Tschechien - eine religionslose Republik? Teil 2
Kirchliche Perspektiven in einer säkularen Gesellschaft
Drei moderierte Podiumsdiskussionen ließen die Kirchen selbst zu Wort kommen bzw. gaben Anteil an aktuellen gesellschaftlichen Debatten mit religiösen Bezügen. Unter dem Thema „Unde venis et quo vadis Christianismus Bohemica?“ (Woher kommst du und wohin gehst du, tschechisches Christentum?) stellten Dr. Hana Tonzarová (Tschechoslovakische Hussitische Kirche), Dr. Vojtěch Eliáš, (Röm.-kath Kirche) und Jiří Šamšula (Ev. Kirche der Böhmischen Brüder) die Sichtweisen ihrer Kirche im Gespräch mit der Soziologin Dr. Barbora Spalová vor.
Das Podium kreiste um die Frage nach den Perspektiven der Kirchen nach den dramatischen Einbrüchen der Mitgliederzahlen seit mehreren Generationen und der sich offenbar verfestigenden säkularen Ausrichtung der Gesellschaft. Die Kirchenvertreter bestätigten die große Entfremdung eines sehr großen Teils der Bevölkerung vom Christentum - wenn auch eine distanzierte Haltung häufiger anzutreffen sei als eine dezidiert atheistische.
Aufbauend auf früheren Abbrüchen sei die Wirkung der kommunistischen Propaganda in Tschechien besonders nachhaltig gewesen. Gerade in Prag sei die Entfremdung namentlich vom Gottesdienst für alle Kirchen eklatant. Gerade die junge Generation wisse praktisch nichts von Kirche und Glaube. Umso bedauerlicher sei es, dass die Etablierung von Religionspädagogik in den Schulen kaum gelungen und organisatorisch schwierig sei. Verheißungsvoller seien Angebote und Projekte auf lokaler Ebene, die Christen und Nichtchristen zusammen – und einander näherbringen. Dies könne einen Kontrapunkt zu einer z.B. bezüglich der Restitutionen skandalisierenden oder aber fehlenden Wahrnehmung der Kirchen in den Medien bedeuten.
In der Evangelischen Kirche der böhmischen Brüder sei sogar ein langsames Wachstum zu verzeichnen – freilich auf sehr niedrigem Niveau. Die Hussitische Kirche erlebe dies ebenfalls – bemerkenswerterweise nicht durch „innere Reproduktion“. Vielmehr kämen Menschen von außen, die die „Kredibilität der Kirche“ schätzten und sie als einen „sicheren Raum“ wahrnähmen, den es so in der Gesellschaft nicht gebe. Gerade die Corona-Zeit habe dies bewiesen, so Frau Tonzarová. Dennoch bleibe es für die beiden kleinen Kirchen eine zentrale Herausforderung, aus der gesellschaftlichen „Unsichtbarkeit“ herauszutreten.
Vojtěch Eliáš bestätigte die Kraft lokaler- und Basisinitiativen und machte dabei ein gewisses Auseinandertriften von Hierarchie und Gemeinden in der katholischen Kirche aus einschließlich der Weigerung mancher Bischöfe, den Realitäten der Säkularisierung ins Auge zu sehen. Tschechien teile offenbar mit anderen westlichen Gesellschaften eine deutliche Distanz der Menschen gegenüber Großorganisationen mit verbindlicher Bindung. Insofern sei es nicht sicher, wie es zu deuten sei, wenn bei den letzten Volkszählungen 50 Prozent keine Angaben zu Religiosität gemacht hätten.
Einig waren sich alle Teilnehmenden, dass mittelfristig die Vermittlung von elementarem Glaubenswissen Priorität haben und auch als ökumenische Aufgabe, z.B. im Religionsunterricht, angegangen werden müsse. Der Dialog unter den Kirchen sei jedenfalls auf erfreuliche Weise im Gange. Letztlich gehe es darum, sich bietende Möglichkeiten, auch ganz neuartige, zu nutzen und wahrzunehmen, wie Jesus Christus trotz weiter voranschreitender Säkularisierung unter den Menschen präsent sei.
Fremd und anders. Doppelte Vorbehalte gegenüber Muslimen
Ein Thema, das auch den Christen in Sachsen gut vertraut ist, hatten wir exemplarisch als Beispiel für einen gesellschaftlichen Diskurs ausgewählt, der die Kirchen zu einer Stellungnahme ebenso nötigt wie zu praktischem Engagement: „Ist das christlich? Diskussion zu Islam und zu Flucht und Migration aus muslimischen Ländern“. Wir konnten dazu Muhammad Abbas al-Mutassim (muslimische Gemeinde), Dr. Martin Klapetek (Religionswissenschaftler), Pfarrer Dr. Miloš Szabo, (röm.-kath. Kirche) und Dr. Martin Rozumek, (Direktor Organisation für Flüchtlingshilfe, OPU) begrüßen.
Das Gespräch wandte sich zunächst der jüngeren gesellschaftlichen Debatte um die Aufnahme Geflüchteter zu. Hier zeige sich eine in der Gesellschaft tief verwurzelte doppelte Angst – vor Fremden und Fremdem im Allgemeinen und vor Menschen muslimischen Glaubens oder aus muslimsicher Kultur im Besonderen, die auch in fehlenden persönlichen Kontakte begründet sei – eine Differenz zu Westdeutschland, eine Ähnlichkeit wohl mit Sachsen. Umso bemerkenswerter die große Offenheit für Flüchtlinge aus der Ukraine – auch sie Fremde, freilich aus einem verwandten Kultur-bereich und mit vergleichbaren schlechten Erfahrungen mit russischer/sowjetischer Politik.
Herr al-Mutassim vermerkte dennoch eine Veränderung. Durch Beteiligung am öffentlichen Leben und durch die Auswirkungen der mit dem Tourismus verbundenen Erfahrungen könnten mehr und mehr auch Muslime einen Platz in Tschechien finden. Vor allem in der Hauptstadt sei ihre Zahl auch spürbar gestiegen. Nach wie vor bleibe aber die Integration in den Arbeitsmarkt angesichts fehlender Anerkennung von Berufsabschlüssen schwierig. Von Angriffen auf muslimische Frauen mit Kopftuch müsse, so Klapetek, leider auch heute noch berichtet werden.
Pfarrer Szabo ging besonders auf die häufig angeführte Notwendigkeit ein, christliche Werte gegenüber „dem Islam“ verteidigen zu müssen: Dieses Argument sei in einer säkularisierten Gesellschaft schon einmal merkwürdig. Theologisch sei aber vor allem darauf hinzuweisen, dass Christus nicht bei denen zu finden sei, die mit Angstparolen ausgrenzen, sondern bei denen am Rande, die ausgegrenzt oder abgelehnt werden. Er hoffe auf wachsende Toleranz und zunehmendes Interesse am Verbinden-den.
Ehe für alle? Die Rolle der Kirche in der Politik
Bei einer dritten Podiumsdiskussion sollte am Beispiel der Diskussion um die Ratifizierung der „Istanbul Konvention“ des Europarates zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt und der viele bewegenden Frage nach der „Ehe für alle“ der Zusammenhang von Kirche, Religion und Politik im heutigen Tschechien aufgezeigt und diskutiert werden. Dabei spielte vor allem der Einfluss eine Rolle, den offenbar die katholische Kirche über ihr nahestehende Parteien bzw. deren Vertreter auf parlamentarische Gremien und Prozesse ausübt. Dazu diskutierten die Juristin Dr. Adéla Horáková („Wir sind fair – Ehe für alle“), Johanna Nejedlová (Tschechische Frauenlobby) und der Politikwissenschaftler Dr. Jiří Pehe.
Trotz deutlicher Zustimmung in der Bevölkerung und einer offensichtlichen liberalen Tradition des Landes ist es bislang nicht zur Ratifikation der Istanbul Konvention gekommen. Die Vertreter der Zivilgesellschaft aus der Tschechischen Frauenlobby und der Organisation „Wir sind fair – Ehe für alle“ kritisierten die Versuche, konservative religiöse Positionen mittels Lobbyarbeit und durch populistische Propaganda durchzusetzen. Auch der frühere Präsident habe sich in der Vergangenheit in diesem Sinne engagiert. Neben der Kraft der Argumente setze man gerade bezüglich der „Ehe für alle“ Hoffnungen auf eine offenere Haltung des neu gewählten Präsidenten Petr Pavel.
In dieser sehr interessanten Diskussion fehlte leider ein Vertreter der katholischen Kirche oder aus einer der kritisierten Parteien. Abgeordnete, deren Position zu hören spannend gewesen wäre, waren leider der Einladung der Veranstalter nicht gefolgt. Dies wurde auch unter den Teilnehmenden der Studienreise bedauert, an deren Beiträgen sich zeigte, dass die ausgewählten Themen nicht nur in Tschechien und nicht nur unter tschechischen Christen kontrovers diskutiert werden.