„Alles wieder gut?“ Große Resonanz auf Tagung zu Restorative Justice in Meißen
Stuttgarter „Krawallnacht“: Was lässt sich wiedergutmachen?
Über 30 verletzte Polizisten, etwa 40 demolierte Ladengeschäfte und 25 beschädigte Einsatzfahrzeuge: In der sogenannten Stuttgarter Krawallnacht vom 20. auf den 21. Juni 2020 randalierten nach Angaben der Polizei bis zu 500 Menschen in der Innenstadt. Einsatzkräfte von Feuerwehr und Rettungsdiensten wurden mit Steinen und Flaschen beworfen und zum Teil an der Versorgung von Verletzten gehindert. Unter den Randalierenden waren viele Jugendliche, Auslöser der Ausschreitungen waren Drogenkontrollen gewesen.
Die am 22. Juni 2020 gegründete Ermittlungsgruppe „Eckensee“ war die größte in der Geschichte Baden-Württembergs. Die Vorwürfe gegen die Tatverdächtigen: Beleidigung, Sachbeschädigung, Diebstahl, Widerstand gegen Vollstreckungsbeamte, Körperverletzung, versuchter Totschlag, Landfriedensbruch. Die polizeilichen Ermittlungen lösten – wie bei der Silvesternacht auf 2023 in Berlin – bundesweite Debatten über Rassismus aus. In Stuttgart wurde neben der Staatsangehörigkeit auch der Migrationshintergrund der Tatverdächtigen ermittelt.
Wie lässt sich so eine Nacht aufarbeiten – strafrechtlich, aber auch gesellschaftlich? Dieser Frage stellte sich Wolfgang Schlupp-Hauck, der 2020 als Sozialarbeiter das Projekt Täter-Opfer-Ausgleich im baden-württembergischen Justizvollzug koordinierte. Er setzte sich nach der Krawallnacht gemeinsam mit dem Stuttgarter Jugendamt dafür ein, statt harter Haftstrafen und schnellen Urteilen gegen die Jugendlichen eine Wiedergutmachungskonferenz im Stuttgarter Rathaus auszurichten.
Davon berichtete Schlupp-Hauck, der lange Jahre Vorstandsmitglied der Bundesarbeitsgemeinschaft Täter-Opfer-Ausgleich und Sprecher der Landesarbeitsgemeinschaft (LAG-TOA) Baden-Württemberg war, auf der gemeinsamen Tagung der Sächsischen Landeszentrale (SLpB) und des Vereins HAMMER WEG am 2./3. Juni in Meißen. In diesem Jahr war die mittlerweile schon traditionelle Konferenz dem Thema „Alles wieder gut? Restorative Justice, Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung in Sachsens Justiz“ gewidmet.
Friedemann Brause, Referent der SLpB für Innenpolitik und Zivilgesellschaftliches Engagement, eröffnete die Tagung am Freitagabend gemeinsam mit Hermann Jaekel, dem Vorstandsvorsitzenden des HAMMER WEG e. V. –Verein zur Förderung von Strafgefangenen und Haftentlassenen. Zunächst wurde umrissen, was das Konzept der Restorative Justice umfasst: Sie mache erstens sichtbar, welche emotionalen und sozialen Auswirkungen die Tat hatte. Zweitens treffen Täter:innen und Geschädigte – im Beisein eines Mediators oder einer Mediatorin – freiwillig aufeinander und suchen drittens nach Wegen zur Wiedergutmachung.
Wichtig: Vielfalt der Perspektiven
„Ganz wichtig ist uns, dass hier bei der Tagung unterschiedliche Perspektiven vertreten sind und es zu einem Austausch kommt“, so Friedemann Brause. „Dazu gehören die Opferperspektive, die Sicht von Beschuldigten und Täter:innen sowie von Angehörigen des sozialen Umfelds der Betroffenen und von Ehrenamtlichen.“ Er verwies auch darauf, dass sich zwei Justizministerien, Mitarbeitende der Justizvollzugsanstalten und sozialer Dienste und sowohl Wissenschaftler:innen als auch juristische Laien an der Konferenz beteiligten. Mit Abstimmungskarten holte Brause – gleich zum Tagungsauftakt – ein Meinungsbild der Teilnehmenden ein. Deren eindeutiges Votum: Der in Deutschland seit Jahrzehnten rechtlich verankerte „Täter-Opfer-Ausgleich“ finde in der Praxis viel zu selten statt.
„Dabei zeigen zahlreiche Erfahrungen: Den Opfern von Straftaten hilft eine geschützte Konfrontation mit dem Täter dabei, Traumata zu verarbeiten“, erklärte Hermann Jaekel. „Begegnungen von Opfern und Tätern haben für beide Seiten viel tiefgreifendere Folgen als eine Strafe sie haben kann.“ Er plädierte dafür, die Bürgergesellschaft stärker an Strafprozessen zu beteiligen.
Staatsministerin Katja Meier: „Die Gesellschaft steht mit in der Verantwortung“
Die sächsische Staatsministerin der Justiz und für Demokratie, Europa und Gleichstellung (SMJusDEG), Katja Meier, sagte in ihrem Grußwort am Samstagvormittag: „Im aktuellen Koalitionsvertrag der sächsischen Staatsregierung ist verankert, Restorative Justice, Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung zu stärken. Ich bin überzeugt, dass unsere Rechtsprechung profitieren wird von alternativen Verfahren.“ Auch auf Bundesebene sollte Restorative Justice eine größere Rolle spielen, so die Ministerin.
„Wir brauchen die entsprechenden gesetzlichen Grundlagen, müssen uns aber auch darüber im Klaren sein, dass es damit nicht getan ist. Ohne gesellschaftliches Commitment hat Restorative Justice keine Aussicht auf Erfolg.“ Straftaten spielten sich nie im luftleeren Raum ab, und auch nicht bloß zwischen Täter und Opfer, erklärte Staatsministerin Meier. „Solche Taten haben eine gesellschaftliche Dimension, und deshalb steht auch die Gesellschaft mit in der Verantwortung. Sie kann die Opfer genauso wie die Täter dabei unterstützen, wieder an ihr teilzuhaben. Zu diesem Commitment müssen wir bereit sein – dann helfen wir unserem Rechtssystem mehr als mit populistischen Forderungen nach härteren ‚Abschreckungsstrafen‘.“
„Straftaten spielen sich nicht im luftleeren Raum ab“
So sieht es auch Sozialarbeiter Wolfgang Schlupp-Hauck, der sich seit Jahren in der Praxis für Restorative Justice einsetzt. Im Stuttgarter Jugendamt sei die Wiedergutmachungskonferenz als Mediationsverfahren mit großen Gruppen eingeführt worden: mit dem Ziel, das soziale Umfeld in den Täter-Opfer-Ausgleich einzubeziehen. „Und dieses Modell wurde dann zur Aufarbeitung der sogenannten Krawallnacht genutzt. Konkret bildeten dabei je zwei oder drei Täter mit Unterstützungspersonen aus ihrem Umfeld, zwei oder drei Polizisten und ein oder zwei Ladenbesitzer eine Gruppe. Im Rahmen dieser Gruppen sprachen sie darüber, was in der Nacht passiert ist und wie sie das erlebt haben, um schließlich gemeinsam über Wiedergutmachung zu reden“.
In den Pausen hätten sich die Polizisten und die Jugendlichen erstaunlicherweise blendend verstanden. Sogar ein Fußballturnier mit gemischten Teams habe man angedacht, die Leitung der Polizei habe dies allerdings wegen Verletzungsgefahr abgesagt, berichtete Schlupp-Hauck. Seine Bilanz der Konferenz: „Es wurden Feindbilder und Vorurteile abgebaut. Schadensersatz wurde reguliert, Entschuldigungen wurden erbeten und angenommen. In späteren Verhandlungen oder Berufungen zur Krawallnacht wurden Wiedergutmachungskonferenzen als Erziehungsmaßnahmen und Bewährungsauflage genutzt. Es gab auch öffentliche Aktionen und fürs Internet produzierte Videos im Zuge der Aufarbeitung. Einer der Jugendlichen hat einen Rap über seine Erfahrungen im Knast performed.“
Nicht alles lässt sich wiedergutmachen
Dabei stellte er klar: „Natürlich bleibt der Begriff Wiedergutmachung bei allen Straftaten schwierig. Schmerzen, die wir hatten, die bleiben. Nicht alles, was kaputtgemacht wurde, kann man reparieren. Aber hier stellte sich auch eine größere gesellschaftliche Frage: Wie können die Jugendlichen, die an der Nacht beteiligt waren, ein anderes Bild von sich abgeben? Was können sie Positives tun?“ Eine der Jugendlichen habe damals eine Kunstaktion gemachen, ein anderer wollte um den Eckensee aufräumen. „Wie man Wiedergutmachung umsetzen kann, das wurde mit den Jugendlichen und der Jugendarbeit gemeinsam besprochen“, so Schlupp-Hauck. „Die eigenen Taten zu reflektieren und aufzuarbeiten, gehört dazu.“
Auch Anja Hentschel, Systemische Therapeutin und Mediatorin in Strafsachen bei der AWO Chemnitz, begleitet den Täter-Opfer-Ausgleich im Jugendstrafrecht. Sie gab auf der Tagung in Meißen einen Workshop dazu und berichtete von ihren Erfahrungen: „Die Täter und Täterinnen sind zwischen 14 und 21, hier zählen mit Gewalt ausgetragene Konflikte, bis hin zu schwerer Körperverletzung, zu den häufigsten Delikten“, so Hentschel. Seit einigen Jahren werde Gewalt auch in den Sozialen Medien ausgeübt: in Form von Mobbing, Beleidigungen oder massiven Drohungen.
Arbeit mit jugendlichen Straftätern in Chemnitz
„Bei einer persönlichen Begegnung kommt es da häufig zu einer aufrichtigen Entschuldigung, die auch für den Täter oder die Täterin wichtig ist“, erklärt die Mediatorin. Im Falle körperlicher Gewalt in Verbindung mit Raub erlebe sie immer wieder, dass Geschädigte offene Fragen haben – etwa: „Lag es an mir?“ – und eine Klärung brauchen. Ihnen helfe die Aussprache mit dem Täter dabei, sich von diesen Selbstvorwürfen zu befreien. „Denn oft erklären die Täter, dass ihre Gewalt schlicht jeden oder jede hätte treffen können“, sagt Hentschel.
Dr. Michael Kilchling vom Freiburger Max-Planck-Institut zur Erforschung von Kriminalität, Sicherheit und Recht, hielt den Eingangsvortrag auf der Meißner Tagung. Er beschrieb den Täter-Opfer-Ausgleich als „sehr wertvolle Ressource, umso wichtiger, je schwerer die Folgen für die Geschädigten sind.“ Auch er brachte Stimmen von Betroffenen ein, die nach der Mediation gesagt hätten: „Durch die Begegnung und die Aussprache konnte ich besser abschließen.“
Verlorenes Potential
Kilchling bezog sich in seinem Vortrag auch auf das deutsche Rechtssystem. Dabei kritisierte er zum einen die fehlende Opferperspektive im deutschen Strafrecht: „Nicht das aktuelle, sondern das potentielle Opfer soll geschützt werden. Die Generalprävention zielt auf die Gesellschaft, die Spezialprävention zielt auf die Täter: Wo bleibt dabei der oder die Geschädigte?“ Zum anderen kritisierte er, dass in Deutschland in Bezug auf Restorative Justice viel Potential verloren gehe. „Deutschland hat im internationalen Vergleich den weitesten Rechtsrahmen in Bezug auf Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung. Warum ist das aber bis heute nicht in der Praxis und in der Gesellschaft angekommen? Das liegt unter anderem auch am Bundesgerichtshof, der hat den Paragraphen 46a nicht richtig verstanden. Hier wird Potential einfach nicht ausgeschöpft!“
Zwar werde Restorative Justice mittlerweile mehr und mehr als Option wahrgenommen. Allerdings könne der Täter-Opfer-Ausgleich nicht von den Betroffenen selbst eingefordert werden, sondern es liege bei der Staatsanwaltschaft, den Gerichten oder der Jugendgerichtshilfe, den Täter-Opfer-Ausgleich als Verfahren zu empfehlen. In seltenen Fällen gibt auch die Polizei den Hinweis, dass dieses Verfahren sinnvoll sein könne. Kilchling sprach daher von einer „bislang genuin paternalistische Verfahrensweise“ und forderte grundsätzlich „ein Recht auf Restorative Justice“ ein. „Geschädigte müssten proaktiv und autonom den Täter-Opfer-Ausgleich beantragen können.“
Kilchling wies auch auf die problematische Dimension des Opfer-Begriffs hin. Es sei ein tendenziell stigmatisierender Begriff, da darin auch Schwäche und Verliererstatus mitschwingen. Betroffene bevorzugten häufig die Begriffe „Geschädigte“ oder „Verletzte“.
Besteht Gefahr des Missbrauchs?
Von den Teilnehmenden kamen – neben viel grundsätzlicher Zustimmung zum Konzept der Restorative Justice – aber auch kritische Fragen und Anmerkungen. So wurde es als problematisch angesehen, dass mit Täter-Opfer-Ausgleich und Wiedergutmachung in manchen Fällen „der Anreiz geschaffen wird, das Strafmaß für den Täter zu verkürzen“. Und dieser Anreiz könne auch zu einem missbräuchlichen Umgang von Täterseite führen, bei dem es dann nur vordergründig um Wiedergutmachung gehe. Eine Teilnehmerin fragte: „Soll die Aussicht auf Strafmilderung etwa auch dann gelten, wenn es sich bei der Tat um Mord gehandelt hat?“
Außerdem bestehe für Angehörige von Mordopfern, die als Hinterbliebene am Täter-Opfer-Ausgleich teilnehmen können, immer auch die Gefahr der Re-Traumatisierung durch die Begegnung mit dem Täter oder der Täterin, so die Teilnehmerin. Hermann Jaekel, Vorstandsvorsitzender des HAMMER WEG e.V., betonte darauf hin, dass Ausgleichsverfahren den Geschädigten immer einen geschützten Raum bieten müssen, in dem sie sich mit traumatischen Erfahrungen auseinandersetzen und diese aufarbeiten könnten. Und der Täter oder die Täterin habe die Möglichkeit, sich den Konsequenzen der eigenen Tat und den Gefühlen des Opfers ernsthaft und empathisch zu stellen – ohne sich, wie vor Gericht, verteidigen zu müssen. Jaekel stellte klar: „Ein Täter-Opfer-Ausgleich, der allein auf Strafminderung oder -erlass zielt, ist verfehlt!“