Tschechien - eine religionslose Republik? Teil 1
Diesen Fragen gingen wir vor Ort nach, einundzwanzig Teilnehmerinnen und Teilnehmer dieser besonderen Studien- und Bildungsreise, in der Mehrzahl aus Sachsen und damit ausgerüstet mit Erfahrungen aus einer ebenfalls deutlich säkularisierten Gesellschaft – freilich mit anderem geschichtlichen, kulturellen und auch konfessionellen Hintergrund. Die Bildungsreise war eine Kooperationsveranstaltung: Die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung und das Pastoralkolleg der Ev.-Luth. Landeskirche Sachsens haben sie miteinander geplant und vorbereitet. Diese Kooperation prägte auch den Teilnehmendenkreis, in dem sich ein ausgeprägtes Interesse an religiösen Fragen und an der gesellschaftlichen Rolle von Religion zeigte.
Im Verbindungsbüro des Freistaates Sachsen auf der Prager Kleinseite in der Nähe der Karlsbrücke, unserem Tagungsort, wurden wir von dessen Leiterin, Frau Josefina Ofner, herzlich empfangen. Wir profitierten von guten Deutschkenntnissen mehrerer Referenten und Gesprächspartner – und ebenso von der hervorragenden Unterstützung durch unserer Dolmetscherinnen Frau Barbora Molnár und Frau Petra Sochová. František Strnadel, Projektassistent bei der Landeszentrale für politische Bildung, sorgte auf vielfältige Weise für einen reibungslosen Ablauf.
Vorträge, Podiumsgespräche, Begegnungen und Exkursionen gaben der Studienreise ihr Gesicht. Gemeinsame Mahlzeiten, Pausengespräche, Austausch auf dem Weg und die Möglichkeit, den Tag mit einer Andacht zu beginnen, prägten die Gemeinschaft. Ein Besuch in der einzigartigen Bibliothek des Strahov-Klosters mit anschließendem Spaziergang mit Stadtführung zwischen Prager Burg und Josefstadt wurde zu einem besonderen Höhepunkt und endete mit einer informativen, zugleich kulinarisch reichhaltigen Schifffahrt auf der Moldau. Den Anfang machten mehrere Vorträge, die zum Gespräch einluden.
Zwischen böhmischer Frömmigkeit und Religionsscheue
Miroslav Kunštát, als Historiker ausgewiesen auch für Kirchen- und Religionsgeschichte sowie für politikwissenschaftliche Fragen, widmete sich eingangs dem Thema „Religion und Kirche in der Tschechoslowakei im 20. Jh.“ und wies auf die dafür bedeutenden historischen und kulturgeschichtlichen Zusammenhänge hin. Historisch war nach der hussitischen Reformation die schließliche Rekatholisierung im 17. Jh. entscheidend. Diese schuf eine emotionale und eher oberflächliche „böhmische Frömmigkeit“ („Pietas bohemica“) bei gleichzeitiger innerer Abwehr gegenüber allem Habsburgisch-katholischem. Das liberale Bürgertum des 19. Jh. zeigte sich folgerichtig gerade besonders in Böhmen religiös ausgesprochen gleichgültig, während sich angesichts der Rom- und Wientreue des höheren Klerus die Entfremdung des katholischen Volkes vom religiösen Leben auch im 20. Jh. vertiefte. Die Unterdrückung katholischer Reformen führte 1920 schließlich sogar zur Bildung einer neuen, der „Tschechoslowakische Hussitische Kirche“ (bis 1971 nur „Tschechoslowakische Kirche“).
Kulturell attestierte Kunštát der Bevölkerung eine gewisse „Religionsscheu“ mit grundsätzlich mehr Interesse „am eigenen Schrebergarten als an systematischer Weltdeutung“. Trotzdem konnte Tomáš Garrigue Masaryk, der erste Präsident der neugegründeten Tschechoslowakei erklären: „Jesus, nicht Cäsar ist der Sinn unserer Demokratie“.
Kulturell attestierte Kunštát der Bevölkerung eine gewisse „Religionsscheu“ mit grundsätzlich mehr Interesse „am eigenen Schrebergarten als an systematischer Weltdeutung“. Trotzdem konnte Tomáš Garrigue Masaryk, der erste Präsident der neugegründeten Tschechoslowakei erklären: „Jesus, nicht Cäsar ist der Sinn unserer Demokratie“.
Das 20. Jahrhundert sah nach 1918 zunächst einen gewissen „antikirchlichen Kampfgeist“ der Politik, der bald zugunsten von Normalisierungsbemühungen zurücktrat. Ab 1948 war das Verhältnis von (kommunistischem) Staat und Kirche(n) durch einen zunehmend aggressiven antireligiösen und antikirchlichen, zunächst vor allem antikatholischen Kurs der Regierung geprägt mit staatlichen Kontrollen z.B. der Ausbildung und starken Eingriffen in das kirchliche Leben, was zur Entwicklung gewisser Formen von „Untergrundkirchen“, zugleich aber auch zu einer weiteren Entfremdung der Bevölkerung von Kirche und Glauben führte, was sich z.B. an einem stetigen und schließlich rapiden Rückgang der Beteiligung am Religionsunterricht in den Schulen (!) bis hinein in die Gegenwart zeigt.
Nach 1990 war die Rolle der nunmehr von staatlichen Eingriffen freien Kirchen unklar und der lange Prozess der Entkirchlichung zeigte Wirkung. Die innere und äußere Abwendung von Religion und christlichem Glauben setzte sich fort, wie die regelmäßig durchgeführten Volkszählungen zeigen: Bei einer Gesamtbevölkerung von 10,5 Millionen Menschen bekennen sich inzwischen noch 13,1 Prozent zu einer Kirche oder Religionsgemeinschaft, 9,1 Prozent deklarierten sich als gläubig, ohne sich einer Glaubensgemeinschaft zuzurechnen. Zur Katholischen Kirche bekannten sich im Jahr 2021 741.000 Menschen, weit weniger als 10%.
Es verwundert nicht, dass in dieser Situation die Frage der Entschädigung (Restitution) für den nach 1948 konfiszierten kirchlichen Besitz in der Bevölkerung und in der Politik trotz klarer Rechtslage nach einer Vereinbarung aus dem Jahr 2012 zwischen der Regierung und den Religionsgemeinschaften kontrovers und kaum vorurteilsfrei diskutiert wurde und wird.
Obwohl Tschechien ein säkulares Land ist sind die kirchlichen Vertreter wichtige Gäste bei verschiedenen staatlichen Feierlichkeiten. Umgekehrt sind die Spitzenpolitikerinnen und Spitzenpolitiker wichtige Gäste bei kirchlichen Feierlichkeiten. Papstbesuche von Johannes Paul II. 1990, 1995, 1997 und Benedictus XVI. wurden als Großereignisse nationaler Bedeutung wahrgenommen. Präsident Klaus, obwohl selber Hussite, hat 2009 das komplette Programm des Besuchs von Benedictus XVI begleitet. Auch bemerkenswert viele nationale Feiertage sind mit Heiligen verbunden (5.7. Heiligen Cyrill und Methodeus, 6.7. Gedenktag an Jan Hus und 28.9. der Heilige Wenzel – Tag der Tschechischen Staatlichkeit).
Traditionell antikatholisch
Auch Dr. Johannes Gleixner (Collegium Carolinum München) erinnerte an die historischen und kulturgeschichtlichen Hintergründe der Säkularisierung in Tschechien, derer sich bewusst sein müsse, wer die heutige Situation verstehen will: Lange vor der kirchenfeindlichen kommunistischen Diktatur hatte die Entfremdung vom christlichen Glauben und vom kirchlichen Leben begonnen: Das Scheitern der Reform und die Hinrichtung Jan Hus´, die Vorstellung Tschechiens als einer „antikatholischen Nation“, das Zusammenfallen von Abwendung von Habsburg einerseits und Abwendung vom Katholizismus andererseits sowie im 19. Jh. die starke freidenkerische Bewegung und die erfolgreiche Industrialisierung führten dazu, dass trotz formal noch hohem Bevölkerungsanteil in der katholischen Kirche sich die 1918 gegründete Tschechoslowakei als aufgeklärter und liberaler Staat verstehen konnte.
Die 1920 als Abspaltung von Rom gegründete „Hussitische Kirche“ griff folgerichtig auf hussitische Symbole zurück, hatte aber ein eher freidenkerisches Programm. Die Kommunistische Partei übernahm den antikatholischen Konsens, die 1970er Jahre beschleunigten die Abkehr vor allem der Tschechen (weniger der Slowaken) von den Kirchen. Dieser lange Prozess der Säkularisierung lässt heute eine Bevölkerung zurück, in der sich viel Indifferenz gegenüber religiösen Fragen zeigt - freilich bei einer auffälligen gelegentlichen Neigung zum Okkultismus und einer schwer fassbaren „übriggebliebenen Volksfrömmgkeit“
Religiöse Bezüge bei Vaclav Havel
Über „Glaube, Moral und Philosophie bei Vaclav Havel“ sprach Miloš Havelka, Professor für Philosophie an der Karls-Universität: Wir wollten unser Thema auch im Blick auf die Persönlichkeit und das Denken des als Politiker und Staatsmann auch in Sachsen gut bekannten ersten Präsidenten nach der „Samtenen Revolution“ wahr-nehmen.
Havelka gewährte einen Einblick in die philosophisch-ethischen Diskurse unter der kritischen bzw. oppositionellen tschechischen Intelligenz, die, geprägt von negativen Erfahrungen unter dem Kommunismus, die Idee eines eigenständigen bzw. alternativen Weges zum Sozialismus verwarf. Namentlich Havel war unter dem Einfluss vor allem des französischen Existentialismus von der Idee einer gleichermaßen gegen Sozialismus wie westliches Konsumdenken gerichteten, kulturorientierten gesellschaftlichen Ordnung geprägt. Ihr Ziel solle die Prägung der Individuen aus dem Geist (und nicht nur aus der Vernunft) sein - im Sinne des „Lebens in der Wahrheit“ und eines selbstverantwortlichen Handelns, „das den Menschen überlebt“. Mit diesem Ansatz, der auch sein Wirken als Präsident kennzeichnete, stand Havel sicher auch in einem religiösen Horizont – verstand sich selbst aber in der bürgerlichen Tradition, der er entstammte, als Agnostiker mit phasenweiser persönlicher Nähe zu Repräsentanten der katholischen Kirche.
Tschechien – was ist das für ein Land?
Mit Tschechien im allgemeinen und Prag im Besonderen zeigten sich die Teilnehmenden in unterschiedlich starkem Maße vertraut – die einen durch Reisen, durch Freundschaften und Literatur, andere durch kirchliche Partnerschaften und durch das Erlernen der tschechischen Sprache.
Es erschien deshalb als sinnvoll, zur Grundierung des Themas etwas über Tschechien, über Staat und Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur insgesamt zu sagen. Diesen Beitrag leistete PhD Ivo Vacik, der, aus Prag stammend und als Referent bei der Sächsischen Landeszentrale für Politische Bildung tätig, die gesamte Studienreise im Ganzen und in vielen Details maßgeblich vorbereitet und organsiert hatte.
Sein Vortrag „Tschechien – was ist das für ein Land?“ führte unter anderem in das politische- und das Wahlsystem der Tschechischen Republik ein und erläuterte die von der deutschen durchaus unterschiedene Parteienlandschaft samt den jüngsten politischen Diskurse, wie sie etwa bei der Wahl des Staatspräsidenten Anfang 2023 eine Rolle spielten. Neben die Erläuterungen zu politischen Zusammenhängen traten Informationen zur wirtschaftliche Entwicklung im 20. Jh. und vor allem nach 1990 mit ihren Parallelen und Unterschieden zu der in Sachsen.
Mit dem Thema der Studienreise in engem Zusammenhang standen zudem Beobachtungen zu Kultur und Mentalität: Die tschechische Gesellschaft kann zum einen als insgesamt konservativ und dem Überkommenen verbunden beschrieben werden, zum anderen aber auch als utilitaristisch und fröhlich – abzulesen z.B. an der Figur des „braven Soldaten Schwejk“ bei Jaroslav Hašek. Verbunden mit dem verbreiteten Gefühl, von außerhalb im Zweifelsfall eher bedroht zu werden, ergibt sich eine Gemengelage, die auch für das Verhältnis zu Religion und Glaube und zu aktuellen ethischen Debatten wie jener um die Rechte der LGBTQI+ bedeutsam ist.