinnen und Wähler gleich zu gewichten, kontinuierlich zu arbeiten und Vorhaben auch langfristig umzusetzen. Jede Regierungskoalition, hat sie sich erst einmal gefunden, hat dann nämlich automatisch auch eine gesetzgebende Mehrheit in den Parlamenten für die komplette Dauer der entsprechenden Legislaturperiode.
Mehr zum Willen des Volkes gibt es im Teil 2 des Artikels.