„Das Phänomen Rausch ist so alt wie die Menschheit“, warf Moderator Bastian Wierzioch von MDR Kultur eher beiläufig und achselzuckend in die bereits fortgeschrittene Gesprächsrunde. Der Gebrauch von Suchtmitteln zur Betäubung oder zur Steigerung der Lebensintensität als Kulturerscheinung war jedoch nur am Rande Gegenstand dieses Donnerstagsgesprächs in der Landeszentrale. Etwa als sich SPD-Landtagsabgeordnete Sabine Friedel als Raucherin outete und dafür plädierte, auch weiterhin an der Tankstelle mal ein Bier mitnehmen zu können. Doch: Alle Genussformen können zur Abhängigkeit und zum Kontrollverlust führen. Hier war insbesondere von heimtückischen Modedrogen wie Crystal Meth die Rede, die binnen kurzer Zeit die Persönlichkeit ruinieren. Aber auch die legale Massendroge Alkohol werde unterschätzt, mahnten Teilnehmer immer wieder.
Wer greift zu Drogen und warum?
Die Gesprächsrunde mit vier Fachleuten auf dem Podium und weiteren im Auditorium vermittelte allerdings nicht in allen Fragen ein einheitliches Bild. Schon die Beschreibung der besonders gefährdeten Klientel der Abhängigen differierte. Uwe Wicha ist Geschäftsführer der Fachklinik für Abhängigkeitskranke in der „Alten Flugschule“ Großrückertswalde. Er zeichnete eingangs das dramatische Bild eines immer früheren Drogeneinstiegs. Schon im vorpubertären Alter von 10-12 Jahren gelangten Kinder über Alkohol und Cannabis speziell zu Crystal. Dabei werde die nächsthärtere Drogenstufe immer schneller erreicht. In der Pubertät, in der Zeit der Hirnreife sei dann die verheerende Wirkung bereits eingetreten. „Sechsundzwanzigjährige in meiner Klinik haben die meiste Zeit ihres Lebens schon unter Drogen verbracht“, berichtete Wicha.
Diese Beobachtung wollte Sirko Schamel von der Fach- und Koordinierungsstelle Suchtprävention Sachsen im Publikum nicht teilen. Das Einstiegsalter sei nicht dramatisch gesunken, wohl aber beschleunige sich der soziale und persönliche Abstieg aufgrund der Drogenwirkung. Offen blieb auch, ob in erster Linie familiäre Milieuprägungen oder Stresssituationen den Griff nach der Droge fördern oder auslösen. Eine wichtige Frage, weil dort dann auch Prävention ansetzen kann. Der Grünen-Landtagsabgeordnete Volkmar Zschocke, selber Sozialarbeiter, brachte diesen Aspekt ins Gespräch, als er Landwirte im Dauereinsatz, Fernfahrer oder eben Gymnasiasten im Prüfungsstress nannte.
Uwe Wicha sprach hingegen von Familien-Problemfällen und sieht den Leistungsdruck bei Kindern nicht als Hauptursache an. „Druck spielt eine Rolle“, pflichtete Sabine Friedel wiederum ihrem Grünen-Kollegen bei. Sie erwartet deshalb von der Schule eine nachhaltigere Persönlichkeits- und Charakterbildung, die junge Menschen stabilisieren kann. Halb scherzhaft war dann aber auch von hochbelasteten Managern die Rede, die keineswegs in einer Klinik wie der in Rückertswalde auftauchen. Wie die Krawattennadelklasse Stress und Erfolgsdruck kompensiert, blieb an diesem Abend bestenfalls Gegenstand von Witzeleien.
Erschreckende Ausmaße
Gar nicht witzig empfunden und nicht kontrovers diskutiert wurden das quantitative Ausmaß des Drogenproblems in Sachsen und die Folgen des Konsums harter Drogen. Dresdens Polizeipräsident Horst Kretzschmar bezifferte allein das „Hellfeld“ bekannter Fälle in Sachsen auf 7 000, darunter 2 500 Heranwachsende und Jugendliche. 100 Kinder unter 14 Jahren alarmieren besonders. Wegen der Nähe zur tschechischen Grenze bleibt Sachsen die Crystal-Hochburg Deutschlands. Crystal Meth hat etwa einen Anteil von einem Drittel an den konsumierten Drogen, wovon wiederum etwa die Hälfte in illegalen Laboren bei unseren Nachbarn produziert wird. Ein Labor ist allerdings auch schon einmal in Dresden ausgehoben worden. In den Jahren 2012 bis 2016 konnten in Sachsen 140 kg der synthetischen Droge beschlagnahmt werden.
Der Polizeipräsident lobte zwar seine tschechischen Kollegen, denen es gelungen sei, in die illegalen Labore „ordentlich dreinzuhauen“. Auch der schwer zu kontrollierende „Ameisenhandel“ mit Kleinstmengen für den Eigenbedarf sei rückläufig. Dafür werden die gehandelten Portionen immer größer, Dealer stellten sich auf die Verfolgung durch die Polizei ein und nutzten unverdächtige Tageszeiten am Vormittag oder in der Rush Hour. Überdies sei die Organisierte Kriminalität gut vernetzt. Routen führen in die Niederlande oder auf den Balkan. Immer wieder erinnerte Kretzschmar daran, dass es in Sachsen einen regen Markt für Drogen gebe und dass im globalen Maßstab enorme Summen mit dem Handel verdient werden. In Afghanistan leben beispielsweise ganze Bevölkerungsgruppen vom Drogenanbau.
Repression allein genügt nicht
„Arbeitet auch die deutsche Seite effektiv?“, fragte Volkmar Zschocke und vergaß dabei nicht, das deutsch-tschechische Polizeiabkommen zu loben. Nach seinen Erkenntnissen ist die Polizei durch die Sparpolitik früherer Jahre nicht nur personell überfordert, sondern auch technisch mangelhaft ausgerüstet. Nur vier mobile Substanzanalysegeräte sind im grenznahen Raum im Einsatz. Dresdens Polizeipräsident Horst Kretzschmar könnte statt der 25 voll ausgelasteten Drogenbekämpfer gut die doppelte Anzahl Beamter beschäftigen. Zu den Begleiterscheinungen der Drogensucht gehört ja auch die Beschaffungskriminalität. Allein in Dresden registriert die Polizei täglich 5-6 Diebstähle und Übergriffe, die so motiviert sind.
„Mit Repression allein ist das Problem nicht in den Griff zu bekommen“, gab die SPD-Abgeordnete Sabine Friedel zu bedenken. „Auch erschwerte Verfügbarkeit schützt nicht vor der Sucht“, erinnerte sie beispielhaft an die Prohibition in den USA nach 1920. Damit war das weite Diskussionsfeld der Vor- und Nachsorge angerissen. Immer wieder kritisierten mehrere Redner die Tendenz zur öffentlichen Verharmlosung von Suchtgefahren. Sehr weit ging Volkmar Zschocke, der schon im ersten Glas Wein zur Jugendweihe eine Gefahr sieht. „Zu wenige gesellschaftliche Ächtung“ auch für Volksdrogen wie Alkohol konstatierte aber auch Polizeipräsident Kretzschmar. Man müsse „die Bilder verändern“, meinte Uwe Wicha. Zum Beispiel, dass „der Rotwein gut für das Herz ist“. Man könne allerdings von der Politik keine Wunder erwarten, konzidierte der erfahrene Klinikleiter. Lebensgefühle Jugendlicher seien so kaum erreichbar. „In diesem Alter ist man unsterblich“, erinnerte Wicha an die LSD-Bewusstseinserweiterung der Achtundsechziger. Zuvor hatte Volkmar Zschocke die mangelnde Wirkung des 10-Punkte-Planes der Staatsregierung von 2014 kritisiert, eine Mischung aus Prävention, Beratung und Repression. Greifbar ist allerdings der Mangel an Entgiftungsplätzen für Unter-18-Jährige.
Einsteigern schon in der Schule helfen
Eine Ärztin im Publikum gab zu bedenken, dass man meist nur Symptome, selten aber Ursachen bekämpfe. Sie und andere lobten aber die Zusammenarbeit verschiedenster Träger in Dresden bei der Suchttherapie. Einigkeit bestand auch darüber, dass der Schule und der Schulsozialarbeit eine Schlüsselrolle zukommt. Der Freistaat ergänzt ja diese kommunale Aufgabe mit einem Landesprogramm für weitere 300 Stellen. Ebenso klar ist aber auch, dass Erfolgschancen im jugendlichen Alter entscheidend vom Einfluss des Elternhauses abhängen. Denn auf die „Starter“ muss man ein besonderes Augenmerk legen, den Einstieg möglichst verhindern oder den begonnenen Konsum zumindest auf ein moderates Maß zurückdrängen. „Manche Süchtige sehnen sich nach früher und harter Intervention“, sprach Uwe Wicha aus Erfahrung.
Kann man bei einem negativen Einfluss des häuslichen Milieus von Kindeswohlgefährdung sprechen und muss dann das Jugendamt einschreiten? Eine der Fragen, die in der rechtlichen Grauzone offen blieben. Ebenso die nach einer Abwägung zwischen Strafvollzug oder Drogentherapie, wie sie ein Pilotprojekt in der JVA Zeithain vornimmt. Ein reger und sehr ernsthaft geführter Gesprächsabend in der Landeszentrale für Politische Bildung, dem eigentlich nur Eines fehlte: Authentische Erfahrungsberichte von Suchtleidenden oder solchen, die ihre Abhängigkeit überwinden konnten.
Der Autor Michael Bartsch ist freiberuflicher Journalist und Autor, u.a. für die taz und den MDR-Hörfunk