Mit der Corona-Pandemie, der US-Wahl, Protesten für das Klima, gegen soziale Ungleichheit oder gegen Corona-Maßnahmen war 2020 sicherlich kein langweiliges Jahr. Inmitten dieses Chaos schrieb Thomas Ammann sein 2020 erschienenes Buch „Die Machtprobe. Wie Social Media unsere Demokratie verändern“. Um die Frage zu beantworten, wer eigentlich die Macht in unserem politischen System hat, beleuchtet er auf 300 Seiten die Rolle von Facebook, Twitter, Instagram oder YouTube anhand verschiedener Aspekte.
Gigantisches System
Der erste Teil des Buches bietet einen Überblick über die komplexe Medienlandschaft und ihren Einfluss auf verschiedenste Ereignisse für Leserinnen und Leser, die zumindest grob bereits wissen, wie soziale Medien funktionieren. In den ersten voneinander unabhängigen Kapiteln benennt Ammann die Entstehungsgeschichte der größten Social Media Plattformen, die Verbreitung von Verschwörungstheorien während der Corona-Pandemie, die fließenden Grenzen zwischen Lifestyle-Posts und bezahlter Werbung, die Veränderung von großflächigen Werbekampagnen hin zu individualisierten Anzeigen auf diese Plattformen. Der oder die Lesende fängt hier an, zu erahnen, was für ein gigantisches System hinter den Apps steht, die beinahe jeder auf seinem Handy hat.
Durch seinen sachlichen, aber keinesfalls trockenen Stil kommt sowohl die Bewunderung als auch die Angst des Autors durch vor dem, was Social Media kann beziehungsweise könnte. Er zeichnet ein vielschichtiges Bild der Macht privatwirtschaftlicher Unternehmen wie Facebook oder Twitter. In einer fast schon euphorischen Lobeshymne freut sich der Autor in Kapitel sechs darüber, dass eine breite Öffentlichkeit die politische Agenda durch Social Media mitbestimmen kann. Dadurch konnten Bewegungen wie Black Lives Matter oder Fridays for Future in kurzer Zeit einen sehr großen Zulauf verzeichnen.
Allerdings wird dieser kurze Lichtblick überschattet von den im zweiten Teil des Buches dargestellten dunklen Seiten dieser Macht: wenn eine breite Öffentlichkeit online unkontrolliert Hass und Hetze verbreiten kann, kann dieser Hass auch auf das analoge Leben übergreift. Thomas Ammann schafft es, eine Verbindung zwischen verschiedenen rechtsextremen Anschlägen, wie beispielsweise der Anschlag in Christchurch oder der Mord an Walter Lübcke herzustellen und beleuchtet die Entwicklung von analogen Einzeltätern, die sich als virtuelle Herdentiere herausstellen. Sie alle sind verbunden durch geheime Algorithmen und Daten, die zu Waffen werden, wenn sie, wie in der US-Wahl 2016, gezielt eingesetzt werden. Es geht schon längst nicht mehr um „Big Brother is watching you“. Es geht darum, was Big Brother mit dem macht, was er sieht.
Gesetze, Forderungen, Sanktionen
Leider wirken die Tipps für Benutzer von Social Media am Ende des Buches im besten Falle hilflos, im schlimmsten Fall nutzlos. Bei dem verantwortungsvollen Umgang mit den sozialen Medien scheint es sich einmal wieder um ein Problem zu handeln, was nur politische Verantwortungsträgerinnen und -träger durch neue Gesetze, Forderungen und Sanktionen eindämmen können.
Lesende können sich in Anbetracht dieser zahlreichen, scheinbar unlösbaren Probleme von dieser Hilflosigkeit überrannt fühlen. Immerhin tröstet es zu wissen, dass selbst die Entstehung und Verbreitung von Verschwörungstheorien und Fake News wissenschaftlich erklärt werden kann und in diesem Buch auch erklärt wird. Seiner Forderung nach mehr Transparenz kommt der Autor selbst ausgiebig nach: Jedes Kapitel ist bestückt mit unzähligen Statistiken, Studien, und Umfrageergebnissen, deren Quellen sich hinten im Buch finden. Am Ende fühlt man sich als Leserin gleichzeitig getröstet und verwirrt, dass den durch Social Media hochkochenden Emotionen so etwas Gefühlloses und Nüchternes, wie ein Algorithmus basierend auf trockenen Daten zugrunde liegt.