Es kann ein sehr schmaler Grat sein: Spielt der Junge da noch leidenschaftlich online mit seinen Freunden – oder ist das schon Sucht? Eine Frage, die sich gerade in Corona-Zeiten immer mehr Eltern stellen – oder auch stellen sollten: Eine derzeit laufende Studie besagt, dass im Vergleich zum Herbst 2019 die Spielzeiten während des Corona-Lockdowns werktags um bis zu 75 Prozent zugenommen haben, dass bei fast 700.000 Kindern und Jugendlichen das Gaming riskant oder pathologisch ist.
Die SLpB hat sich in der Veranstaltungsreihe "#zocken, #ballern, #lernen" fünf Mal mit den verschiedenen positiven Seiten der Faszination von Computerspielen beschäftigt; Dr. Benjamin Bigl leitet das Medienpädagogische Zentrum in Torgau und zeigte in seinen Online-Vorträgen, was Menschen am Spielen fasziniert und weswegen es nötig ist, mit gängigen Vorurteilen gegenüber Games und Gamern und Gamerinnen aufzuräumen. In der Abschlussveranstaltung ging es dann um das, was die meisten Laien damit verbinden: Um Sucht und problematische Nutzungsweisen. Was die nackten Zahlen nicht vermitteln können: Wie kann das passieren, wenn doch allein in Deutschland etwa 34 Millionen Menschen relativ häufig am Computer spielen, ohne süchtig zu sein?
Probleme kompensiert
Einer, der vielleicht eine Antwort darauf hat, ist Christian Petersen. Er studiert Psychologie, geht im Rahmen von Suchtberatungen in Schulen, gibt Fortbildungen fürs Elterntelefon – und ist selbst spielsüchtig. "Sucht", sagt er, "kommt nicht einfach so von einem Spiel. Sucht kompensiert Probleme, die ich anders nicht lösen kann." Anerkennung, Erfolg, Feedback, Freundschaft – all das ist bei Computerspielen möglich. Aber nicht für alle im echten Leben.
Erst als Petersen zum zweiten Mal wegen Depressionen in stationärer Behandlung war, wurde ihm, inmitten von Alkoholikern und Drogenabhängigen klar, dass auch er ein Suchtproblem hat. Mittlerweile, nach vielen Therapiestunden, hat er einen sehr reflektierten Blick auf seine Kindheit und Jugend, aber auch auf die Gesellschaft: Zwar hat ihn seine Mutter auf sein häufiges Computer Spielen angesprochen, "aber die konnte ich damals in der Pubertät nicht ernst nehmen", haben sich – wie er heute weiß – Lehrer bei seinen Eltern gemeldet, weil sie sich Sorgen gemacht haben. Doch Blässe, ständiges Übermüdetsein, Einsamkeit haben sie auf mögliche häusliche Gewalt zurückgeführt, was die Eltern empört von sich wiesen. Seine ehemalige Freundin warf ihm vor fremdzugehen, weil auch sie die Müdigkeit nicht auf die eigentliche Ursache zurückführte: auf das exzessive Computer Spielen. Im Rückblick sagt Petersen: "Eigentlich hat das System sogar funktioniert. Nur den richtigen Schluss hat niemand gezogen." Vor knapp 20 Jahren habe man über Spielsucht noch sehr wenig gewusst, aber Christian Petersen fügt hinzu: "Ich bin mir nicht so sicher, ob das Wissen bei Lehrern heute wirklich größer ist."
Noch viel Forschung notwendig
2018 hat die WHO die so genannte Gaming Disorder offiziell als Abhängigkeitskrankheit anerkannt und Kriterien festgelegt, anhand derer die Sucht erkennbar ist. Und trotzdem: "Es ist immer noch ein junges Phänomen, es wird noch viel Forschung gebraucht", sagt Anneke Elsner von der Universität Leipzig. Sie hat im Rahmen ihrer Bachelorarbeit in einer qualitativen Untersuchung mit Betroffenen gesprochen, die sich aufgrund ihres Leidensdrucks Hilfe gesucht haben.
So unterschiedlich die jeweilige Herkunft der Befragten war, gewisse Muster konnte sie in den Gesprächen beobachten: "Es ist ein Bedingungsgeflecht: Die Betroffenen hatten schon in früher Kindheit und Jugend positive Computerspielerfahrungen, in der familiären Situation gab es Probleme wie Streit zwischen Familienmitgliedern oder sogar Gewalt. Gleichzeitig hatten die Personen wenig, worauf sie in Konfliktsituationen zurückgreifen konnten." Freunde fehlten, das Verhältnis zu den Eltern war gestört, eigener Stärken waren sich die Betroffenen oft nicht bewusst.
Das heißt aber auch andersherum: Ein Freundeskreis, intakte Familienverhältnisse, ein stabiler Selbstwert sind wichtige Schutzfaktoren gegenüber einer problematischen Computerspielnutzung. Anneke Elsner ist sorgsam in ihrer Wortwahl, sie weiß, wie schnell vor allem Laien Menschen, die einfach nur gern Computer spielen, pauschal der Spielsucht verdächtigen. "Oft werden leidenschaftliche Computerspieler vorschnell pathologisiert", sagt Elsner, die auch als Medienpädagogin arbeitet. "Wir müssen noch sehr viel mehr darüber lernen, und wir müssen noch mehr darüber informieren", sagt sie. Vor allem über die Möglichkeiten und Wirksamkeiten von frühen Interventionen müsse gesprochen, der Einfluss und die Wirkmacht des Umfeldes müsse klarer werden.
Verbote bringen nichts
Eine Möglichkeit für Eltern sei es zum Beispiel, mit ihren Kindern mitzuspielen und damit die Fähigkeiten, die sie im Spiel entwickelt haben, anzuerkennen. Das Spielen damit aus der Tabuzone rauszuholen, darüber zu sprechen, ohne zu verurteilen. Denn insgesamt, so Elsner, widerfahre Computerspielen das, was jedem Medium passiere, wenn es neu ist: Skepsis und Ablehnung. Von immer wieder diskutierten Verboten bestimmter Spiele hält sie wenig. Das sieht auch Christian Petersen so. "Die bringen mit Sicherheit nichts", meint Christian Petersen. "Verbote kann man immer umgehen." Und sie packen das eigentliche Problem nicht an den Wurzeln.
Aber was sollte Politik denn tun? Ob sie wirklich etwas verändern könne, da ist sich Christian Petersen nicht so sicher. Er formuliert es so: "Wenn die Politik sich mehr Mühe geben würde, die Ausbildung gesunder, stabiler Kinder zu fördern, die kein Bedürfnis haben vor der Realität zu fliehen, wenn die Eltern gestärkt würden, dann können wir uns die Diskussion um Regulation innerhalb der Medien sparen. Zuhören, für die Kinder da sein, mit ihnen was unternehmen, Alternativen anbieten", sagt er. "Und nicht selbst dauernd auf Bildschirme starren, das wäre gut."