Tschechien - eine religionslose Republik? Teil 3
Unabhängig von Moskau
Neben den Vorträgen und Podiumsdiskussionen in den Räumen des Kontaktbüros bildeten Besuche und Gespräche in Prager Kirchen und eine Begegnung mit dem Geschäftsführer der Föderation der Jüdischen Gemeinden den dritten Schwerpunkt der Studienreise.
In der St. Cyrill-und-Method-Kirche, einem Barockbau aus den 1730er Jahren und heute Hauptkirche der Eparchie Prag der Orthodoxen Kirche der Tschechischen Länder und der Slowakei empfing uns Protopresbyter Jan Beranek. Beranek gab einen Einblick in das religiöse Leben der Gemeinde, das sich in Prag wie überall in der Orthodoxie sehr aus der Liturgie, der täglichen gottesdienstlichen Feier (in tschechischer Sprache) speist. Er erläuterte die autokephale, also organisatorisch selbständige Struktur seiner Kirche, die sich damit auch „unabhängig von Moskau“ weiß. Bereits in den Ergebnissen der Volkszählung von 2021 hatten wir gesehen, dass die Orthodoxe Kirche in Tschechien zur zweitgrößten Konfession angewachsen ist. Dies brachte Beranek vor allem mit dem Zuzug Tausender aus der Ukraine geflüchteter orthodoxer Christen in Verbindung.
Was ist die Rolle der kleinen aber lebendigen und durchaus selbstbewussten orthodoxen Kirche in Tschechien? Beranek fasste sie in ein biblisches Bild: „Wir wollen und werden trotz unserer Minderheitensituation „Salz der Erde“ und so in unserer Gesellschaft wirksam sein.“
Auf eine besondere Verbindung zwischen der orthodoxen Gemeinde und der tschechischen Geschichte wurden wir durch den Besuch der Gedenkstätte in den Räumen der St. Cyrill-und-Method-Kirche aufmerksam, in denen sich nach dem Attentat auf den stellvertretenden „Reichsprotektor von Böhmen und Mähren“ Reinhard Heydrich im Mai 1942 tschechoslowakische Fallschirmspringer versteckt hielten, bis sie dort gefunden und ermordet wurden.
Zeugen reicher jüdischer Geschichte
Die Jüdische Gemeinde Prags war einst eine der bedeutendsten, im 18. Jh. die größte in Europa. Prag war ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit, Böhmen eine Hochburg jüdischen Lebens und jüdischer Kultur. Nur wenige Jüdinnen und Juden überlebten die Schoah, die bereits 1938 mit der Vertreibung aus dem Sudetenland begann.
Heute, nach weiteren Auswanderungswellen nach 1948 und 1968 und der Zerstörung nicht weniger jüdischer Baudenkmäler zwischen 1969 und 1989 zählt die jüdische Gemeinde Prag kaum mehr als 1.500 Menschen, in Böhmen und Mähren insgesamt sind es ca. 3.000 in zehn Gemeinden. Sie sind Zeugen einer reichen Geschichte. Viele Touristen besuchen die Synagogen und den jüdischen Friedhof im Gebiet der ehemaligen Prager „Juden-Stadt“. Auch wir hatten die Gelegenheit, die Ausstellungen in der Spanischen Synagoge zu besuchen, die Altneu-Synagoge und den Friedhof kennenzulernen sowie die Pinkas-Synagoge, die bewegende Gedenkstätte für die Opfer der Schoah in Böhmen und Mähren zu sehen.
Natürlich waren wir in besonderer Weise am jüdischen Leben heute und an der gesellschaftlichen Rolle und Bedeutung der jüdischen Gemeinde in Tschechien interessiert. Das Gespräch darüber mit Tomas Kraus, Vorstandsmitglied der seit 1990 bestehenden Föderation der jüdischen Gemeinden in Tschechien, war ausgesprochen intensiv und aufschlussreich. Er erinnerte an den starken intellektuellen und kulturellen Anspruch der tschechischen Juden, symbolisiert z.B. in der Person Franz Kafkas und an das reiche Erbe, dem sich die heutige Gemeinschaft verpflichtet wisse.
Dennoch dürfe nicht übersehen werden, dass diese trotz vergleichsweise geringer Auswanderung nach Israel und verschiedentlicher Übertritte „aus dem Atheismus“ zahlenmäßig eher abnehme und deshalb für eine wirkungsvolle Teilhabe am öffentlichen Diskurs oder auch für einen breiteren jüdisch-christlichen Dialog, schließlich aber auch für die Kontinuität in leitenden und verantwortlichen Positionen kaum die Kräfte aufbringen könne. Zugleich zeige sich die tschechische Gesellschaft aufgeschlossen für jüdische Impulse, und von einem wirklichen Antisemitismus könne in Tschechien kaum die Rede sein.
Bekannt wurden die jüdischen Gemeinden Tschechiens durch das 2014 abgeschlossene Projekt „10 hevzd“ („Zehn Sterne“) zur Renovierung beziehungsweise Rekonstruktion von 15 bedeutenden jüdischen Baudenkmälern in zehn Städten Böhmens, Mährens und Schlesiens – ein Zeichen jüdischen Lebens und jüdischer Präsenz in der säkularisierten tschechischen Gesellschaft.
Eine Gemeinde für deutschsprachige Christen
Ein weiterer „Vor-Ort-Termin“ führte uns am letzten Vormittag zur Deutschsprachigen evangelischen Gemeinde in die Kirche „St. Martin in der Mauer“ am Rande der Prager Altstadt. Dr. Detmar Doering, Mitglied des Kirchenvorstands, informierte über die noch junge Geschichte der Gemeinde seit ihrer Gründung 1994. Sie gibt deutschsprachigen Christen aus mehreren Ländern eine geistliche Heimat und versteht sich zugleich als Angebot für Touristen und Menschen, die zeitweilig in Prag leben. Offene Gottesdienste und ein bemerkenswertes geistlich-kulturelles Angebot bestimmen das Gemeindeleben.
Die Gemeinde gehört zur Kirche der Böhmischen Brüder, die sich in der Tradition der böhmischen Reformation nach Jan Hus weiß und in ihrer jetzigen Gestalt 1918 durch Vereinigung der reformierten und der lutherischen tschechischen Gemeinden in Böhmen und Mähren entstand. Unter den durchweg kleinen evangelischen Kirchen in Tschechien ist sie die größte. Mit Kristýna Pilecká, der gerade berufenen neuen Pfarrerin, kamen wir u.a. ins Gespräch über den Sinn einer separaten Gemeindegründung für Deutschsprachige angesichts der Minderheitensituation der Christen insgesamt.
Hoffnung auf eine „ehrlichere und offenere“ Kirche
Schließlich versuchten wir noch einen „Blick nach vorn“. Bei einem letzten Podium, moderiert von Dr. Roland Löffler (Direktor der Landeszentrale für politische Bildung), diskutierten Vertreterinnen und Vertretern der jungen Generation, Studierende der drei theologischen Fakultäten der Karls-Universität, über die Zukunft des (christlichen) Glaubens in Tschechien und stellten sich dabei auch unseren neugierigen Fragen: Wie sehen sie die Zukunft der Kirchen und wie ihre eigene Aufgabe in ihrem Land, das manche eine „gottlose Republik“ nennen?
Die jungen Leute zeigten sich einig, dass im Blick auf die Menschen in Tschechien der Begriff „Agnostizismus“ mit seiner impliziten Offenheit für Neues dem Verdikt „Atheismus“ vorzuziehen sei. Konfessionelle Positionen wie der Priesterzölibat wurden auffallend engagiert verteidigt – gleichwohl ein stärkeres Zusammengehen der Fakultäten an der Universität gefordert. So zeigte sich die Hoffnung auf eine „ehrlichere und offenere“ Kirche ebenso wie die Überzeugung, traditionelle Positionen und Überzeugungen um eines klaren Profils willen nicht leichtfertig aufgeben zu dürfen. Die orthodoxen Studenten betonten zudem den slawischen Kontext, der gerade für Religion in Tschechien ein wichtiger Rahmen und eine Perspektive bleibe.
Etwaismus bestimmt die religiösen Lage in Tschechien
Zum Abschluss baten wir die Teilnehmenden, sich in kleinen Gruppen und im Plenum zu einer zusammenfassenden Frage auszutauschen: „Wenn Sie jemand fragt: Wie ist das mit Gesellschaft, Staat und Religion in Tschechien – was antworten Sie?“ - Eine Auswahl der Antworten:
- Staat und Kirche sind getrennt. Die Kirchen sind – trotz garantierter Freiheiten – im Ergebnis eines schon lange anhaltenden Säkularisierungsprozesses marginalisiert.
- Die Kerngemeinden sind klein, innerhalb der Kirchen zeigt sich gelegentlich Distanz zwischen Gemeinden und Kirchenleitung.
- Dennoch haben die klein gewordenen und wohl noch weiter schrumpfenden Kirchen, vor allem die römisch-katholische, Einfluss auf politische Prozesse. Dabei kommt ihnen möglicherweis entgegen, dass die Moralvorstellungen in wichtigen Parteien weniger liberal sind als in der Bevölkerung insgesamt.
- Traditionen und architektonische Zeugen der religiösen Vergangenheit werden gepflegt – aber in nicht geringem Maße vor allem für die Touristen…
- Dennoch trafen wir auf selbstbewusste Christen und Juden und auch Muslime, die ihre Rolle suchen und in einer mehr oder weniger starken Diasporasituation ihre aus dem Glauben gewonnenen Positionen deutlich machen.
- Die Kirchen erleben Skepsis und Distanz seitens der Bevölkerung sowie andere (Groß)Institutionen auch – in Tschechien nicht anders als in vielen europäischen Ländern.
- Einprägsam für die Beschreibung der „religiösen Lage“ ist der Begriff „Etwaismus“, der für eine durchaus verbreitete vage Religiosität in der Bevölkerung steht, die sich aber eher selten in der Zugehörigkeit zu einer Kirche oder religiösen Gemeinschaft und schon gar nicht in einem expliziten und auf Engagement zielenden Glaubensbekenntnis ausdrückt.