Die Demokratie-Euphorie der frühen 1990er Jahre sei einer Welle der Autokratien gewichen – und in den letzten zehn Jahren habe sich die Zahl der stabilen, konsolidierten Demokratien von weltweit 41 auf 34 verringert. Das konstatierte Prof. Hans Vorländer, Direktor des Zentrums für Verfassungs- und Demokratieforschung der TU Dresden, in seinem Impulsvortrag. Außerdem wies er auf das Problem der zunehmenden Konsum-Mentalität der Bürgerschaft hin: Politik werde mittlerweile ähnlich aufgefasst wie ein Pizzadienst, als könne man nach Gusto bestellen – und wenn die Politik dann nicht das Gewünschte liefere, werde sie quasi wieder abbestellt.
Insgesamt 100 Teilnehmende waren bei der Hybrid-Veranstaltung im Zeitgeschichtlichen Forum Leipzig dabei – die meisten direkt vor Ort, einige online zugeschaltet. Nach der Begrüßung durch Dr. Uta Bretschneider, Direktorin des ZFL, führte Dr. Roland Löffler, Direktor der SLpB in das erste Panel „Krise der Demokratie(n)“ ein, in dem die wachsende Distanz zwischen politischen Akteuren und Bürgerinnen und Bürgern thematisiert wurde: Es diskutierten Impulsredner Professor Vorländer, Anne Hähnig, Redaktionsleiterin der Wochenzeitung ZEIT im Osten, und Dr. Alexander Leistner, Kultursoziologe an der Universität Leipzig.
Entfremdung, Protest, Partizipation
Im Zentrum ihrer Debatte stand die „ostdeutsche Unmittelbarkeitserfahrung“: die Erfahrung, selbst und aktiv ein politisches System gestürzt zu haben, als Teil einer Bewegung auf der Straße und im Rahmen einer friedlichen Revolution.
Angesichts der aktuellen Krisen wünschten sich viele Menschen nun dagegen Führung, so Professor Vorländer, gleichzeitig hätten populistische und extremistische Gruppen ein Mobilisierungs-Potential entwickelt und setzten darauf, dass die Krisen sich weiter verschärfen. Die Ängste der Menschen müssten bearbeitet und die Mitte der Gesellschaft gestärkt werden, damit diese nicht ins Rutschen gerate.
Eine Zuhörerin bedauerte, dass die Parteien der Mitte es versäumt haben, die Bürger für sich zu gewinnen. Ihrer Meinung nach besetze die AfD genau diese Lücke. Das hybrid stattfindende Symposium ermöglichte auch die aktive Partizipation der Teilnehmerinnen und Teilnehmer. Sie stimmten online per Mentimeter ab. Bei der Frage, ob man zwischen sich und den politischen Akteuren eine kleine oder große Distanz empfinde, lagen die Antworten mehrheitlich in der Mitte.
Gemeinsame Interessen als Türöffner
Nach der Mittagspause kamen Elftklässler einer Leipziger Schule zum Impulsvortrag von Laura-Kristine Krause, Geschäftsführerin des deutschen Teams von „More in Common“, einer internationalen gemeinnützigen Organisation, deren Anliegen ist, Polarisierung entgegenzutreten und gesellschaftlichen Zusammenhalt zu stärken. Krause berichtete von Untersuchungsergebnissen, die gezeigt habe, dass Menschen sich durchaus beteiligen wollten. Dafür müssten idealerweise Alltagsorte – etwa Supermärkte, Drogerien, Restaurants oder Cafés – als Türöffner für politische Debatten genutzt werden.
Im zweiten Panel „Demokratisierung der Demokratie(n) – neue Beteiligungsformen als Chance oder Gefahr?“ – diskutierten Laura-Kristine Krause, Dr. Andreas Gross, Schweizer Politikwissenschaftler, Katharina Liesenberg, Politikwissenschaftlerin (TU Darmstadt) und Oliver Wiedmann, Leiter des Hauptstadtbüros von Mehr Demokratie e.V. über verschiedene Beteiligungsformate.
Andreas Gross, der in der Schweiz das „Atelier für direkte Demokratie“ gründete, ging auf das Beispiel des 2019 vom französischen Staatspräsidenten Emmanuel Macron organisierten Bürgerrats für das Klima ein. 150 Menschen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Schichten und aus ganz Frankreich gehörten dem Rat an, bestimmt wurden sie per Los. Ziel war, dass der Rat gemeinsam Vorgaben für die französische Klimapolitik erarbeitet, um Treibhausgasemissionen bis 2030 drastisch zu reduzieren.
Letztlich setzte die Regierung die erarbeiteten Vorschläge jedoch nicht konsequent um. Unter anderem scheiterte im Sommer 2021 der Versuch, den Klimaschutz in der französischen Verfassung zu verankern. Hier sei ein vielversprechendes Format letztlich an fehlender Verbindlichkeit gescheitert, so Gross. Das sei fatal, denn es enttäusche Erwartungen und damit auch Vertrauen in die Politik.
Parallel dazu ergab die zweite Online-Befragung der Teilnehmenden, dass Wahlen als Beteiligungsformat der Vorzug gegenüber Volksentscheiden, runden Tische sowie Demonstrationen gegeben wurde. Mit dem Format E-Partizipation konnten die wenigsten etwas anfangen.
Vom Einschluss und Ausschluss
Im dritten Panel kam der Impulsvortrag von Astrid Lorenz, Professorin für das Politische System Deutschlands und Politik in Europa (Universität Leipzig). Sie erläuterte die Schwierigkeit, Menschen für alternative Beteiligungsformate zu gewinnen: Allein die Themensetzung oder die Sprache, der zeitliche Rahmen oder der Ort könne potenziell Interessierte ausschließen. Daher sei ein feines Sensorium für die Effizienz des Vorhabens notwendig, so Lorenz. Thema der Podiumsdiskussion war „Mobilisierung der Demokratie(n) – Partizipation im Spannungsverhältnis von Inklusion und Exklusion?“ Dr. Helle Becker, Leiterin von Expertise & Kommunikation für Bildung, Hannah Göppert, Co-Geschäftsführerin der Initiative Offene Gesellschaft e.V., Christian Hesse, Regionalleiter beim Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverband und José Paca, Vorstandsvorsitzender von DaMOst e.V. debattierten mit Prof. Lorenz.
Ein zentraler Punkt war, dass in den großen Städten meist immer wieder dieselben Stimmen zu Wort kommen, wohingegen es auf dem Land kaum geeignete Beteiligungsformate gäbe. Kleinere Formate eignen grundsätzlich besser als großangelegte Projekte, da einzelne Bürgerinnen und Bürger diese aktiver mitgestalten könnten, so die Diskutanten.
Die abschließende Online-Befragung zu der offenen Frage „Wie kann es gelingen, möglichst viele Menschen einzubeziehen und sie für politische Beteiligung zu begeistern?“ ergab eine große Bandbreite an Vorschlägen, darunter: Zuhören, Relevanz vermitteln, zielgruppengerechte Ansprache, Engagement-Urlaub, Verbindlichkeit und Transparenz im Prozess.
Möglichkeiten transparent machen
Die Zusammenfassung der vielen inhaltlichen Impulse, Einblicke und Anregungen der Veranstaltung übernahm Dr. Thomas Töpfer, Abteilungsleiter schulische und außerschulische Lernorte des Amtes für Schule der Stadt Leipzig. Er hob hervor, dass verschiedene Möglichkeiten politischer Partizipation sehr viel transparenter gestaltet werden sollten. Zwar sei Beteiligung auch anstrengend und fordernd – nicht alle Menschen könnten diese daher leisten. „Machen wir uns die Voraussetzungen klar: Wer ist ein- und wer ist ausgeschlossen?“ Mit dieser Frage beendete er das Symposium, das im sechzigsten Todesjahr des Namensgebers Theodor Litt stattfand.
Den Mitschnitt der gesamten Veranstaltung gibt es auf dem YouTube Kanal der Deutschen Gesellschaft e.V.