Ein perfekt inszeniertes Normalbild
Der russische Krieg gegen die Ukraine ist auch ein Propagandakrieg. Wache Bürger wünschen sich deshalb besonders glaubwürdige Informationen aus erster Hand. Das zeigte eine gemeinsame Veranstaltung der TU Bergakademie Freiberg und der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung in Kooperation mit der Akademischen Buchhandlung Freiberg, dem DGB Südwestsachsen, dem Studium Generale und Freiberg für alle am 19. März 2025. Gast der Reihe „Was bedeutet uns Demokratie“ im Audimax der Bergakademie Freiberg war der langjährige Russland-Korrespondent der Wochenzeitung „Die Zeit“ und Buchautor Michael Thumann. Er las aus seinem neuesten Reisereportagenband „Eisiges Schweigen flussabwärts“, der am kommenden Tag erscheinen sollte, und stellte sich anschließend dem Gespräch.
Dieses Buch reflektiere „über die neue Teilung Europas und den neuen Eisernen Vorhang“, stellte der Autor eingangs die Sammlung seiner jüngsten Eindrücke vor. Tatsächlich sind die institutionalisierten und NGO-Kontakte zwischen Deutschen und Russen fast völlig zum Erliegen gekommen. Prof. Klaus-Dieter Barbknecht, Rektor der Bergakademie Freiberg, berichtete in seiner Begrüßung zwar von „tollen Leuten“ aus Russland, zu denen er Verbindung halte. Die Universität aber habe aktuell alle institutionellen Kontakte abgebrochen und nicht vor, sie wieder aufzunehmen.
Exemplarisch für diese eisige Stimmung las Michael Thumann Szenen seiner Einreise nach Litauen über russisches Territorium. Er hatte dazu einen Flug nach Kaliningrad, dem früheren preußischen Königsberg gewählt und wollte auf dem relativ kurzen Landweg über Sowjetsk, ehemals Tilsit, nach Litauen gelangen.
Die Scherze Thumanns über Tilsiter Käse klangen makaber angesichts der stundenlangen Schikanen, die ihn bei der Grenzkontrolle erwarteten. Telefonate, mehrere Befragungen, Zeiten völliger Ungewissheit, ein Drogenhund. Verdächtig als Deutscher, als Journalist, als einer, der womöglich aus der Ukraine berichtet hat. Ein Staatsverbrechen. Nachdem der Korrespondent „feierlich“ seinen Pass zurückerhalten hatte, wartete auf der Memelbrücke mit der Kontrolle durch den FSB-Geheimdienst die nächste Hürde. Jeschtscho ras, würde man auf Russisch sagen. Dann erst war der Weg frei nach Litauen. Lächerlich im Vergleich zu dem, was Ukrainer jede Nacht erleben, wiegelte Michael Thumann dennoch ab. Er genieße immer noch einen privilegierten Status.
Moskau zwischen Angst und scheinbarem Alltag
Im anschließenden Gespräch stellten zunächst Moderatorin Dr. Bettina Bruns vom Leibniz-Institut für Länderkunde in Leipzig und später die etwa 130 Zuhörer im Hörsaal Fragen an den Korrespondenten und Autor. Sie drehten sich zunächst um Thumanns Arbeitsbedingungen in Moskau. Der antwortete mit einer in dreißig Jahren gewachsenen souveränen Gelassenheit, ja sogar mit Humor, der nur selten in Sarkasmus kippte. Westlich-freiheitliche Maßstäbe legt ohnehin niemand an das zu zaristischen und stalinistischen Traditionen zurückgekehrte Russland an, und so klangen viele Schilderungen nach makaberer Normalität.

Die bedeutet aber eben auch einen permanenten „Hab-Acht-Aggregatzustand“. Also „einen vorsichtigen Alltag mit offenen Ohren“, zumal das nicht so gastliche Gastland auch alle Ohren offenhält. Sein Moskauer Büro hat Thumann seit Gorbatschows Zeiten gemietet. Aber im Keller entdeckte der Journalist zufällig Tonbandaufzeichnungen. Das Büro sei gewiss verwanzt, vermutet er, aber auf den Straßen Moskaus habe er nicht den Eindruck überwacht zu werden, von der Handyortung und den überall angebrachten Kameras abgesehen. „Man kann mit den Menschen sprechen!“
Was Michael Thumann von ihnen in Moskau erfährt, unterscheidet sich von der „Provinz“. Ein „perfekt inszeniertes Normalbild“ in der Hauptstadt, vom Krieg scheinbar unbeeindruckt. Die männliche Minderheit auf den Straßen falle zwar auf, aber draußen in dem Riesenlande seien noch weniger junge Männer zu entdecken. Das Kreml-Regime kauft sich über die Wehrpflicht hinaus seine Söldner zusammen. Zwischen 30.000 und 60.000 Euro umgerechnet werden ihnen geboten, „mehr, als die meisten ihr ganzes Leben über verdienen können“.
Der Anschein von Normalität aber trügt. Gespräche drehen sich doch um den Krieg. Die Euphorie 2014 nach der Krim-Annexion sei verflogen, vergleicht der Korrespondent. Sie lasse sich auch mit Propaganda nicht mehr inszenieren. Die „gedrückte Stimmung“ nach drei Kriegsjahren fasst Thumann in dem Satz zusammen: „Hoffentlich ist es bald vorbei – die Ukraine soll aufgeben!“
Denn etwa vier Fünftel der Russen unterstützten nach wie vor die „militärische Spezialoperation“, aber mindestens die Hälfte von ihnen hält der Korrespondent für Opportunisten. Von anfänglichen Protesten sind nur noch Graffiti-Sprayer oder Menschen geblieben, die Blumen an zwei Denkmälern für ukrainische Dichter ablegen. Die Miliz filmt sie oder verhaftet sie gleich. Der Autor zählt einige Kriegsgegner zu seinen Freunden, erlebt aber auch deren Angst. Die Denunziation nehme zu, auch an den Universitäten. Russland befinde sich im Modus einer „zunehmend totalitären Gesellschaft“.

Nachbarn Russlands sind und bleiben alarmiert
Im Gespräch folgte der Autor seiner Reiseroute über die ehemaligen Sowjetrepubliken und Ostblockstaaten bis nach Deutschland. Bei allen habe die lange nicht für möglich gehaltene russische Invasion „größte Befürchtungen“ ausgelöst. Nur in Usbekistan fühle sich die Lage vergleichsweise entspannt an. Am größten sei die Angst vor nachfolgenden russischen Übergriffen naturgemäß im Baltikum. Aber auch im westlichen Kasachstan herrsche eine vergleichbar ablehnende Stimmung. Nicht vergessen hat man dort, dass Putin ihnen bei der Eroberung der Krim 2014 ebenso das Recht auf eigene Staatlichkeit abgesprochen hat. Ausdruck des neuen alten Nationalbewusstseins ist der Wechsel von kyrillischen zu lateinischen Buchstaben in der Schriftsprache. Andererseits ist Kasachstan eine wichtige Schaltstelle zur Umgehung der westlichen Sanktionen gegen Russland.
In Polen hat Michael Thumann „von Gelassenheit bis Hyperventilieren“ alle Verhaltensmuster vorgefunden. Die Beunruhigung sei dort aber generell höher als in Deutschland und hat zu einem Anteil von vier Prozent der Verteidigungsausgaben am Staatshaushalt geführt. Man weiß nach einem Blick auf die Karte und in die polnische Geschichte, dass man Pufferstaat war und ist.
Kremlpropaganda und hybrider Krieg gegen Deutschland
Putin nimmt zwar Deutschland und Europa als Gesprächspartner nicht mehr ernst. Aber die Beobachtungen des Korrespondenten lehren doch, dass nicht nur der Dresden-erfahrene Diktator Deutschland in besonderer Weise im Blick hat. Strategische Überlegungen wie im 19. Jahrhundert wirken weiter. Ganze Abteilungen in russischen Geheimdiensten widmeten sich speziell Deutschland. Hybride Kriegsführung, Wahlbeeinflussung, gefakte Kampagnen im Internet auf imitierten oder erfundenen Nachrichtenportalen, gezielte Falschmeldungen wie das angebliche Abkommen mit Kenia über 20.000 Leiharbeiter belegen die Attacken gegen Deutschland. Thumann zitierte einen Duma-Abgeordneten: „Wir kommen und bringen euch alle um!“
Und es gibt hierzulande Politiker, die eifrig mitziehen. Der Journalist erwähnte ausdrücklich Sahra Wagenknecht, die die Legende verbreitet, in Istanbul sei im Frühjahr 2022 ein Friedensschluss nur durch den Westen und namentlich durch den britischen Premier Boris Johnson verhindert worden. Hier erregte sich der sonst sehr disziplinierte Michael Thumann leidenschaftlich, zumal er damals selbst aus Istanbul berichtete. Er ordnet diese Kollaboration in andere Putin-Narrative ein wie etwa der kriegsvorbereitende pseudohistorische Aufsatz von 2021, der der Ukraine eine nationale Identität abspricht, oder die Erfindung, dem Überfall 2022 seien acht Jahre Beschuss des prorussischen Donbass durch die Ukraine vorangegangen. Lediglich 120 Tote seien belegt, überwiegend Unglücksfälle durch Minen oder Klettern auf Kriegsgerät.
Michael Thuman wirbt „für die Zeit danach“. Wir sollten in Deutschland noch mögliche private Verbindungen aufrechterhalten.
Eine Publikumsfrage zu Medien beantwortete Thumann mit dem Hinweis, dass sich der Militäretat verdoppelt, der für die Staatsmedien aber vervierfacht habe. 80 Prozent der Russen informieren sich fast ausschließlich über das staatliche Fernsehen. Halb belustigt erfuhren die aufmerksamen Gäste, dass nicht nur Volkswagen international in der Defensive ist, sondern eine eigene russische Autoproduktion praktisch zum Erliegen gekommen ist. „Niemand weiß, wie das gigantische, nach Wolfsburg größte VW-Werk in Kaluga jetzt genutzt wird!“ Den Markt haben jedenfalls komplett die Chinesen übernommen. Apropos China: Trump solle den Versuch aufgeben, China und Russland gegeneinander auszuspielen, empfahl der Journalist. Zu eng seien die Verbindungen, und technologisch sei Russland schon weitgehend von China abhängig.
Nicht auch noch die letzten Brücken abbrechen!
Auch ein seriöser Kenner wie Michael Thumann muss bei der Frage nach Friedenschancen zum sprichwörtlichen Kreml-Astrologen mutieren. Putin habe einerseits gemerkt, wie führbar solch ein Krieg ist und wolle dessen Ende möglichst lange hinauszögern. Vielleicht „ein Semikolon jetzt, aber kein Punkt“, kommentiert der Korrespondent den gegenwärtigen Verhandlungspoker. Es sei auch für ihn schwer, hinter die Fassade der demonstrativen Stabilität zu schauen. Wie labil die aber sein kann, habe das Armdrücken Putins mit Prigoschin und seinen Wagner-Söldnern gezeigt. Und ein Tauwetter wie nach Stalin sei nicht auszuschließen „und könnte vieles ins Rutschen bringen“. Einen Funken Hoffnung schlägt er aus der Geschichte der Machtübergaben im Kreml, die alle relativ zivilisiert verlaufen seien. Deshalb sollten wir in Deutschland noch mögliche private Verbindungen „für die Zeit danach“ aufrechterhalten. Es schmerze ihn persönlich, bekannte Thumann, dass Russland so isoliert sei, dass Slawistik-Lehrstühle an Hochschulen abgebaut würden und dass Schüler kaum noch Russisch lernten.