Sicherheit – sich sicher fühlen können – ist ein Grundbedürfnis des Menschen und in einem demokratischen Rechtsstaat auch ein Rechtsanspruch. Erlebte Sicherheit ist eine wichtige Grundlage für ein stressfreies (gesundes) Leben.
Angst meldet gefährdete Sicherheit. Angst gehört zur normalen, gesunden biopsychosozialen Grundausstattung menschlichen Lebens. Angst ist ein Meldesystem bei Bedrohung. Angst ist Natur, Angst sichert das Überleben. Angst aktiviert physiologische, biochemische, hormonelle Schutzreaktionen, die dem Menschen helfen, auf Angst mit Kampf oder Flucht zu reagieren, um der ängstigenden Gefahr zu begegnen oder zu entkommen. Wenn aber Kampf nicht gewagt und Flucht nicht möglich sind – was in der modernen und zivilisierten Welt sehr häufig der Fall ist – bleibt als dritter Weg nur die innere Stressverarbeitung, die sich dann in Herzklopfen, Schweißausbruch, Muskelanspannung, hohem Blutdruck äußert, womit praktisch die zum Kampf oder zur Flucht zur Verfügung gestellte Energie in somatisierter Form verarbeitet wird. Angstvoller Dauerstress wird schließlich zur psychosomatischen und psychischen Erkrankung. Typische Angsterkrankungen sind die Phobie (z.B. Höhenangst, Platzangst, Angst vor Spinnen, Schlangen u.a.m.) und die Furcht, (z.B. vor Krankheiten, Infektionen, vor Blamage, vor Misserfolgen, von Abwertungen u.a.m.).
Latente Ängste und deren kurzer Weg zum Hass
Wir müssen Realangst (Angst bei realer Bedrohung und Gefahr) von latenter (neurotischer) Angst unterscheiden. Wir tragen fast alle (mehr oder weniger) latente Ängste in uns als Folge von erfahrenen Kränkungen, Demütigungen, Abwertungen, Beschämungen, von nicht geliebt, verstanden und gewürdigt worden sein. Solche aufgestauten Ängste bei erlittenen körperlichen, seelischen und sozialen Verletzungen können bis in die frühe Kindheit zurückreichen. Solche aufgestauten und oft nicht mehr bewussten Ängste erklären die mitunter heftigen Reaktionen auf relativ harmlose aktuelle Anlässe, wenn eine heftige und real unbegründete Panik oder ein Wutanfall ausbrechen („Fliege an der Wand“), die nicht mehr als angemessene Reaktion eingeschätzt werden können.
Ängste des Menschen als Folge von Unsicherheit betreffen alle Dimensionen seiner ganzheitlichen Existenz:
- körperlich als Angst vor Verletzung, Schmerz, Verlust, Folter, Krankheit, Tod
- psychisch als Angst vor Lieblosigkeit, nicht verstanden werden, nicht befriedigt werden, beleidigt und beschämt werden, vor Einsamkeit und Verlassenheit
- sozial als Angst vor Ablehnung, Abwertung, Beschämung, Statusverlust, Ausgrenzung, Verfolgung
- spirituell als Angst vor Schuld, Scham, Sünde und Strafe, als Angst vor dem Gesetz, vor moralischen, kulturellen und religiösen Regeln und Ansprüchen, Angst vor Verlust an Werten, Orientierung und Struktur, an Sinn.
Es gibt in aller Regel eine verhängnisvolle psychodynamische Entwicklung, dass Angst in Aggression und Hass und dann in Gewalt und Krieg verwandelt wird. Latente Angst, die inneren Stress erzeugt, aber nicht mehr als Angst wahrgenommen wird (weil zu peinlich, zu schmerzlich, zu kränkend) wird in Aggression verwandelt, um den Stress energetisch abführen zu können. Die Tragik und soziale Gefahr liegt darin, dass berechtigte Realangst oder aufgestaute neurotische Angst jetzt am „falschen Objekt“ abreagiert wird: Du bist schuld! heißt es dann. Zum Opfer werden dann meistens sozial Schwächere, die sich nicht gut wehren können. Das sind dann auch Minderheiten, Andersdenkende, Fremde, Migranten. Aber angstvoller Stress dient auch als energetische Basis für Hetze gegen Vorgesetzte, Autoritäten, Politiker, Verantwortliche – was selten offen und angemessen ausgetragen wird, sondern eher heimlich, versteckt oder in sozialen Gruppen, die sich wechselseitig stärken und ermutigen.
Im Grunde ist jeder Protest, jede Kritik zu analysieren, was daran real ist und was aus unbewusster und aufgestauter Angst und Aggression stammt. Das heißt, danach zu forschen und verstehen zu wollen, welche innerseelischen Verletzungen hat ein ängstlicher und aggressiver Mensch erlitten, welche sozialen Kränkungen sind ihm angetan worden und welche realen Bedrohungen liegen vor. Auch jeder Extremist und jeder Gewalttäter verdient eine solche Analyse, um wirklich verstehen und helfen zu können. Aber natürlich sind damit reale Straftaten nicht entschuldigt. Sie müssen geahndet, bestraft, aber immer auch analysiert werden, um Chancen einer guten Resozialisierung zu finden.
Die wichtigsten psychosozialen Angstquellen sind:
- Bedrohung und Gefahr
- Statusverlust, Bedeutungsverlust
- Verlust an Territorium.
Um die aktuelle Gesellschaftskrise aus der Perspektive von Angstquellen besser zu verstehen, nenne ich die realen Bedrohungen:
- reale Gefahr durch Terrorismus
- reale Gefahr durch Kriminalität
- Verunsicherung der Orientierung durch Globalisierung
- kapitalistische Konkurrenzkämpfe mit drohendem Arbeitsplatzverlust
- reale Veränderungen durch Klimakatastrophe
- Angst vor sozialen Konflikten bei zunehmender ungerechter Verteilung
- Werte- und Orientierungsverlust durch Säkularisierung, durch Kampf der Kulturen und Religionen)
- Kampf um Ressourcen und Territorien (Energie, Wasser, landwirtschaftliche Nutzfläche, Bodenschätze).
Dialogverweigerung? – Keine gute Idee!
Je größer die latenten Ängste bei Menschen sind, die aus Belastungen und Defiziten der individuellen Entwicklung resultieren und je größer die sozialen Verunsicherungen sind, desto heftiger werden Ängste aus realen Bedrohungen erlebt. Das erklärt aus meiner Sicht auch die besondere Protestbewegung in Ostdeutschland: die Folgen autoritär-repressiver Erziehung und die Folgen erheblicher sozialer Kränkungen im deutschen Vereinigungsprozess mit Statusverlust, Verlust der Anerkennung von Lebensleistungen, Verlust von Halt gebenden Beziehungen und sichernden Sozialleistungen, Arbeitsplatzverlust u.a. ergeben eine große Stressbelastung aus innerseelischen und sozial-gesellschaftlichen Faktoren. Deshalb sollte der außerparlamentarische Protest (wie z.B. Pegida) nicht dämonisiert werden, sondern als ein sehr ernst zu nehmendes Signal verlorener Sicherheit und wachsender Angst verstanden werden.
Die einseitige Diffamierung z.B. als „rechtsextrem“, die Verweigerung des Dialoges und der inhaltlichen Auseinandersetzung, mit wachsender Spaltung in Pro und Contra vergrößert die Ängste, nicht verstanden und nicht ernst genommen zu werden und erhöht das Sicherheitsrisiko. Hassvolle Reaktionen, ob von „rechts“ oder von „links“, von Politikern, Autoritäten der Gesellschaft oder einzelnen Bürgern sind weder hilfreich noch zielführend. Nur das Bemühen um Verstehen und Verständnis, die Analyse von Motiven, die inhaltliche Auseinandersetzung mit Berücksichtigung berechtigter Argumente – auch wenn es schwer fällt oder schwierig ist, auch mit unerträglichen Formulierungen und Hassparolen umzugehen – bleibt der wichtigste Weg, um Ängste zu mildern und das Sicherheitsgefühl zu stärken.
Klare Ansagen, kritisches Hinterfragen
Politiker sollten klare Ansagen und Aussagen treffen, auch wenn sie mitunter unangenehm, belastend und bedrohlich sein können. Nur die Klarheit und die Wahrheit schaffen Voraussetzungen, um Angst angemessen („Kampf“ als konstruktive Auseinandersetzung für Lösungen und „Flucht“ als angemessener Rückzug aus Fehlhaltungen und Fehlentwicklungen) verarbeiten zu können. Viele Menschen sind in den letzten Monaten durch unklare Aussagen verunsichert worden und haben Angst entwickelt, wenn z.B. gesagt wird
- „der Islam gehört zu Deutschland“ – ohne zu sagen, welcher Islam gemeint ist, welche religiösen Werte und welches Verhalten für die Akzeptanz des deutschen Grundgesetzes gefordert sind
- „es gibt keine Obergrenze“, wenn nicht gesagt wird, wie eine praktisch unvermeidbare Obergrenze humanitär und optimal gestaltet werden kann, wie Bedrohung, Status, Kultur und Territorium gesichert werden
- „wir schaffen das“, wenn nicht konkret gesagt wird, was genau und wie geschafft werden kann, wo die Grenzen sind, welche Folgen zu erwarten sind und wie damit konkret umgegangen wird.
Unklare, unbestimmte, ideologisierte oder moralisierende Aussagen tragen zur Verunsicherung bei und aktivieren latente Ängste. Eine belastende Wahrheit macht weniger Angst als unbestimmte und abwiegelnde Aussagen, in die alle möglichen Unsicherheiten und Ängste hineinprojiziert werden können.
Die Flüchtlingsströme sind nicht die Ursache der gegenwärtigen Gesellschaftskrise, sondern höchstens die Auslöser, um latente und reale Ängste einer gesellschaftlich-narzisstischen Fehlentwicklung ins Bewusstsein zu bringen. Es wäre verhängnisvoll und tragisch, wenn Verunsicherung und reaktivierte Ängste in Fremdenhass und soziale Gewalt verwandelt werden, statt uns gemeinsam – wenn auch konträr, pluralistisch und auch konstruktiv-engagiert – um Entwicklungen zu bemühen, unsere eigene Lebensform kritisch in Frage zu stellen und materiell und diplomatisch eine gerechtere soziale Verteilung, die Bekämpfung der Armut und der Kriegsursachen zu fördern.
Mein Vorschlag:
- Jeder kann sich bemühen, seine latenten Ängste zu erkennen und regulieren zu lernen (evtl. auch mit professioneller Hilfe).
- Der Dialog und die inhaltliche Auseinandersetzung konträrer Positionen ist die wichtigste Aufgabe notwendiger Verständigung.
- Die Diffamierung Andersdenkender sollte geahndet werden.
- Statt „Geschwisterkrieg“ und „Fremdenhass“ können gemeinsame Anstrengungen unternommen und Lösungen gefunden werden, wie der globale „Sozialkrieg“ zwischen arm und reich besser reguliert werden kann.