Web3 und der Traum einer dezentralen Gesellschaft (3/3)
Teil 3 – Der Code ist Gesetz
Technologie ersetzt Politik
Die “Neuerfindung des Bankensystems” stellt nicht nur eine Stilblüte der Finanzgeschichte dar, sondern zeigt auch ein universelles Prinzip auf: Politik ist der einzige Ort, an dem Menschen regeln können, wie sie zusammenleben möchten. Wie dieser Ort ausgestaltet ist, ob er auf legitimen Prinzipien basiert, ob er befreiende oder unterdrückerische Wirkung entfaltet, ob er fair und demokratisch ist oder aber nur wenigen Menschen ein Mitspracherecht gibt, all das muss immer verhandelt und meistens auch erkämpft werden. Aber dort, wo Menschen der Politik gegenüber so viel Misstrauen entwickeln, dass sie lieber ganz ohne sie leben möchten, stellt sich jenes Denken ein, welches der Technikphilosoph Evgeny Morozov als „Solutionismus“ bezeichnet. In dieser Vorstellung von Freiheit lassen sich menschliche Konflikte durch technische Lösungen nicht nur vermeiden, sondern sogar ganz verhindern. Als Beispiel nennt Morozov ein Navigationssystem, welches Google in Brasilien getestet hat: Neben den üblichen Informationen über Lokale, ÖPNV und Verkehrsdichte ließ sich auf einer Ebene auch die Echtzeitlage von Kriminalität zuschalten. So sollen sich Strecken vermeiden lassen, in denen gerade Gefahr droht. Das mag gut oder schlecht funktionieren, in jedem Fall zeigt es die solutionistische Idee auf: Statt die gesellschaftlichen Probleme, die Konflikten zu Grunde liegen, anzugehen, können die Konflikte einfach vollständig durch Technologie vermieden werden.
Auf diesem Prinzip basiert das ganze Ideengebäude von Web3. Diese Architektur versucht, Besitzansprüche zu regeln und diese damit in alle Bereiche der menschlichen Interaktion hineinzutragen. Soziale Probleme lassen sich dann über Zuordnung von Besitz lösen, wofür es auch kein Vertrauen mehr zwischen Menschen benötigt. „The code is law“ („Der (Programm-)Code ist Gesetz“) ist nicht zufällig ein häufig anzutreffendes Mantra der Web3-Enthusiast:innen. Die Idee von Blockchain wird dann durch sogenannte „Smart Contracts“ („smarte Verträge“) ergänzt. Dabei handelt es sich um programmierte Abläufe, die automatisiert Transaktionen tätigen, bestätigen und in der Folge vermeintlich unhinterfragbar sind. In einer Gesellschaft, die komplett libertär und nach den Prinzipien des Web3 aufgebaut ist, benötigt es keine Gerichte oder Parlamente, da Menschen allein untereinander Verträge abschließen und diese nicht brechen können.
Es ist allerdings zu erwarten, dass der Weg zu einer solchen Gesellschaftsarchitektur durch ähnliche Lerneffekte gekennzeichnet wäre, wie es schon der Versuch der Neuerfindung von Währung war. Was passiert, wenn zwei Personen uneins über die Auslegung der Programmierung eines solchen smart contracts sind? Was passiert, wenn der Programmcode einen Fehler enthält, wie bereits in der Vergangenheit bei einer großen Blockchain vorgefallen ist? Wie ist mit offensichtlichem Betrug oder Nötigung umzugehen? Was passiert, wenn unterschiedliche Verteilung von Ressourcen, Gewalt und Macht eine Vertragspartei dazu befähigt, die andere strukturell auszubeuten?
In ihrer Geschichte hat die Menschheit politische Einrichtungen wie Verfassungen, Parlamente, Staaten, Gerichte, Wahlen, Gesetze, Gewaltenteilung und viele weitere entworfen, weil diese als einzige gewährleisten konnten, dass Macht nicht auf einige wenige verteilt ist, sondern alle Menschen einen Anteil daran haben, über die Fragen des gemeinsamen Zusammenlebens zu bestimmen. Damit soll nicht gesagt sein, dass diese Einrichtungen immer einwandfrei funktionieren oder zur vollen Zufriedenheit der Menschen arbeiten. Außerdem sind auch diese genannten Einrichtungen immer ein Spiegel einer bestimmten Epoche, in der ein bestimmtes Problem mit den damaligen Mitteln und unter Anwendung des damals verfügbaren Wissens gelöst werden mussten. Grundsätzlich ist an dem Versuch, diese Einrichtungen zu modernisieren, nichts auszusetzen. Das Problem mit Web3 liegt allerdings darin, dass es die zentrale Konstante, die der Entwicklung der menschlichen Gesellschaft zu Grunde liegt, in Abrede stellt: Das Vertrauen.
Mehr zur Problematik des Eigentums im Web3.
Mehr zum Solutionismus des digitalen Kapitalismus. (Deutschlandfunk Kultur Beitrag)
Vertrauen ist kein naiver Instinkt, sondern eine gesellschaftliche Ressource
Es wäre natürlich naiv, zu ignorieren, dass das Vertrauen der Menschen in staatliche wie auch private Institutionen in den letzten Jahren immer mehr abgenommen hat, was sich auch in vielen empirischen Studien belegen lässt. Es wäre allerdings eine ebenso naive Antwort auf dieses Problem, das gesellschaftliche System so umzubauen, dass es vollständig ohne Vertrauen funktioniert. Ohne Vertrauen hätte der Mensch nie sesshaft werden können, er hätte keine Wintervorräte anlegen und im entscheidenden Moment (halbwegs) bedarfsgerecht verteilen können. Ohne Vertrauen wäre keine gemeinsame Infrastruktur entstanden, Straßen, Schulen, Krankenhäuser, aber auch Banken, Arbeitsteilung und Staaten. Ohne Vertrauen hätte sich nichts in gemeinsamer Abhängigkeit entwickeln können, Menschen hätten alle Systeme und Infrastrukturen immer wieder individuell vervielfältig, statt sie gemeinsam zu nutzen und weiterzuentwickeln.
Dieses Vertrauen meint aber kein persönliches, individuelles Wohlwollen, sondern das sichere Wissen, dass bestimmte Mechanismen funktionieren, auf die sich alle geeinigt haben: Dass Autos halten, wenn die Fußgängerampel grün zeigt. Dass eine Bäckerei auch nächste Woche Euro annimmt und dafür Brot ausgibt. Dass ein Mensch bestraft wird, wenn er einem anderen Menschen unrechtmäßigen Schaden zufügt. Dort, wo dieses Vertrauen durch reale Probleme erschüttert wird, ist es daher umso wichtiger, Systeme so zu verbessern, dass das Vertrauen in eine funktionierende Gesellschaft wiederhergestellt werden kann. Wenn die weltweite Verzahnung von Finanzmärkten zu einer Wirtschaftskrise führt, dann sollte die Überlegung eher sein, wie diese sinnvoll reguliert werden sollten, anstatt darauf zu hoffen, dass ein vom Reißbrett neu entworfener und komplett unregulierter Finanzmarkt mit diesen Problemen nicht zu kämpfen haben wird.
Die gemeinsame Abhängigkeit reduzieren – das mag zunächst verlockend klingen. Die Geschichte der politischen Institutionen – wie auch die immer noch recht junge Geschichte des Web3 – hingegen zeigen, dass der bessere Weg darin liegt, die gemeinsame Abhängigkeit zu akzeptieren und einen guten Umgang mit ihr zu finden. An manchen Stellen liegt er vielleicht sogar darin, diese Abhängigkeit noch zu vertiefen, wenn zu erwarten ist, dass dadurch ein neues Vertrauen auf ein gesellschaftliches Miteinander entstehen kann. Wenn das Web 2.0 von zu wenigen Menschen geprägt ist, die zu viel zentralisierte Macht in wirtschaftlichen Monopolen angehäuft haben, dann sollte die Frage also eher lauten, wie diese Konzentration politisch aufgelöst werden kann.
Denn wenn jenes Web3, welches viele libertär eingestellte Menschen heute verfechten, eines Tages wirklich eine Welt hervorgebracht haben werden sollte, in der einzig und allein Programmiercode Gesetz ist, dann müssen nicht nur Banken „neu“ erfunden werden. Dann werden sich Stück für Stück politische Proteste, Verfassungen, Parlamente und Gerichte „neu“ bilden. Dann werden die Menschen nach und nach neu entdecken, dass sie zutiefst politische Wesen sind, die ein tiefes Bedürfnis danach haben, immer wieder neu auszudiskutieren, wie sie zusammenleben möchten. Und es sich nicht verhindern lässt, diesem Bedürfnis Raum zu geben, weil sich Freiheit nur innerhalb dieser Diskussionen verwirklichen kann und nicht in deren Abwesenheit. Wir sollten unsere Energie darauf verwenden, diesen Raum fair und angenehm zu gestalten, statt ihn zu meiden, weil uns das Vertrauen abhandengekommen ist.