Sowohl als ehrenamtlicher Seenotretter auf dem Mittelmeer wie auch als professioneller Fotograf an den EU-Außengrenzen hat Erik Marquardt viel gesehen und durchlebt. Auf die Frage der Moderatorin, welche Erinnerung sich ihm besonders stark eingeprägt habe, möchte er ein Bild der Hoffnung teilen. „Ich war 2016 im Flüchtlingslager Idomeni an der griechisch-mazedonischen Grenze“, berichtet Marquardt. „Nahe des 150-Seelen-Ortes Idomeni lebten damals 15.000 geflüchtete Menschen in Zelten: Afghanische, syrische, türkische, kurdische Menschen, die zu politischen Konflikten ganz unterschiedliche Haltung hatten.“
Marquardt dokumentierte den Alltag im Lager als Fotograf. Eines seiner Bilder zeigt, wie junge Männer eine Pyramide bilden: Vier von ihnen stehen im Kreis auf den Schultern fünf anderer, ein weiterer junger Mann klettert ganz nach oben. Umringt werden sie von klatschenden, gelöst wirkenden Menschen, hinter ihnen bricht das Licht der Abendsonne durch die Wolken.
Hoffnung in Idomeni
„Dass sie trotz ihrer politischen Differenzen, trotz der schlechten humanitären Situation im Camp und trotz ihrer aussichtslosen Lage so friedlich miteinander gefeiert und getanzt haben – das war eindrucksvoll und toll“, sagt Marquardt. Die Grenze zu Mazedonien war für die Flüchtenden unüberwindbar, der Weg nach Nord- und Mitteleuropa blieb ihnen versperrt. Und über Monate in einem Massen-Zeltlager zu leben, machte viele von ihnen krank. „Aber sie haben sich nicht den Mut nehmen lassen, sondern die Kraft gefunden, sich einfach auch mal einen schönen Nachmittag zu machen.“
Erik Marquardt begleitete als Fotograf auch Menschen im Flüchtlingslager Moria auf Lesbos und einige, die auf der Balkanroute unterwegs waren. Heute ist der 34-Jährige Abgeordneter für Bündnis 90/Die Grünen im EU-Parlament. In seinem Statement plädierte er dafür, in Menschen, die auf der Flucht nach Europa sind, nicht nur „die Anderen“ zu sehen, „die irgendwas von uns wollen“. Stattdessen „sollten wir uns darauf konzentrieren, dass wir alle Menschen sind und dass es auch darauf ankommt, wie wir uns begegnen“.
„Für Flucht gibt es gute Gründe“
Menschen die fliehen müssten, hätten dafür gute Gründe – die in Asylanträgen dann auch bestätigt werden können, so Marquardt. Es sei sehr wichtig, dass diese Menschen in Europa „frühstmöglich eine Chance bekommen, einen guten Weg ins Leben und die Gesellschaft zu finden“: durch schnell vermittelte Sprachkurse, eine Arbeit und dauerhaftes Bleiberecht. Leider sehe die Realität oft anders aus.
Die gemeinsame Online-Veranstaltung der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, des Bildungsforums der Konrad-Adenauer Stiftung, des Zentrums für Internationale Studien und des Instituts für Internationales Recht, Geistiges Eigentum und Technikrecht der TU Dresden stieß auf großes Interesse: Mehr als 110 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren per Zoom zugeschaltet.
„Die EU ist gescheitert“
Zum Auftakt der Diskussion hielt der Soziologe und Migrationsforscher Gerald Knaus einen Impulsvortrag. „Die Europäische Union scheitert in Bezug auf die Migrationspolitik in mehreren Punkten“, sagte der Wissenschaftler, der den 2016 unterzeichneten Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei im Auftrag der Regierung Merkel maßgeblich vorbereitet hatte.
Als ersten Punkt hob Knaus hervor: „Die Grenze zur EU war 2021 die tödlichste Grenze der Welt“. Nach Daten der Internationalen Organisation für Migration (IOM) starben weltweit 5.073 Menschen auf der Flucht. 2.026 von ihnen ertranken im Mittelmeer – auf dem Weg nach Europa. „Zählt man die mehreren hundert Menschen dazu, die in Westafrika auf dem Weg nach Spanien gestorben sind, kommen wir auf 2561 Tote an den EU-Außengrenzen.“
Brutales Zurückstoßen
Das Versagen der EU zeige sich auch in den zahlreichen Fällen illegaler Pushbacks – also dem teils gewaltsamen Zurückstoßen von Menschen – an den Außengrenzen. Praktiziert würden diese von unterschiedlichen Ländern, derzeit beispielsweise in Polen: an der Grenze zu Belarus. „Pushbacks verstoßen gegen EU-Recht und müssten im Prinzip vor den EU-Gerichtshof kommen“, sagte Knaus. Dies geschehe aber nicht. Teilweise stehe auch die Gesetzgebung einzelner Staaten im Widerspruch zum EU-Recht. In Ungarn etwa seien Pushbacks nach Serbien als Maßnahme gesetzlich verankert. „Tatsächlich besteht die Gefahr, dass sich Pushbacks, auch die gewalttätigen, immer mehr als Strategie einzelner Staaten etablieren“, bilanzierte Knaus.
Die EU sei nicht in der Lage, Migration auf geregelte Weise zu kontrollieren. So habe die irreguläre Migration trotz der Corona-Pandemie zugenommen: Etwa 113.500 Menschen kamen im letzten Jahr über das Mittelmeer nach Europa, die allermeisten von ihnen über das zentrale Mittelmeer. „Und das ist deswegen beunruhigend, weil dies die gefährlichste Route ist.“ 2021 seien vier Mal mehr Menschen auf diesem Weg nach Europa gelangt als in den Jahren davor. Doch auch, wenn die Zahlen Geflüchteter zunähmen: Die in den europäischen Gesellschaften verbreitete Angst vor „Massenmigration“ sei nicht gerechtfertigt, meinte Knaus.
„Gute Vorsätze allein helfen nicht“
Der Experte plädierte für eine klar geregelte Abschiebe-Praxis der EU und für ein Ende der Pushbacks. Beides umzusetzen und die Seenotrettung wieder hochzufahren: Das seien wichtige und gute Ziele. „Aber das allein reicht nicht“, betonte Knaus auch im Blick auf die Migrationspolitik der neuen Bundesregierung. Man müsse die Menschen davon abhalten, in großer Zahl in Boote zu steigen und Geflüchtete bei irregulärer Migration in kooperierende Länder zurückführen. Um diese Ziele durchzusetzen, brauche die Ampel-Koalition Partner auf europäischer Ebene. Und die EU könne Migration aktiver mitgestalten, wenn sie mit Anrainerstaaten kooperieren.
„Dazu muss man andere Partner als Libyen finden – etwa Tunesien“, so Knaus. „Denn wir wollen ein Ende der Gewalt. Und in Libyen werden Menschen zwar von Küstenwärtern an der Schlauchboot-Passage über das Mittelmeer gehindert, vor Ort jedoch in Lager gesteckt, wo sie misshandelt, vergewaltigt und getötet werden.“
Neuer Partner Tunesien
In einer Kooperation mit Tunesien sieht er dagegen Potential. „Aus und über Tunesien Flüchtende sind die größte Gruppe, die zurzeit in Booten irregulär nach Italien kommen“, berichtete er. „Wenn Tunesien bei der Seenotrettung kooperieren würde und wenn Geflüchtete aus anderen Staaten in Tunesien durch ein vom UN-Flüchtlingshilfswerk geregeltes Asylverfahren aufgenommen werden würden, könnte die EU die Visapflicht aufheben.“
In dem Fall könnte man als Tourist aus Tunesien einreisen. Eine weitere Bedingung dafür müsse dann sein, straffällige Tunesier direkt wieder ausweisen zu können. „Den Fall Anis Amri hätte es dann nicht gegeben, denn der war bereits in Italien ein Straftäter, und Tunesien hätte ihn sofort zurücknehmen müssen“, erklärte Knaus. „In Fall einer tunesisch-europäischen Kooperation hätten beide Seiten einen Gewinn an Kontrolle, und wir hätten mehr legale Mobilität.“
Asyl als universales Menschenrecht
Im Chat der Veranstaltung wurde parallel zu den Vorträgen diskutiert – auch kontrovers. Ein Teilnehmer kommentierte: „Aus meiner Sicht ist die Einwanderung muslimischer Menschen in das christlich geprägte Deutschland problematisch. Warum nehmen muslimische Länder wie Iran oder Saudi Arabien keine Geflüchteten auf?“
Gerald Knaus verwies zum einen darauf, dass Staaten wie die Türkei, der Libanon oder Jordanien sehr viel mehr Flüchtlinge aufgenommen haben als die EU-Staaten. Zum anderen bezog er sich auf die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951: „Asyl bekommt, wer Schutz braucht, unabhängig davon ob diese Person christlich, muslimisch, jüdisch oder nicht religiös ist.“ Die Wahrung der Menschenwürde stehe jedem Menschen zu, so Knaus. Beim Asylrecht gehe es nicht um die Frage „Wer darf ins Land kommen?“ oder darum, Geflüchtete in „oberflächliche Schubladen einzuordnen“, ergänzte Erik Marquardt. „Sondern darum, dass die Migranten und Migrantinnen sich hier an gesellschaftliche Regeln halten.“ Und dies sei sehr gut machbar, wenn man ihnen die Chance dazu gebe – etwa durch Bildungsangebote.
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