Zum zweiten Mal hat die Sächsische Landeszentrale für politische Bildung eine Wahl in Sachsen mit Diskussionsrunden von Kandidatinnen und Kandidaten in den Wahlkreisen begleitet. Bereits im Vorfeld der Landtagswahl 2019 hatte die Landeszentrale dieses Format umgesetzt, das Debatten in den Regionen anbietet. Nun gab es vor der Bundestagswahl eine weitere Auflage, mit jeweils zwei Gesprächsrunden in jedem der 16 Wahlkreise. Teilgenommen haben die Direktkandidatinnen und -kandidaten der Parteien mit Fraktionsstatus im Bundestag, von CDU, SPD, AfD, FDP, Die Linke und Bündnis 90/Die Grünen. Insgesamt 3.000 Menschen in Sachsen haben mitdiskutiert. Die Veranstaltungen fanden im Monat vor dem Wahlsonntag unter Pandemiebedingungen statt, mit Abstand und 3-G-Regel.
Den Auftakt gab es am 30. August beim ersten Forum im Wahlkreis 164 Erzgebirgskreis 1 in Annaberg-Buchholz. Ziel der Debatten sei es, „dass möglichst viele Menschen an einer sachlichen Auseinandersetzung teilnehmen können“, sagt der Moderator zur Eröffnung. Bei dieser Runde wird zusätzlich zum Treffen vor Ort eine digitale Übertragung angeboten. Auch in allen anderen Kreisen wird eine der beiden Debatten auf dem Facebook- und dem YouTube-Kanal der Landeszentrale gestreamt. Bis zum Wahlsonntag haben die Aufzeichnungen der Wahlforen etwa 37.000 Aufrufe. Auch dieses Mal gibt es eine Zusammenarbeit mit den drei großen sächsischen Regionalzeitungen, mit der Freien Presse, der Sächsischen Zeitung und der Leipziger Volkszeitung. Redakteurinnen und Redakteure haben einen Teil der Moderationen übernommen. Neu ist die Kooperation mit der Hochschule Mittweida, Studierende haben im Rahmen ihrer Ausbildung beim technischen Ablauf und der digitalen Übertragung der Foren unterstützt.
Das Prozedere ist bei allen Runden gleich: Jede Diskussion dauert zwei Stunden. An einer Tafel hängen Schwerpunktthemen, von Innerer Sicherheit über Bildung bis Digitalisierung. Die Zuschauerinnen und Zuschauer vor Ort können zu Beginn über ein Abstimmungstool drei Komplexe auswählen, die besprochen werden sollen. Und sie können sich mit Fragen an die Kandidatinnen und Kandidaten wenden.
Nah an der Lebenswirklichkeit
Das Thema, das in Annaberg-Buchholz als wichtigstes Anliegen gewählt, also zuerst diskutiert wird: Gesundheit, Arbeit und Soziales. In der Debatte geht es schnell um die Einkünfte im Erzgebirge, im Kreis gibt es mit 2407 Euro brutto Durchschnittseinkommen die niedrigsten Löhne in ganz Deutschland. Es gäbe zwar viele mittelständische Unternehmen, aber bei den Löhnen sei noch Luft nach oben, darüber sind sich alle Kandidaten in der Runde einig. Die Lösungsvorschläge, der Umgang mit sozialen Leistungen wie Hartz IV, ist verschieden. „Wir haben nahezu Vollbeschäftigung im Kreis“, sagt der CDU-Kandidat Alexander Krauß. „Ich bin dafür, dass jeder Unterstützung bekommt, der Hilfe braucht, aber erwarte von jedem, dass er sich bemüht. Ich finde auch, dass man den Hartz-IV-Satz kürzen kann, wenn man sich nicht anstrengt.“ Clara-Anne Bünger, die Linken-Kandidatin sagt: „Wir müssen über Lohnerhöhungen und Lohngerechtigkeit reden.“ Das sei „ein Zukunftsthema“, damit sich weiterhin genug Menschen im Erzgebirge ansiedeln.
Von den Löhnen geht es zur Rente. Wie sollen sie künftig finanziert werden? „Wir wollen, dass alle, auch Politiker und Beamte in die gesetzliche Rente aufgenommen werden“, fordert Silvio Heider, der SPD-Kandidat. Diese Position teilt unter anderem Sebastian Walther von den Grünen und fügt hinzu, dass man „für höhere Löhne kämpfen“ müsse, „darüber kommt man zu höheren Renten“.
Wenn man die Wahlforen beobachtet, fällt auf: Die Diskussionen behandeln die großen Themen der Politik und sind nah dran an den Lebenswirklichkeiten der Menschen. An den Themen, die sie in ihren Regionen besonders beschäftigen, sei es der anstehenden Strukturwandel in den Kohlerevieren der Lausitz oder das Problem mit steigenden Mieten in Leipzig. Von den großen Komplexen wurde ein Thema besonders häufig vom Publikum als Nummer eins gewünscht: Klima, Umwelt und Landwirtschaft.
Im Wahlkreis Erzgebirge I dreht sich diese Diskussion auch um die Entwicklung und den Umgang mit erneuerbaren Energien – und um Windräder, ein umstrittenes Thema in der Region. „Das ist für mich ein rotes Tuch“, sagt Thomas Dietz von der AfD. „Wir sollten uns als Tourismusregion entwickeln. Windräder gehören für mich überhaupt nicht ins Erzgebirge.“ Seine Partei setzt unter anderem auf Kernenergie. Auch die Vertreter von CDU und FDP sind skeptisch, was den Ausbau von Windenergie angeht. „Windräder sind gut gemeint, aber führen nicht zum Ziel“, sagt die FDP-Kandidatin Ulrike Harzer. Wenn es um erneuerbare Energien geht, sei sie dafür, dass „sich die besten Innovationen am Markt durchsetzen.“ Alexander Krauß von der CDU sagt: „Man kann nicht gegen den Willen der Bevölkerung etwas bauen.“ Sebastian Walther von den Grünen findet, dass mehr Anreize gesetzt werden müssten, um den Ausbau von Windenergie voranzutreiben. „Bei Windrädern müssten Kommunen demokratisch und auch finanziell beteiligt werden, damit sie etwas davon haben. Zum Beispiel über Gewerbesteuern, damit sie Kitabeiträge senken können.“
Sachlich und kontrovers
Die Beteiligung vom Publikum ist rege. Die Zuschauer, die die Debatte online verfolgen, können Fragen per Chat stellen. Wer live vor Ort ist, kann sich direkt an die Runde wenden. Im Erzgebirge geht es bei den Publikumsfragen auch um Corona und Impfungen. Ein Mann will wissen: „Wie stehen sie zu Politikern, die eine Impfpflicht direkt oder indirekt fordern und damit Menschen, die sich nicht impfen lassen wollen, ausgrenzen lassen wollen?“ Eine Impflicht befürwortet keiner der Kandidaten. Alle, außer der AfD-Kandidat, werben fürs freiwillige Impfen. „Die Impfungen schützt einen selbst, die Familienmitglieder und die Menschen um einen herum“, sagt Silvio Heider von der SPD. In der Region sei die Impfquote noch zu niedrig, es sei wahrscheinlich, dass bald eine vierte Coronawelle kommt, „deshalb lassen sie sich bitte impfen“.
Trotz vieler Meinungsunterschiede ist die Gesprächsatmosphäre beim Wahlforum im Erzgebirge ruhig und sachlich – so wie zumeist auch bei den anderen Foren. Die sächsische Polizei ist sensibilisiert, nach Vorkommnissen bei anderen Debatten in Sachsen, bei allen Wahlforen auf Störer zu achten. Polizisten schauen bei den Terminen vorbei. Zu größeren Unruhen oder Krawall ist es nicht gekommen. Nicht bei allen 32 Foren war jeder der eingeladenen Direktkandidaten anwesend, es gab etwa ein halbes Dutzend Absagen unter anderem wegen Krankheit oder anderer Termine. Die Parteien schickten meist Ersatz-Gesprächspartner aus ihren Reihen. An einem Wahlforum in Dresden hat der AfD-Kandidat Jens Maier auf die Teilnahme verzichtet, weil er sich nicht an die geltenden Corona-Maßnahmen, die 3-G-Regel, halten wollte.
Eine Schwäche des Formats ist ein fehlender Faktencheck. In manchen Debatten äußern Kandidaten falsche Fakten, etwa zum Thema Corona und Impfungen. Hier und da wird es von den Moderatoren oder Kandidaten der anderen Parteien korrigierend aufgegriffen, gelegentlich drehen sich Diskussionen aber schnell um weitere Einwürfe und Themen, so dass kein Raum bleibt für Richtigstellungen. Eine Erfahrung ist, dass die Runden, sowohl Moderatoren als auch Kandidaten, beim Wiedersehen zum zweiten Wahlforum häufig eingespielter sind. Man kennt sich, die Positionen und Abläufe ein bisschen besser, die Diskussionen sind pointierter.
Wir wollen kein braunes Gebilde sein
Auch beim zweiten Wahlforum im Wahlkreis Erzgebirge 1 ist das zu beobachten. Dieses Mal wird in einem Kino in Schwarzenberg diskutiert, etwa 50 Menschen sitzen im Saal und verfolgen die Debatte aufmerksam. Auch hier geht es wieder um niedrige Löhne, Renten und die Wirtschaftskraft der Region, aber es kommen auch neue Themen auf. Eine Frau aus dem Publikum findet, die Gegend habe einen schlechten Ruf, einige Menschen würden nicht gern herziehen, zum Beispiel dringend benötigte Mediziner, denn es gäbe wenig Weltoffenheit und viele Rechtsradikale. Sie will wissen: „Was wollen wir machen, damit das Erzgebirge gesellschaftlich ein anderes Image bekommt?“ Thomas Dietz von der AfD ist empört über diese Einschätzung. „Das ist eine Diffamierung der Bürger im Erzgebirge“, sagt er. Er habe oft Besuch von außerhalb. „Ich habe noch von niemanden gehört, dass die Leute Angst haben vor Rechtsradikalen.“
Der CDU-Kandidat Alexander Krauß sagt, er verschenke gern Räuchermänner an Menschen von außerhalb, um für das Erzgebirge zu werben. „Man kann im Erzgebirge gut leben“, sagt er. Dass hier alles ganz schlimm und schrecklich ist, das sehe ich nicht so.“ Dennoch dürfe man nicht außer Acht lassen, dass es in der Gegend auch Rechtsradikale gäbe, aber „es gibt bei uns im Landkreis, eine Mehrheit, die findet, dass wir kein braunes Gebilde sein wollen“. Die Linken-Kandidatin Clara-Anne Bünger sieht das anders. „Man muss konstatieren, dass wir ein Problem haben in Bezug auf rechte Gewalt“, sagt sie. „Das heißt nicht, dass man alle Menschen über einen Kamm schert.“ Sie wünscht sich mehr Unterstützung für Initiativen und zivilgesellschaftliche Bündnisse, die sich gegen Rechtsextremismus im Erzgebirge engagieren.
Transparenz und Chancengleichheit
Roland Löffler, Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung, zieht insgesamt eine positive Bilanz zur zweiten Auflage der Wahlforen in den Kreisen. „Wir hatten sehr spannende, lebendige und kontroverse Diskussionen“, sagt er. „Wir haben für Sachsen Foren geboten, wo es ums Eingemachte ging, und einen Beitrag geleistet, dass Debatten stattfanden.“ Auch von den Kandidaten und Kandidatinnen der verschiedenen Parteien habe es positive Rückmeldungen gegeben, „oft kam das Feedback, das sich das Format lohnt, weil es Transparenz und Chancengleichheit schafft“.
Mit den Teilnehmerzahlen ist Löffler zufrieden. Je nach Wahlkreis sei der Zuspruch unterschiedlich gewesen, mal kamen knapp 150 Menschen zu einem Forum, mal um die 50 Menschen. Er hofft dennoch, dass die Wahlforen bei der nächsten Auflage noch mehr Breitenwirksamkeit entfalten. „Ich hatte bei etlichen Foren das Gefühl, dass Unterstützer von Parteien einen Teil des Publikums ausmachen. Das ist einerseits gut, weil es zeigt, dass die Parteien dieses Format schätzen“, sagt er. „Aber ich würde mir wünschen, dass noch mehr breite Bevölkerung kommt, zum Beispiel ein Lehrer mit seinem Leistungskurs oder ein Pfarrer mit seiner Kirchgemeinde.“