„So viele Argumente für Europa hatten wir doch noch nie“
Europa ist besser als sein Ruf. Darüber sind sich die meisten einig, die in Chemnitz zum Gespräch zusammengekommen sind. Die Kommunikation sei nicht gut über das, was in der EU passiert und, welche Vorteile der Staatenbund für die Menschen hat, sagt ein Mann. „Für viele ist die Arbeit nicht greifbar“, sagt ein anderer. „Und wenn es nicht greifbar ist, ist es schnell angreifbar von Populisten.“ In der aktuellen Lage geopolitischer Unruhen und Bedrohungen gewinnt das Thema Europa wieder stärker an Bedeutung. Auch darüber will man in Chemnitz diskutieren.
Zur Debatte am 25. März hat die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung geladen, die seit einem Jahr in Chemnitz ein Projektbüro betreibt. Die Räume befinden sich in einer Häuserzeile direkt hinter dem Karl-Marx-Kopf im Stadtzentrum, man kann sich hier Bücher und Informationen abholen, aber eben auch diskutieren. Die Veranstaltung ist eine Kooperation mit Europa-Initiativen in Sachsen wie den Jungen Europäischen Föderalist:innen, der Europa-Union und der Europäischen Bewegung. Diese und weitere Debatten und Workshops sind auch als Beiträge zum Kulturhauptstadtjahr in Chemnitz gedacht.

Die Runde ist ein lockerer Austausch, zwei Stunden Debatte am Nachmittag. Mit einem Gast: dem langjährigen Europa-Politiker Elmar Brok. Knapp 20 Interessierte sind gekommen, Politiker und Politikerinnen verschiedener Parteien, Unternehmer und Engagierte aus der Stadt und der Region. Zunächst soll gesammelt werden: Was sind Stärken und Schwächen, Chancen und Risiken der EU? Als positiv wird genannt: Freies Reisen ist möglich, es gibt nahezu offene Grenzen. „Wir haben ein gemeinsames europäisches Parlament mit regionalen Vertretern“, sagt jemand. „Auch in Chemnitz sieht man Projekte, die von der EU gefördert werden.“ Bei den negativen Aspekten wird aufgeführt: Die EU werde als „überreguliert“ wahrgenommen. Und als „schlecht vermarktet“. Obwohl es EU-Abgeordnete aus den Regionen gibt, sei in der Bevölkerung das Gefühl verbreitet, man wisse zu wenig über die EU, wird in der Runde angemerkt.
Ein leidenschaftlicher Europäer
Elmar Brok tritt als leidenschaftlicher Europäer auf. Der CDU-Politiker war fast 40 Jahre Mitglied des Europäischen Parlaments und unter anderem Vorsitzender des Ausschusses für Auswärtige Angelegenheiten. Mit 78 Jahren lässt ihn das Thema noch immer nicht los. 2024 hat Brok das Buch „Verspielt Europa nicht!“ veröffentlicht, aus dem er am Abend in der Chemnitzer Universitätsbibliothek lesen wird. Vorher, bei der Debatte im Büro der Landeszentrale, ist Brok schnell bei den akuten Bedrohungen auf der Welt – und der Rolle der EU. Er habe den Eindruck, „dass der Nutzen und die Notwendigkeit Europas“ in vielen deutschen Debatten zu wenig stattfinde. „Die EU wird als selbstverständlich hingenommen und, wenn dann wird sie als Bürokratiemonster dargestellt, mal vereinfacht dargestellt“, das störe ihn. Dabei sei die EU wichtiger denn je, angesichts der Bedrohung durch autoritäre Bestrebungen wie von Donald Trump in den USA, Wladimir Putin in Russland und Xi Jinping in China. Diese Mächte wollen „die EU zerschlagen“, sagt Brok. „Wir haben nur Gewicht, wenn wir die Summe Europas nehmen und nicht die einzelnen Teile.“

Es geht auch um die mögliche Abwehr von Gefahren, um die Verteidigung von Europa und die Kapazitäten dafür. Eine Schwäche sei, dass es zu wenig starke Europa-Politiker gebe, sagt ein Mann. „Ich habe aktuell vor der Weltlage Angst. Es kommt bei den Menschen nicht an, wofür Europa steht. Wir denken an die Gurke, an Überregulierung, aber nicht an Verteidigung.“ Das bemängelt auch Brok und sieht Aufgaben für den Staatenbund. Bei diversen Themen würden viele Länder noch zu sehr an ihre eigenen Interessen denken. Stichwort Verteidigung: „Wir haben 160 Waffensysteme in der EU, die Amerikaner haben 30“, sagt er. Das laufe zu ineffizient, stattdessen sollte man solche Dinge in der EU einheitlicher regeln, auch um Geld zu sparen. Ein anderer Punkt: Steuersysteme. „Man muss nicht alles harmonisieren in der EU“, findet Brok, aber es brauche Regeln, um Steuerschlupflöcher in EU-Ländern wie Irland abzuschaffen. Oasen, die auch Tech-Oligarchen aus den USA und anderen Ländern für ihre Unternehmen nutzen.
Argumente für den nächsten Stammtisch
Zum Schluss wird um Diskussionshilfen in Sachen Europa gebeten. Er würde gern einige Argumente bekommen, die er beim nächsten Stammtisch anbringen könne, um Europa zu verteidigen, sagt ein Unternehmer aus dem Erzgebirge. In seiner Region seien viele Menschen anti-europäisch eingestellt, er brauche Hilfe beim Debattieren. Er fordert: einige knapp formulierte „Argumente, die jeder versteht, damit Europa nicht kaputtgemacht wird“.

Elmar Brok zählt auf: Da sei der Wert des europäischen Binnenmarkts. Europa sei nicht besonders reich an Rohstoffen, aber immer noch eine starke Handelsmacht. „Wenn man aus dem europäischen Binnenmarkt herausgeht, wäre das das Ende“, sagt er. Es gebe viele Projekte, die von der EU finanziell gefördert werden, auch in Chemnitz und im Erzgebirge. Man sollte daran denken, was passiert, wenn ein Land die EU verlässt wie Großbritannien vor einigen Jahren. Die Lage habe sich dort nicht verbessert, sagt Brok, laut aktuellen Umfragen im Land stehe die Mehrheit nicht mehr hinter dem Brexit.
Und er betont noch ein Argument: Europa als Friedensprojekt. „Meine Generation ist die glücklichste seit Hermann dem Cherusker“, sagt Elmar Brok. Die Menschen in Ostdeutschland seien „ein bisschen später drangekommen“, erst nach dem Mauerfall, aber im Großen und Ganzen sollte man die aktuelle Lage mehr wertschätzen. „Wir haben eine Situation, die wenig vergleichbar ist mit anderen Epochen, wenn man an Wohlstand und Frieden denkt.“ Man müsse kämpfen für Demokratie. „Wir sind in einer völlig neuen Zeitrechnung seit Trumps Antritt im Januar.“ Die aktuellen Bedrohungen müssten auch als Wendepunkt für Europa begriffen werden. „So viele Argumente für Europa hatten wir doch noch nie“, sagt Brok.