Wenn Roman Knižka liest, wird das Publikum in der Görlitzer Synagoge so leise, dass nicht einmal das Rascheln einer Jacke oder ein Räuspern zu hören ist. Knapp 100 Besucherinnen und Besucher konzentrieren sich auf die Zeilen, die der Schauspieler vorträgt. In den Textpassagen verdichten sich Momente der jüdisch-deutschen Geschichte: Persönliche Erinnerungen, Briefe, Gedichte spiegeln glückliche wie schmerzhafte Erfahrungen. Daneben stehen antisemitische Pamphlete, die Hass und Vorurteile fortschreiben.
„Ich hatte einst ein schönes Vaterland – so sang schon der Flüchtling Heine. Das seine stand am Rheine, das meine auf märkischem Sand“. Mit diesen Zeilen beginnt das Gedicht „Emigranten-Monolog“, das die Berliner Dichterin Mascha Kaléko 1945 im Exil schrieb.
O Röslein auf der Heide, dich brach die Kraftdurchfreude
Geboren in der westgalizischen (heute polnischen) Stadt Chrzanów, aufgewachsen im Scheunenviertel in Berlin, hatte sie nach ihrem Schulabschluss in den 1920er Jahren als Stenotypistin gearbeitet. Außerdem besuchte sie Abendkurse an der Berliner Universität – und schrieb Texte. Ihr erster Gedichtband „Das lyrische Stenogrammheft“ wurde 1933 von Ernst Rowohlt verlegt. 1938 setzten die Nationalsozialisten den Namen der jüdischen Lyrikerin auf die „Liste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums“. Mascha Kaléko emigrierte mit ihrem Mann und ihrem Sohn nach New York.
„O Röslein auf der Heide, dich brach die Kraftdurchfreude. Die Nachtigallen wurden stumm, sahn sich nach sicherm Wohnsitz um, und nur die Geier schreien hoch über Gräberreihen. Das wird nie wieder, wie es war, wenn es auch anders wird. Auch, wenn das liebe Glöcklein tönt, auch wenn kein Schwert mehr klirrt. Mir ist zuweilen so, als ob das Herz in mir zerbrach. Ich habe manchmal Heimweh. Ich weiß nur nicht, wonach.“ So endet der Emigranten-Monolog.
Die einzig wahre Religion gibt es nicht
Wenn Roman Knižka das Gedicht Mascha Kalékos vorträgt, klingt es kraftvoll und melancholisch zugleich. Der Schauspieler verleiht jedem Text, jeder Autorin und jedem Autor einen eigenen Ton. So klingt er nüchtern-unbarmherzig, wenn er die Notiz des preußischen Grenzbeamten liest, der im Jahre 1743 notierte „Heute passierten das Tor sechs Ochsen, sieben Schweine und ein Jude.“ Es war Moses Mendelssohn, der an diesem Tag – nach einem langen Fußmarsch von seiner Heimatstadt Dessau – das Stadttor nach Berlin passierte. Für jüdische Menschen gab es zu dieser Zeit nur eine Möglichkeit, in die Stadt Berlin hinein zu gelangen: Sie mussten durch das Tor gehen, durch das auch das Vieh getrieben wurde.
Moses Mendelssohn (1729-1786) wurde später zum Wegbereiter der jüdischen Aufklärung, der Haskalah, in Europa. Er war bereits zu Lebzeiten ein hoch angesehener Philosoph – sein Freund Gotthold Ephraim Lessing setzte ihm in dem Versdrama „Nathan der Weise“ ein literarisches Denkmal. Mendelssohn war Vorbild für die Figur des Nathan.
Roman Knižka liest Passagen aus der Ringparabel vor, die als Kernstück von Lessings Versdrama gilt. In der Ringparabel geht es um die Frage, welche der drei monotheistischen Religionen denn nun die wahre Religion sei: Das Judentum, das Christentum oder der Islam. Die in der Ringparabel enthaltene Antwort lautet: Keine von ihnen und alle drei zugleich.
100.000 jüdische Soldaten für Deutschland an der Front
Lessings Kerngedanke von der Gleichberechtigung der Religionen und auch der Anerkennung von Menschen in ihrer Verschiedenheit setzte sich in den folgenden Jahrhunderten nicht fort. Beispielhaft für den deutschen Antisemitismus des 19. Jahrhunderts steht Heinrich von Treitschkes Aufsatz „Unsere Ansichten“, die in dem Satz mündet: „Die Juden sind unser Unglück“. Nachdem Roman Knižka die Formulierungen von Treitschkes fast herausbrüllt, wechselt er im nächsten Text in einen ganz ruhigen, zurückgenommenen Tonfall: Er liest den sehr berührenden Abschiedsbrief des 21-jährigen Emil Lewinsohn an seine Eltern. Der junge jüdische Mann, der als Soldat im Ersten Weltkrieg kämpfte, hatte bereits die Vorahnung, dass er fallen würde. Er gehörte zu den knapp 100.000 jüdischen Männern, die sich entschieden hatten, für ihr deutsches Vaterland an die Front zu ziehen. 30.000 von ihnen wurden für besondere Tapferkeit ausgezeichnet.
Das verhinderte nicht, dass während des nationalsozialistischen Regimes in den 1930er und 40er Jahren sechs Millionen europäischer Juden ermordet wurden. Dem millionenfachen Mord ging die systematische Ausgrenzung und Entrechtung der jüdischen Deutschen ab 1933 voraus, an der sich auch zahlreiche deutsche Zivilisten und Zivilistinnen beteiligten. Bei kollektiven gewalttätigen Ausschreitungen wie der Reichpogromnacht am 9. November 1938, Diskriminierung jüdischer Kinder an Schulen oder der Denunzierung jüdischer Nachbarn, die daraufhin in Konzentrationslager deportiert wurden. Mit dem Auszug aus einem Text Anita Lasker-Wallfischs, die als Cellistin im Mädchenorchester von Auschwitz den NS-Terror überlebte, führt Roman Knižka den Zivilisationsbruch des Holocausts eindrücklich vor Augen.
Daran arbeiten, tolerant und respektvoll miteinander umzugehen.
Unter den für das Programm ausgewählten Texten ist auch die antisemitische Schrift des Komponisten Richard Wagner, „Das Judentum in der Musik“, die 1850 zunächst unter dem Pseudonym „K. Freigedank“ und 1869 dann unter dem Namen ihres Verfassers veröffentlicht worden war. Die Textpassagen aus der Feder Richard Wagners trägt Roman Knižka in sächsischem Akzent vor – und zieht damit eine Parallele zwischen damals und heute. Dass die AfD und Pegida gerade in seiner sächsischen Heimat so stark vertreten sind, treibt den Schauspieler um. Er engagiert sich gegen Rechtsextremismus und sagte im Interview: „Wir müssen weiter daran arbeiten, tolerant und respektvoll miteinander umzugehen.“
Roman Knižka schließt seine Lesung mit Auszügen aus der zeitgenössischen Streitschrift „Desintegriert Euch“ des Autors und Aktivisten Max Czollek ab. „Desintegration ist“, schreibt Czollek, „eine Erwiderung auf die beständig vorgetragene politische und gesellschaftliche Forderung nach Integration. Der Begriff zielt aber nicht nur auf eine Unterstützung derjenigen, die als Türk*innen, Asylant*innen, Nafris, Muslim*innen, Wirtschaftsflüchtlinge oder Migrant*innen adressiert werden. Wenn ich vom Integrationsdenken oder Integrationsparadigma schreibe, dann meine ich die Konstruktion eines kulturellen oder politischen Zentrums, das sich implizit oder ausdrücklich als deutsch versteht. Mit dem Konzept der Desintegration schlage ich ein Gesellschaftsmodell vor, dass solche neovölkischen Vorstellungen unmöglich macht.“
Ende Oktober traten Roman Knižka und das Ensemble Opus 45 in der Synagoge Görlitz, im LUXOR in Chemnitz und im Theater Crimmitschau auf. Diese drei Veranstaltungsabende waren eine Kooperation der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung mit dem Ensemble Opus 45. Anlässlich des Festjahres „1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland“ tourt das Ensemble mit diesem Programm durch die gesamte Bundesrepublik.
Roman Knižka wurde 1970 in Bautzen geboren, erlernte an der Dresdner Semperoper zunächst den Beruf des Theatertischlers und verließ die DDR noch vor dem Mauerfall über die Grüne Grenze. Nach seinem Studium an der Bochumer Schauspielschule spielte er zunächst am dortigen Schauspielhaus und begann dann, sich einen Namen in TV-Dramen, Liebesfilmen, „Tatorten“ und diversen Kinoproduktionen zu machen. Daneben ist er mit großem Erfolg auf der Bühne aktiv und spricht regelmäßig Hörbücher ein, zuletzt „Frieden auf Erden“ von Stanisław Lem.