Es herrscht Aufbruchsstimmung beim HAMMER WEG e.V. „Wir sind ganz vorn mit dabei“, ruft Ulfrid Kleinert, Vorsitzender des Vereins zur Förderung Strafgefangener und Haftentlassener, ins Mikrophon. Es ist ein diesiger Freitagabend Mitte Januar und hocherfreut spricht Kleinert vor etwa 75 Zuhörerinnen und Zuhörern im Tagungssaal der Evangelischen Akademie Meißen. Ein Großteil der Anwesenden sind Expertinnen und Experten auf dem Gebiet des Strafvollzugs, unter ihnen etliche ehrenamtlich Engagierte. Seinen Grund zur Freude findet Ulfrid Kleinert im erst wenige Wochen alten Koalitionsvertrag der neu gebildeten sächsischen Landesregierung. Beinahe alles, was die Gruppe der Beiratsvorsitzenden in sächsischen Justizvollzugsanstalten und mit ihnen der HAMMER WEG e.V. angeregt hatten, fänden sich wieder unter dem Stichwort Justizvollzug, sagt er und fügt hinzu: „Es geht nicht weiter im alten Trott.“
Mit Katja Meier (Grüne) als neu ernannte Justizministerin sieht Ulfrid Kleinert eine wichtige Verbündete im Streit für alternative Methoden der Resozialisierung Strafgefangener. Die Ministerin, bis dato auch Mitglied im Anstaltsbeirat der Justizvollzugsanstalt Zeithain, war in den vergangenen Jahren regelmäßige Teilnehmerin an den Tagungen des Vereins. In diesem Jahr begrüßte sie alte Bekannte in ihrer neuen Funktion. „Die Freiheitsstrafe ist ultima ratio“, sagte sie in ihrem Grußwort. Der Entzug der Freiheit sollte nur als letzter Ausweg und „nur auf Basis von Wissenschaft und Erfahrung angewendet werden“.
In diesem Sinne finden sich auch die Formulierungen im Koalitionsvertrag wieder: „Den Vollzug in freien Formen werden wir ausbauen, wobei insbesondere Angebote für Frauen und erwachsene Männer zu schaffen sind. Vollzugspolitische Maßnahmen sollen auf Grundlage der kriminologischen Forschung, weiterentwickelt werden“, heißt es dort unter anderem.
Dieses schriftliche Bekenntnis ist ein wichtiger Schritt auf einem weiterhin langen Weg, dessen möglichen Verlauf Professor Bernd Rüdeger Sonnen in seinem einleitenden Vortrag knapp skizziert. Sachsen sei zwar nicht besser im Justizvollzug als der Bundesdurchschnitt, erklärt er, aber „Sachsen ist auf einem superguten Weg“. Sonnen umreißt die Klientel, die nicht nur er als Kriminologe als für die verschiedenen Formen des freien Vollzugs geeignet sieht: Kurz- und Ersatzfreiheitsstrafler, also Menschen, die beispielsweise ihre Schulden fürs Schwarzfahren absitzen. Der 79-Jährige meint Rechtsverletzer, von denen keine Gefahr für Leib und Leben ausgeht und die keiner speziellen Therapie bedürfen. Immerhin knapp zwei Drittel aller mehr als 3.500 in Sachsen Inhaftierten würde das seiner Meinung nach betreffen. „Ist die Mauer mit Stacheldraht wirklich die Lösung?“, fragte er. „Eine gelingende Resozialisierung ist doch der beste Opferschutz“, fügt er hinzu.
Im Plenum und in Gruppen diskutieren die Teilnehmenden am folgenden Tag Beispiele aus der Praxis und wie sie gelingen können. Sie erfahren von Die Brücke e.V. in Aschaffenburg, einem lokal stark vernetzten Verein, der unter anderem eine Tischlerwerkstatt und eine Art Sozialkaufhaus für gebrauchte Möbel betreibt. Hinzu kommen zahlreiche Trainingsangebote und modulare Weiterbildungen für straffällig Gewordene. Die Teilnehmenden erhalten Einblicke in die Arbeit der sächsischen Jugendgerichtshilfe und in eine Altbausanierung mit Wohnsitzlosen in Radebeul-Altkötzschenbroda. Eine praktische Wirkerfahrung sei das gewesen, sagt Friedemann Dietzel von der dafür verantwortlichen Stadtmission Dresden. „Für die die beteiligten Jugendlichen und Männer war es wichtig zu erleben, da ist etwas durch ihrer Hände Arbeit gewachsen. Das Projekt hatte in ihren Augen Sinn, dadurch konnten sie es für sich annehmen.“
Ulfrid Kleinert meint, einen Paradigmenwechsel wahrzunehmen, der allmählich stattfindet in der Gesellschaft. Der Blick auf gesellschaftliches Fehlverhalten und die daraus folgende Konsequenz verändere sich – sehr langsam immer noch, aber kontinuierlich. „Statt Verwahren, Wegschließen und Ausgrenzen stehen Angebote für eine Komplexlösung, die sich an der Bedürftigkeit der Straffälligen zur Wiedereingliederung in der Gesellschaft orientieren, auf dem Programm“, sagt er. Dr. Johannes Boettner, Professor für Soziologie an der Hochschule Neubrandenburg, findet dafür eine interessante Analogie: „Kriminalität ist wie Abwasch im Haushalt, man kann sie nicht abschließend lösen.“ Die Gesellschaft müsse sich realistisch und angemessen mit ihr auseinandersetzen. Immer wieder.
Wegschließen und Wegschauen funktioniere nicht, das belegten Studien. Strafe oder Wiedergutmachung müsse mitten in der Gesellschaft stattfinden, dort, wo auch der Schaden entstanden sei, wo möglicherweise auch die Wurzel des Übels liege. Dazu sei es dringend notwendig, die Öffentlichkeit mit verschiedenen Mitteln und auf direktem Wege mit einzubeziehen und zu sensibilisieren. „Sie werden noch so gute Programme nicht gegen die Mehrheit der Öffentlichkeit umsetzen können“, sagt Boettner. Wenn Resozialisierung in ihrer Mitte stattfinden soll, müsse in der Nachbarschaft klar sein: Niemand möchte eine begangene Tat verharmlosen.
Über das dahinter stehende Menschenbild spricht der Theologe Ulfrid Kleinert: „Haben wir es mit Kriminellen zu tun oder mit straffällig gewordenen Menschen?“, fragt er in die Runde. Einen Wandel im Blick auf die Menschen hinter Gitter stelle er fest beim Lesen des Koalitionsvertrages. Am Ende der Tagung einigen sich die Teilnehmenden auf eine Resolution: Unter anderem „begrüßen [sie] die Absicht, den Vollzug in freien Formen auszubauen, sowie die rechtlichen und finanziellen Grundlagen für die Reformvorhaben bereitzustellen“. Und sie bitten darum, neben den im Justizvollzug Arbeitenden selbst ebenfalls einbezogen zu werden in die Gestaltung dieses Prozesses.