Der Zusammenbruch des Kommunismus in den Staaten des ehemaligen Ostblocks in Folge der Revolutionen von 1989/90 war eine historische Zäsur mit nachhaltigen Wirkungen. Die Transformationsprozesse stellten die jungen Demokratien vor erhebliche Herausforderungen. Zugleich begannen schmerzhafte gesellschaftspolitische Debatten über den Umgang mit der eigenen Geschichte sowie um Deutungshoheiten. Gerade der politischen Bildung kam bei diesen Prozessen eine besondere Aufgabe zu, setzte sie doch wichtige Akzente bei der historischen Aufarbeitung und der Auseinandersetzung mit unterschiedlichen erinnerungspolitischen Narrativen. Im Ergebnis entstand in den letzten 30 Jahren eine „heterogene Erinnerungslandschaft“ mit national orientierten Prägungen. Ziel des Symposiums war es daher, eine vergleichende Perspektive zu entwickeln, die gemeinsame Aufgaben einer transnationalen politischen Bildung beschreibt.
Europäische Geschichte als Herausforderung
Dieser Herausforderung nahm sich die Veranstaltung in vier aufeinander aufbauenden Panels an, in denen Expertinnen und Experten aus Wissenschaft, Bildung, Politik und Kultur diskutierten. Mandy Ganske-Zapf, Redakteurin bei dekoder, moderierte die Veranstaltung fachkundig und führte durch den Tag. Nach einer Begrüßung durch Dr. Uta Bretschneider, Direktorin des Zeitgeschichtlichen Forums, und Dr. Andreas H. Apelt, Bevollmächtigter des Vorstandes der Deutschen Gesellschaft e. V., thematisierte das erste Panel unter dem Titel „Die europäische Geschichte als Herausforderung für die politische Bildung”.
In seinem Impulsvortrag befand Jürgen Kaube, Mitherausgeber der F.A.Z, dass politische Bildung als Querschnittsaufgabe in der Schule betrachtet werden müsse, weshalb neben dem Vermitteln von Fakten vor allem das „exemplarische Nachdenken über Tatsachen und Werte einen Anstoß zur Weiterbeschäftigung“ geben könne. Seine Gedanken zu einer „praktisch orientierten politischen Bildungsarbeit“ führte Jürgen Kaube im anschließenden Podiumsgespräch mit Dr. h.c. Peter Gutjahr-Löser, Kanzler der Universität Leipzig a. D., aus. Beide identifizierten Herausforderungen und Ansätze, die zugleich einen Anstoß für die folgenden Panels geben sollten.
Nationale Wege bis hin zur Verweigerung historischer Aufarbeitung
Den Blick auf die Staaten Ostmitteleuropas richtete Prof. Dr. Stefan Troebst, 1999 bis 2021 als stellvertretender Direktor des Leibniz-Instituts für Geschichte und Kultur des östlichen Europas, mit seinem Impulsvortrag im zweiten Panel des Tages zum Thema „Gemeinsame Ausgangslage, unterschiedliche Pfade? Historische Aufarbeitung in Ostmitteleuropa“. Dabei sparte er bewusst die „klassischen Fälle“ Polen, Tschechien, Ungarn und (Ost-)Deutschland aus und rückte exemplarisch die beiden sehr unterschiedlichen Fälle Ukraine und Bulgarien in den Mittelpunkt. Seine These: Von den 1960er Jahren an haben nationale Traditionen im Staatssozialismus gegenüber dem offiziell proklamierten Internationalismus zunehmend an Bedeutung gewonnen, seit 1989 sind sie dominant.
Die Frage nach den „unterschiedlichen Pfaden“ vertiefte Troebst auf dem Podium zusammen mit Piotr Buras, Leiter des European Council on Foreign Relations, Dr. Sabine Kuder, Leiterin des Arbeitsbereichs Public History der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur, und Dr. Oldřich Tůma, Senior Research Fellow des Instituts für Zeitgeschichte der Akademie der Wissenschaften der Tschechischen Republik. Bei der Beschreibung der jeweiligen nationalen Entwicklungen wurde der Kontrast zwischen den Fallbeispielen deutlich: Das Spektrum reicht von einer Verweigerung der historischen Aufarbeitung bis zu einer kritischen Auseinandersetzung mit dem oktroyierten System, was insbesondere die Suche nach den „gemeinsamen Pfaden“ schwierig erschienen ließ.
Politisch kodierte Geschichtsschreibung
Diesen Befund bekräftigte das dritte Panel, welches fragte: „Nationale Narrative auf dem Vormarsch? Ostmitteleuropa in der Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit”. Anlässlich der Komplexität der Thematik, die wohl allein veranstaltungsfüllend gewesen wäre, konzentrierte sich Prof. Dr. Miloš Řeznik, Direktor des Deutschen Historischen Instituts in Warschau, in seinem Impuls vor allem auf die Rolle der Geschichtspolitik. Einerseits finde eine intensivere, staatliche Geschichtspolitik in den Ländern Ostmitteleuropas statt, was unmittelbar Einfluss auf Narrative und Geschichtsvermittlung nimmt. Andererseits bestünden große Unterschiede im Stil, in der Bedeutung und in der Programmatik der jeweiligen Geschichtspolitik und folglich auch in der gesellschaftlichen Relevanz der Vergangenheit.
Über diese Thesen diskutierte er anschließend mit Blanka Mouralová, Leiterin der Abteilung für Forschung und Bildung am Institut für das Studium totalitärer Systeme in Prag, sowie mit den aus Minsk und Budapest zugeschalteten Podiumsgästen Dr. Nina Frieß, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zentrums für Osteuropa- und internationale Studien, und Dr. Krisztián Ungváry, Historiker. Standen zunächst erneut die national differierenden Wege im Fokus, suchten die Gäste im Anschluss nach Lösungsansätzen für eine ausgewogene Auseinandersetzung mit der Vergangenheit. So benötige „Aufarbeitung und auch Abarbeitung in jeden Fall ein Mindestmaß an Bereitschaft miteinander zu sprechen”, wie Dr. Nina Frieß betonte. Eine in hohem Maße politisch kodierte Erinnerungskultur und Geschichtsschreibung sei indes mit ethischer Skepsis zu betrachten.
Einen einfachen Ausweg aus dem „Erstarken nationaler Narrativen“ vermochte das Panel nicht zu benennen, sah aber in der untergeordneten Rolle der historischen Erfahrungen der ostmitteleuropäischen Staaten in der gesamteuropäischen Geschichtskultur eine wesentliche Ursache und zugleich einen möglichen Lösungsansatz.
Zusammen erinnern?
Diesen Gedanken widmete sich das vierte und letzte Panel des Tages zum dem Thema „Zusammen erinnern? Die Rolle Ostmitteleuropas in der europäischen Erinnerung“.
Anknüpfend an das Buch von Claus Leggewie „Der Kampf um die europäische Erinnerung. Ein Schlachtfeld wird besichtigt“ aus dem Jahr 2011 skizzierte Prof. Dr. Joachim von Puttkamer, Professor für Osteuropäische Geschichte an der Friedrich-Schiller-Universität Jena und Co-Direktor des Imre Kertész Kollegs, in seinem Impulsvortrag den Status quo einer „gemeinsamen europäischen Erinnerung“: Diese sei zunächst darin eingeschränkt, dass die jeweiligen nationalen Konflikte gar nicht europäisch bearbeitet werden können, ohne zuvor in ihren nationalen Kontexten entschärft worden zu sein. Zugleich könne aber aus den gemeinsamen durchlebten europäischen Krisen möglicherweise mehr Einendes erwachsen als aus der Erinnerung an das 20. Jahrhundert.
Diese These erörterte er auf dem Podium gemeinsam mit Dr. Magdalena Abraham-Diefenbach, Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Denkmalkunde der Europa-Universität Viadrina, Dr. Anne Martin, Wissenschaftliche Mitarbeiterin des Zeitgeschichtlichen Forums Leipzig, und Rafał Rogulski, Direktor des Instituts des Europäischen Netzwerks Erinnerung und Solidarität (ENRS) in Warschau.
Die Podiumsgäste machten dabei zwei sehr unterschiedliche Potentiale aus, welche der Geschichte inhärent sind. Einerseits obliegt ihr das Potential, sich bewusst misszuverstehen, wodurch Konflikte geschürt werden. Andererseits vermag sie durch gemeinsame Erinnerung(en) und den offenen Austausch einen Beitrag für die europäische Verständigung zu leisten. Auf dem zweiten Aspekt, dem weitaus schwierigeren, müsse der Fokus liegen, möchte man den Gedanken einer gesamteuropäischen Erinnerung stärken.
Herausforderungen und Potentiale eines gesamteuropäischen Diskurses
Die lebhaften Diskussionen und gewinnbringenden Erkenntnisse des Tages fasste Dr. Roland Löffler, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, in seinem Schlussstatement zusammen. Indem sich das Symposium an einen Überblick über die Vergangenheit, die Gegenwart und Zukunft der Rolle und des Anspruchs politischer Bildung wagte, skizzierte es Herausforderungen und Probleme, beschrieb aber auch Lösungsansätze und Errungenschaften. Vor allem wurde deutlich, wie wichtig ein gesamteuropäischer Diskurs sei, betonte Dr. Roland Löffler. „Das Potential ist gewaltig – der Weg weit. Wir sollten ihn aber gehen – mutig und dialogorientiert.“
Mit der Übergabe des Sonderbands zum Theodor-Litt-Jahrbuch und dem Dank an die scheidenden Vorsitzenden der Theodor-Litt-Gesellschaft, Dr. h.c. Peter Gutjahr-Löser und Prof. Dr. Dr. h.c. Dieter Schulz, für ihr langjähriges Engagement und ihren beständigen Einsatz für die politische Bildungsarbeit fand das XXV. Theodor-Litt-Symposium seinen würdigen Abschluss und richtete den Blick sogleich auf das nächste Symposium im kommenden Jahr an gleicher Stelle.
Die Veranstaltung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig war eine Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft e. V. und der Theodor-Litt-Gesellschaft.