Dass Bischöfe zurücktreten, kam bisher eher selten vor. Mittlerweile mehren sich die Fälle, wobei die Ausgangslage sehr unterschiedlich ist: Alkohol am Steuer, Amtsmüdigkeit, Gesundheit, Alter oder gar Kindesmissbrauch. Und dann gibt es den Fall des sächsischen Landesbischofs Carsten Rentzing, bei dem am Ende gar nicht so eindeutig ist, warum er nun eigentlich zurückgetreten ist. War es der äußere Druck, innere Zerrissenheit, der persönliche Umgang mit seiner eigenen Biografie, die den evangelischen Theologen recht sprunghaft sein Amt beenden ließ? Als Vertreter des konservativen Flügels der Landeskirche gewählt, stand er schnell unter Druck der Liberalen und Presse, nicht zuletzt wegen seiner ablehnenden Haltung gegenüber der Segnung gleichgeschlechtlicher Paare.
Verschwiegen hatte er lange Zeit seine Mitgliedschaft in einer studentischen Landsmannschaft und seine konservativen, rechtsnationalen und in Teilen antidemokratische Artikel, die er in den frühen 1990er-Jahren für das Miniblättchen „Fragmente – das konservative Kulturmagazin“ schrieb. Während die interessierte Öffentlichkeit erwartet hätte zu erfahren, ob die Ausführungen des jungen Rentzing noch mit den politischen Vorstellungen des bischöflichen Rentzings übereinstimmen, bevorzugte er den stillen Rückzug beziehungsweise homöopathische Andeutungen in seiner Rücktrittserklärung. Das ist zu wenig für einen theologischen Hirten, der mit seinem beharrlichen Schweigen ein persönliches wie gesellschaftliches Vakuum hinterlässt.
Gesellschaftliche Rolle der Kirche
Kurz vor dem Reformationstag mag es deshalb an der Zeit sein, über die öffentliche und politische Rolle der evangelischen Kirche nachzudenken, die ja nicht nur, aber doch auch von Bischöfen geprägt wird. Nach der wichtigsten Bekenntnisschrift der Reformationszeit, der Confessio Augustana, ist die Kirche die Versammlung, „in der das Evangelium rein gelehrt wird und die Sakramente recht verwaltet werden“. Konkret formen sich daraus bestimmte Arbeitsfelder: Gottesdienst und Predigt, der religiöse Unterricht, die Seelsorge und die soziale Verantwortungsübernahme.
Spätestens seit dem 19. Jahrhundert entwickelte der „Soziale Protestantismus“ als Reaktion auf die Entwicklungen der modernen Industriegesellschaft sozialethischer Konzepte, gründete Werke zur Behebung von Armut, zur Förderung der Bildung, zur Gesundheitsvorsorge. Evangelische Sozialethik und katholische Soziallehre ebneten zusammen mit sozialdemokratischen Forderungen den Weg zum Sozialstaat moderner Prägung, in dem dann viele dezidiert christliche Anliegen politische Wirklichkeit wurden.
Das Verhältnis von Staat und Kirche durchlief gerade im Protestantismus unterschiedliche Stationen. Bis zum Ende des Ersten Weltkriegs war der Landesherr, also etwa der sächsische König, zugleich das Kirchenoberhaupt, das die Verwaltung von Kirche und Schule dem Kultusministerium überließ. Theologie und Kirchenvolk rebellierten so lange nicht, wie der Landesherr für Frieden und Religionsfreiheit sorgte – und kirchlich-religiöse Dinge intern geregelt werden konnten.
Hohen Preis für Überzeugung
Mit Beginn der Weimarer Republik war der Staat nicht mehr der gleiche. Die Trennung von Staat und Kirche erhielt Verfassungsrang. Die meisten der national geprägten Protestanten gewöhnten sich aber kaum an die Demokratie. Die evangelische Bevölkerungsmehrheit gab bei den Reichstagswahlen den rechten Parteien ihre Stimme. Nur eine kleine Minderheit der Kirchenführer konnte sich zumindest als „Vernunftrepublikaner“ arrangieren. Die Kirchenleitungen verstanden sich als Akteur „über den Parteien“. Eine Stütze der Weimarer Republik und der demokratischen Parteienlandschaft wurde die evangelische Kirche so nicht.
Als Hitler im Januar 1933 an die Macht gelangt, wurde er von vielen evangelischen Christen herzlich begrüßt. Als jedoch der NS-Staat begann, die evangelische Jugend gleichzuschalten, den Arierparagrafen in der Kirche einzuführen und die Landeskirchen zu zentralisieren versuchte, kam es 1933/34 zum „Kirchenkampf“ zwischen den NS-orientierten Deutschen Christen (DC) und der auf die Trennung von Staat und Kirche bestehenden, in Teilen sogar widerstandsbereiten „Bekennenden Kirche“ (BK). Sie lehnte Volk und Rasse als Bezugsgrößen ab. Die evangelische Kirche zerbrach in weiten Teilen des Landes zwischen 1933 und 1945 am Streit zwischen DC und BK.
Nur wenige Christen wie der Berliner Pfarrer Diedrich Bonhoeffer gingen in den politischen Widerstand. Er musste mit seinem Tod einen hohen Preis für seine Überzeugung bezahlen. Bonhoeffers Buch zu „Widerstand und Ergebung“ in einer totalitären oder auch schlicht modernen Welt wurden ab den 1960er-Jahren zum Leitmotiv vieler politisch denkender Theologen auf der ganzen Welt.
Staat und Kirche. Eine Suche
Nach dem Krieg übernahmen zumeist BK-Theologen die Führungsrollen in den Landeskirchen. Sie versuchten, aus einer Widerstandstheologie Ableitungen für das Verhältnis von Staat und Kirche sowie Lehren aus dem Dritten Reich zu ziehen. Das Stuttgarter Schuldbekenntnis von 1945 hielt fest, dass durch das deutsche Volk „unendliches Leid über viele Völker und Länder gekommen ist“, dass die Kirchen zwar gegen den Geist des NS-Regimes gekämpft haben, aber die Protestanten nicht „mutiger bekannt, nicht treuer gebetet, nicht fröhlicher geglaubt und nicht brennender geliebt haben“. Das war in etwas verklausulierter kirchlicher Sprache doch ein Eingeständnis eines politischen Scheiterns. Es folgten in den 1950er-Jahren weitere Stellungnahmen zur Deutschlandfrage, zur Wiederbewaffnung, ehe die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 1965 mit der mutigen Ostdenkschrift die Frage nach der Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze thematisierte, aber zugleich auch das Leid der deutschen Ostflüchtlinge anerkannte. Damit ebnete sie den Weg zu Willy Brandts Ostpolitik.
Foren wie die Evangelischen Akademien, der Deutsche Evangelische Kirchentag wurden Übungsstätten der Demokratie. Hier wurde der demokratische Diskurs praktiziert, hier wurde über Ost und West nachgedacht, über Süd und Nord, über Fragen einer „öffentlichen Theologie“, die zur politischen Auseinandersetzung auffordert. Und doch dauerte es bis 1985, ehe sich die EKD zu einer Demokratiedenkschrift durchringen konnte, in der sie sich klar zum Staatssystem der Bundesrepublik bekannte.
Wunsch nach Qualität
Auch die führenden evangelischen Christen in der DDR waren von Bonhoeffer geprägt. Doch ihre politische Ortsbestimmung bestand im Kern in der Frage, wie eine schrumpfende, vom Staat als letzte Bastion des westlichen Imperialismus bekämpfte Kirche ihr christliches Selbstverständnis aufrechterhalten und sich gegenüber dem Staat positionieren sollte. Was war Kirche im Sozialismus? Eine Ortsbestimmung oder ein Bekenntnissatz? Darüber gab es kontroverse Debatten. Kirche unter dem Druck von Säkularisierung und kirchenfeindlichem Staatsapparat wurde zu einer Art Laboratorium für ein kleiner werdendes Christentum der Zukunft, zur Nische, in der Menschen mit und ohne christliches Bekenntnis um das offene Wort und die Wahrheit ringen konnten. Und als der Wind der Geschichte Tausende Menschen in Leipzig und Dresden aus den Häusern trieb, da wurden Kirchen zu Schutzräumen des sich entwickelnden Freiheitswillens und zu einem der Katalysatoren der friedlichen Revolution.
Und heute, zum 30. Jubiläum der friedlichen Revolution, zerfleischt sich der zahlenmäßig schwindende Protestantismus mit Petitionen für oder gegen einen Bischof, dem die öffentliche Dimension von Kirche (aus welchen Gründen auch immer) fremd blieb. Wir waren schon mal weiter hierzulande. Gerade in der gespaltenen sächsischen Gesellschaft mit ihrem hohen Orientierungsbedarf an nicht zuletzt konservativen Leitfiguren wäre ein Bischof, der öffentlich über Freiheit und Verantwortung nachdenkt und zwischen Flügeln der Gesellschaft zu vermitteln versteht, nötiger denn je. Es wäre der sächsischen Landeskirche zu wünschen, dass die neue Bischöfin oder der neue Bischof genau diese Qualitäten mitbringt. Denn nicht nur die evangelische Kirche bedarf eines Bischofs, der öffentliche Debatten nicht scheut, auch die von starken Persönlichkeiten nicht gerade überreiche sächsische Zivilgesellschaft braucht vernehmbare Stimmen, an denen sie sich reiben kann – und die Reibung aushalten. Davon lebt demokratischer Pluralismus auch in säkularen Zeiten.