Herr Klemm, mangelt es dem Freistaat an Erwachsenenbildung?
Die Erwachsenenbildung und die Idee des lebenslangen Lernens haben in den vergangenen Jahren in Sachsen eher an Bedeutung gewonnen. Das war nicht immer der Fall. Ich würde sagen, in den ersten 20 Jahren nach der Wiedervereinigung war die Erwachsenenbildung im Freistaat ein nebengeordneter Aspekt in der Bildungspolitik. Die gesellschaftliche Entwicklung hat gezeigt, dass wir dieses Thema stärker in den Fokus nehmen müssen. Die meiste Zeit unseres Lebens bewegen wir uns im Modus des Erwachsenseins. Deshalb hat das lebenslange Lernen auch diese besondere Bedeutung. In Sachsen haben wir das vor allem im Jahr 2015 bei der Migrationswelle, beim Thema demografische Entwicklung, beim ländlichen Raum und vor allem beim Rechtspopulismus gemerkt. Was da hochgekocht ist, hat uns zum Teil sehr aufgeschreckt. Für uns war klar, Rechtsradikalismus, Rechtspopulismus hat auch etwas mit Bildung zu tun, mit lebenslangem Lernen. Wir müssen die politische Bildung stärker in den Fokus nehmen, insbesondere auch an den Volkshochschulen.
Weswegen hatte politische Bildung denn so lange keinen so großen Stellenwert?
Die politische Bildung ist ein Grundelement der Erwachsenenbildung. Nur hatten wir in den neuen Bundesländern – auch in Sachsen – in den letzten Jahren andere Schwerpunkte. Dazu gehörten die berufliche, kulturelle, die Sprachbildung und auch die Gesundheitsbildung. Darüber hatten wir die politische Bildung etwas vernachlässigt. Der gesellschaftliche Wandel hat uns dann sehr deutlich gemacht, dass im Bereich der interkulturellen Bildung und auch der demokratischen Bildung noch großes Entwicklungspotenzial besteht. Insgesamt haben wir auf diesen Gebieten inzwischen eine Sensibilität und eine Aufbruchsstimmung erreicht, an der wir genau merken, Bildung in einer Demokratie muss immer auch demokratische Bildung miteinschließen. Demokratie ist eine Lebensform, die ständiges Lernen erfordert, auch demokratisches Lernen. Sie ist nicht einfach per se da, sondern wir müssen darum kämpfen. Und: Demokratie ist ein Zustand, die ständig unserer Auseinandersetzung bedarf.
In Bezug auf Rechtsextremismus und Rechtspopulismus – wo kann Erwachsenenbildung denn noch ansetzen? Ist es nicht schon zu spät bei Menschen, die sich entsprechend äußern und verhalten, wollen die sich denn überhaupt demokratisch unterrichten lassen?
Erwachsenenbildung hat ihre Grenzen. Wir sind keine therapeutische Einrichtung. Erwachsenenbildung will Begegnungen mit anderen Menschen fördern und Lernen erleichtern. Wir können nicht heilen. Das ist nicht unser Metier. Deshalb erreichen wir bestimmte Zielgruppen auch nicht, die in besonderer Weise eine Hilfe benötigen oder sich in einem kriminellen Milieu bewegen. Eine zentrale Aufgabe der Erwachsenenbildung ist, in der Bürgerschaft demokratische Kultur zu fördern. Wir müssen die Menschen erreichen, die schwanken. Wir müssen die Menschen erreichen, die noch nicht politisch abgedriftet sind. In der Erwachsenenbildung, auch in der Volkshochschule ist ein ganz wichtiger Aspekt, die vorhandene demokratische Struktur, das bürgerschaftliche Engagement und die Zivilgesellschaft zu stärken. In dem Maße, wie die demokratische Zivilgesellschaft gestärkt ist, können sich die Radikalen, seien sie religiöser oder politischer Art, nicht mehr so stark verbreiten, denn dann gibt es einen Widerstand. Das sehe ich als eine Hauptaufgabe in der politischen Bildungsarbeit. Natürlich gehen wir auch auf Rechtspopulisten und Rechtsradikale zu. Aber erfahrungsgemäß ist das eine Sache für die Staatsanwaltschaft.
Das demokratische Lernen, von dem Sie eben redeten, ist häufig auch schwer, die Themen mitunter ziemlich kompliziert. Wie kann denn eine Einrichtung genau diese Menschen erreichen, von denen Sie eben sprachen, also die, die noch nicht abgedriftet sind, aber lieber in der gemütlichen Grillrunde sitzen als im Klassenzimmer?
Das Angebot muss niedrigschwellig sein. Wir müssen zu den Menschen hingehen. Die Erwachsenenbildung hat in den letzten 50 Jahre Programme gemacht, Angebote, und dann hat sie gewartet, bis die Teilnehmerinnen und Teilnehmer gekommen sind. Da gibt es inzwischen einen Paradigmenwechsel. Wir müssen eine aufsuchende Bildungsarbeit in Gang setzen. Das heißt, wir dürfen nicht nur warten, bis die Menschen zu uns kommen, sondern wir müssen zu ihnen und in ihre Milieus gehen. Damit sind wir dann auch beim Thema ländlicher Raum. Wir müssen die Menschen dort treffen, wo sie leben, wo ihr Alltag ist. Wir müssen eine Alltagspädagogik entwickeln, in den Alltag der betroffenen Menschen hineinwirken. Die kommen nicht mehr zu uns, so wie noch vor 20, 30 Jahren. Darum müssen sich auch die Institutionen nicht nur inhaltlich verändern, sondern auch ihre Organisationsstruktur überprüfen, ob die bei uns noch sehr dominante "Komm-Struktur" weiterhin immer sinnvoll ist.
Insofern hat Ihnen die Corona-Pandemie ja in die Karten gespielt. Viel dichter dran als auf dem Bildschirm im Arbeits- oder Wohnzimmer geht doch kaum. Oder?
Das ist tatsächlich ein kleiner positiver Aspekt von Corona, dass wir durch die digitalen Medien in einer neuen Art und Weise ganz nah an die Menschen rangekommen sind. Wenn wir diese virtuelle Errungenschaft in die Bildungsarbeit übertragen wollen, müssen wir aus den Institutionen rausgehen. Bevor ich zur Erwachsenenbildung kam, war ich in der Sozialarbeit und dort in die Gemeinwesenarbeit eingebunden. Die Gemeinwesenarbeit lebt davon, dass wir als Pädagoginnen und Pädagogen, als Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter rausgegangen sind in das Milieu, auf die Straße. Jetzt beginnt für die Bildungseinrichtungen in dieser Richtung ein Paradigmenwechsel. Bis jetzt waren wir es gewohnt, in unserem Büro zu arbeiten, Programme zu entwerfen, gute Werbung dafür zu machen und dann zu hoffen, dass die Teilnehmer zu uns kommen. In den kommenden Jahren steht uns also eine wichtige Entwicklungsaufgabe bevor.
Wie kann das denn konkret aussehen?
Die Volkshochschule im Landkreis Bautzen hat zum Beispiel in der Gemeinde Nebelschütz sogenannte Dorfentwickler ausgebildet. Bei dem Programm geht es darum, herauszuarbeiten, wie ein Dorf zu einem lernenden Dorf werden und wie die Volkshochschule das unterstützen kann. Wir suchen also nach Formaten, die Menschen zu aktivieren, damit sie selbstbestimmt und bürgerschaftlich ihr lernendes Dorf entwickeln können. Wir bilden vor Ort ehrenamtliche Gemeinwesenarbeiter aus, die dann in ihre spezifischen Milieus gehen und dort weiterarbeiten. Wir sind für die Multiplikatorinnen und Multiplikatoren zuständig, die eine bürgerschaftliche Entwicklung voranbringen. Wir sagen den Menschen nicht, was sie zu tun haben, sondern wir geben ihnen Instrumente an die Hand, damit sie ihren Alltag selbst bestimmen können.
Welche Themen bearbeiten Sie da?
Das ökologische Dorf, zum Beispiel, oder wie wir den Zusammenhalt zwischen den Generationen stärker fördern können, Menschen mit Migrationshintergrund in das Dorf integrieren, neue, nachhaltige Arbeitsplätze schaffen. In Nebelschütz gibt es das Thema "enkeltaugliche Zukunft". Das gefällt mir ganz besonders, weil es im Bereich Umweltschutz beginnt und sich ausweitet über ökonomische und wirtschaftliche Fragen bis hin zu Zusammenhalt und Zusammenwirken unterschiedlicher Generationen.
Mit ihrem Projekt "Kontrovers vor Ort" hat die SLpB vor drei Jahren den Anfang gemacht, zu den Menschen zu gehen, in den ländlichen Raum. Sie waren maßgeblich beteiligt an der Idee. Wie kam es dazu?
Wir als Volkshochschulverband haben uns mit der SLpB zusammengesetzt, weil das Thema Migration im Jahr 2017 ein großes, dramatisches Thema war. Rechtspopulismus erstarkte, genauso wie Rechtsradikalismus und -extremismus. Ein weiterer Punkt war die demographische Entwicklung des ländlichen Raums. Wir wollten unsere Ressourcen bündeln: Seit über 100 Jahren gibt es Volkshochschulen in Sachsen und sie sind immer vor Ort gewesen, kommunal ausgerichtet. Global denken und lokal handeln ist ihre Maxime. Die Stärke der Volkshochschulen ist, dass sie die Menschen vor Ort kennen und damit auch ihre Bedarfe und Bedürfnisse; dass sie an ihnen ganz nah dran sind. Im ländlichen Raum ist die Volkshochschule derzeit in Sachsen mit 46 Standorten flächendeckend vertreten und kommt damit praktisch in jeden kleinen Winkel Zipfel. Die Landeszentrale wiederum hat das inhaltliche Knowhow. Sie hat die Fachleute für politische Bildung. Auch bundesweit hat diese Kooperation für Aufsehen gesorgt, weil es in anderen Bundesländern nichts Vergleichbares gibt. Wir haben hier ein ganz idealtypisches Modell für die Weiterentwicklung der politischen Bildung auf den Weg gebracht.
Welches Entwicklungspotenzial sehen Sie inzwischen bei "Kontrovers vor Ort"?
Es gibt Regionen, in denen ist die Resonanz stark und es gibt Regionen, in denen wir noch intensiver schauen müssen, wie wir dort auf die Menschen zugehen können. Es gibt dort unterschiedliche Potenziale und unterschiedliche Traditionen. Wir müssen uns stärker regional orientieren. Themen, die in der Lausitz gut laufen, müssen nicht unbedingt im Erzgebirge interessieren. Zum Beispiel haben wir in der Lausitz das große Thema des Kohleausstieg und des damit einhergehenden Umbruchs. Das ist aber kein Thema für das Erzgebirge. Im Sinne der Weiterentwicklung müssen wir noch stärker regionale Potenziale und Grenzen feststellen und darauf reagieren. Der ländliche Raum ist eben keine homogene Fläche, sondern sehr differenziert.
Was bedeutet das für die weitere Zusammenarbeit?
Wir müssen noch konkreter und differenzierter zusammenarbeiten. Hier muss noch eine engere Verzahnung stattfinden, eine stärkere Kooperation, eine intensivere Partnerschaft. Wir müssen uns insgesamt stärker vernetzen. Im Bereich der politischen Bildung sind Synergieeffekte zwischen den demokratischen Einrichtungen und Institutionen wichtiger denn je.
Zugleich konkurrieren gerade die freien Träger um Fördermittel…
Ja, es gibt Konkurrenzsituationen und ich halte es für die Aufgabe der Politik, einerseits die Kooperationskultur zu stärken und andererseits aber auch die spezifischen Ausrichtungen der Einrichtungen zu stärken. Die Stärke der pluralen Erwachsenenbildung in Sachsen liegt in ihren differenzierten Expertisen und Ressourcen und nicht darin, dass alle dasselbe machen. Wir brauchen politische Leitplanken, um mögliche Konkurrenzsituation vor Ort zu minimieren. Bildung ist keine Ware, die nach dem Marktprinzip von Angebot und Nachfrage funktioniert.
Wie würden Sie die Kooperationskultur stärken?
Kooperationsprojekte sollten von vornherein so angelegt sein, dass mindestens zwei oder drei Institutionen gemeinsam daran arbeiten. Eine Institution allein kann ein Projekt nicht beantragen, sondern es müssen noch weitere Partner auf Augenhöhe mit dabei sein. Flache Hierarchien sind dabei ganz wichtig. Und da haben wir alle einen Nachholbedarf. In den vergangenen 30 Jahren haben wir diese Kooperationskultur nur bedingt gepflegt. In vielen Fällen galt: "Jeder für sich und Gott gegen alle". Da muss uns die Politik helfen und entsprechend Ressourcen zur Verfügung stellen.
Das bedeutet aber auch ein Lernprozess seitens der Politik. Wie kann man das Umdenken auf dieser Ebene anschieben?
Die Politik muss das lebenslange Lernen als bildungspolitische Leitidee. "Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr" – das war die staatliche Bildungspolitik im 19. Jahrhundert. Deswegen darf sie nicht nur übers lebenslange Lernen sprechen, sondern muss das selbst vorleben und nicht nur an den alten Zöpfen festhalten. Die aktuelle Diskussion über die Novellierung des Sächsischen Weiterbildungsgesetzes ist ein wichtiger Schritt dorthin.
Vernetzung, lebenslanges Lernen, flächendeckende Angebote – das sind tolle Ideen. Woran messen wir deren Erfolg?
Ein klassisches Bewertungs- und Leistungsmerkmal in der Erwachsenenbildung sind die Teilnehmendenzahlen. Diese sind wichtig und auch richtig, aber Bildung ist immer auch ein langfristiger Prozess. Wir brauchen in der Bildungsarbeit Geduld. Im Jahr 2017/18 haben wir angefangen mit "Kontrovers vor Ort". Wir müssen zwei, drei Jahre, mindestens oder vier Jahre durchhalten, um zu sehen, wo die Stärken und Schwächen liegen. Deshalb müssen wir auch der Politik vermitteln, dass sie ein Projekt nicht nur zwei Jahren fördern kann. Wir brauchen langfristige Perspektiven für die politische Bildungsarbeit, am besten einen Masterplan für die nächsten zehn Jahre. Und in dieser Zeit evaluieren wir alle zwei, Jahre die Zwischenschritte. Dafür brauchen wir ein Budget und Fakten. Wenn in jedem Doppelhaushalt neu darüber diskutiert wird, nützt uns das in der Pädagogik und Bildungsarbeit nur bedingt. Ein lernendes Dorf wie Nebelschütz braucht eben auch Zeit.
Unser Gesprächspartner Prof. Dr. Ulrich Klemm war von 2013 bis März 2021 Geschäftsführer des sächsischen Landesverbandes der Volkshochschulen. Davor hat er zwei Jahre lang die Professur für Erwachsenenbildung an der Universität Leipzig vertreten, war fünf Jahre lang in der Personal- und Organisationsentwicklung im Facheinzelhandel tätig und 20 Jahre lang Fachbereichsleiter für ländliche Erwachsenenbildung an der Ulmer Volkshochschule. Seit 2006 ist es Honorarprofessor für Erwachsenenbildung an der Universität Augsburg und seit April 2021 hat er die Vertretung der Professur Erwachsenenbildung und Weiterbildung an der Technischen Universität Chemnitz inne.
Veranstaltungen und Termine des Projektes "Kontrovers vor Ort" finden Sie auf unserer Sonderseite.