Alter und Migrantenstatus – eine Doppeldiskriminierung?

Wie sich Alter, Migration und Behinderung überschneiden – und was das für Teilhabe im Alltag bedeutet, diskutierte die Landeszentrale gemeinsam mit der Stadt Dresden und Partnern am 20. März im Rathaus. Eine Veranstaltung voller Perspektiven, Erfahrungen – und klarer politischer Forderungen.

 

Landeszentrale diskutierte einen Aspekt des demografischen Wandels

Ist die soziale und mentale Lage der Senioren „nur“ ein Minderheitenproblem? In Wahlkämpfen wird diese Bevölkerungsgruppe kaum umworben. Aber jeder vierte Einwohner Sachsens hat die 65 bereits überschritten, die Über-Sechzigjährigen stellen mit 1,3 Millionen fast ein Drittel der Einwohner des Freistaates. Entspricht ihre gesellschaftliche Teilhabe auch in den späten Lebensjahren ihrer Relevanz? Überlagern sich ihre Diskriminierungen im Alter, die man zynisch als „natürlich“ bezeichnen könnte, mit solchen auf anderen Gebieten? Wie geht es beispielsweise Migranten, die spät zu uns kamen oder in Deutschland ins Seniorenalter aufrückten? Solche Fragen diskutierten am 20. März 2025 die Landeszentrale und die Dresdner Beauftragte für Menschen mit Behinderungen und Senior*innen gemeinsam mit weiteren Partnern im Rathaus der Landeshauptstadt.

Wer im fast schon überfüllten großen Presse- und Tagungssaal des Dresdner Rathauses nur die „Zielgruppe“ erwartet hatte, sah sich angenehm enttäuscht. Man blickte in weit mehr jüngere Gesichter als in solche, die von den Stürmen des Lebens schon gezeichnet sind. Sechs von ihnen benutzten Rollstühle, eine ältere Dame bemühte einen Rollator zu dieser ihr wichtigen Veranstaltung. Die dauerte denn auch deutlich länger als die zur selben Zeit 16 Uhr angesetzte Stadtratssitzung im Plenarsaal, die wegen der erneuten Verschiebung des Beschlusses über den Dresdner „Schicksalshaushalt“ 2025/26 kürzer ausfiel. Ein Gebärdendolmetscher durfte bei dieser ausdrücklich auch an Behinderte adressierten Diskussion nicht fehlen.

Als Gastgeberin verwies denn auch Behinderten- und Seniorenbeauftrage Manuela Scharf auf die unten auf der Straße parallel stattfindende Demonstration gegen beabsichtigte Sozialkürzungen im Krisenhaushalt. Sie ordnete den Termin in die laufenden internationalen Wochen gegen Rassismus ein. Für die Landeszentrale kündigte Direktor Roland Löffler an, Bildungsangebote künftig vielfältiger und inklusiver gestalten. Beteiligungsmöglichkeiten und Selbstwirksamkeit sollen gestärkt werden.

Paragrafen machen Antidiskriminierungsberatung nicht überflüssig

Den etwas trockenen, aber geduldig aufgenommenen fachlichen und juristischen Einstieg übernahm Anyela Urrego vom Antidiskriminierungsbüro Sachsen. Bei der Dresdner Beratung arbeitet sie seit 2004, hat als Juristin in Leipzig promoviert. Die Aufgaben des Büros beschreibt sie mit Lobbyarbeit, Beratung, Bildung und Sensibilisierung. Fast die Hälfte der Anfragen gehe wegen Rassismus ein, berichtet sie, gefolgt von Problemen durch Behinderung oder chronische Erkrankung und vom Bekenntnis zu bestimmten Religionen und Weltanschauungen. Man hört im Einzelfall zu, informiert über Rechte, hilft bei Beschwerdebriefen, vermittelt Gespräche oder unterstützt im äußersten Fall Klagen.

Die von Anyela Urrego vorangestellten Definitionen von Diskriminierung leiteten zu dem wichtigen seit 2006 geltenden Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetz AGG über. Das erwähnt in seinem Paragraphen eins Diskriminierungskategorien wie rassistische Zuschreibung, ethnische Zugehörigkeit, Geschlecht, Behinderung oder Lebensalter. Es gilt in der Arbeitswelt und für den Zugang zu Gütern und Dienstleistungen, nicht aber bei Behörden und Gerichten oder öffentlichen Bildungseinrichtungen. Es gehe um negativ konnotierte Gruppenzuschreibungen im Ungeist, selbst etwas Besseres zu sein, mithin um Machtausübung, erläuterte die Beraterin.

Erst jetzt wird über eine Novellierung des AGG gesprochen. Als einziges Bundesland hat bislang Berlin ein eigenes Antidiskriminierungsgesetz beschlossen. Sachsen steht mit dieser Fehlstelle also nicht allein.

Schließlich leitete Anyela Surrego zum spezielleren Thema der Veranstaltung über. Alter mische sich oft mit Behinderung, seine Probleme würden überlagert von Ungleichbehandlungen wegen sexueller Orientierung, wegen Nationalität oder sozialer Herkunft. Die Referentin nannte Beispiele wie die Probleme älterer Personen im Rollstuhl bei Asylverfahren, generell das Gefühl des Ausgeliefertseins und der Hilflosigkeit bei Behörden oder bei der Gesundheitsversorgung, restriktive Kreditvergabe trotz Bonität. Wenige würden außerdem Unterstützungsangebote wie die des Antidiskriminierungsbüros kennen.

Workshops diskutieren konkrete Beispiele

Praktisch-konkret untersetzt wurden solche Fragen dann in drei Workshops. Der erste widmete sich speziellen Gruppen wie den immer noch so genannten EU-Rentnern, deren Erwerbsunfähigkeitsrente seit 2001 eigentlich durch die Erwerbsminderungsrente ersetzt wurde. Es gebe keine Strukturen für den Übergang in diesen Status, wurde kritisiert. Generell seien viele auf den Altersübergang mental und formal schlecht vorbereitet. Die so genannte Versäulung, also das Nebeneinander verschiedener Behörden für Problemkreise, die sich eigentlich überschneiden, trage dazu bei. Das Bemühen um leichte Sprache könnte Barrieren für Behinderte senken.

Der Workshop B bot schon in seiner Zusammensetzung ein anschauliches Beispiel für die Überlagerung der Probleme. Der Kreis teilte sich nämlich zunächst in eine deutsch- und eine spanischsprachige Gruppe aus Venezuela stammender Frauen, unter ihnen Anyela Urrego vom Antidiskriminierungsbüro. Hier war sogar von einer Doppeldiskriminierung aufgrund von Herkunft und Alter die Rede. Nach der Relevanz des Problems befragt, konnte die Dresdner Beauftragte Manuela Scharf keine genauen Zahlen angeben. Sie schätzt aber den Anteil von Seniorinnen und Senioren unter allen Migranten auf nur etwa fünf Prozent.

Das bedeutet keinesfalls, dass sie ignorier werden dürften. Für sie sei die Sprache ein besonderes Problem, berichteten die Venezuelanerinnen. Selbst wenn sie sich gut verständigen können, stelle ihr hörbar gebrochenes Deutsch schon ein Hindernis dar. Von „unbewusster Ausgrenzung“ war die Rede. Deutschkurse sollten mehr auf ältere Teilnehmer eingehen, Angebote für geflüchtete Menschen generell. Räume für gegenseitigen Austausch könnten beispielsweise die Einsamkeit mildern. Die entstehe auch durch Resignation, wenn Angebote durch schlechte Erfahrungen gemieden werden. „Wir erleben jeden Tag Alltagsrassismus“, beklagte eine der Frauen.

Ältere Migranten seien in der Regel aber motiviert und brächten auch kommunikative Eignung mit, hieß es von deutscher Seite. Das Problem liege eher in ihrer Überforderung. In der Onlineübersicht aller Migrantenorganisationen in Dresden kann man sich über spezielle Angebote an Senioren informieren. Als ein positives Beispiel wurde die Caritas erwähnt, die sich speziell um Senioren mit Krankheiten oder Traumata kümmert.

Was kann politisch und gesetzgeberisch erreicht werden?

Am brisantesten und politisch konkretesten ging es im Workshop C zu. Die freie Journalistin Gundula Lasch moderierte nicht nur, sondern brachte auch eigene Kompetenzen ein. Vor allem zeigte Werner Schuh vom 20 Jahre bestehenden Seniorenarbeitskreis des DGB Wege zur Verbesserung zumindest der gesetzlichen Rahmenbedingungen auf. Er berichtete von einem Bundesarbeitskreis zur Novellierung des Gleichbehandlungsgesetzes und forderte auch ein Seniorenmitwirkungsgesetz auf Landesebene. Darin müsste eine Seniorenvertretung verbindlich festgeschrieben werden, ergänzte Gundula Lasch. „Auf freiwilliger Basis wird das nicht funktionieren“, sagte Schuh und verwies beispielhaft auf viele Städte, die keine Seniorenbeauftragten benannt haben. Mit einer konzertierten Aktion wolle man bei den jeweiligen Sozialministerien aktiv werden.

Damit fand der Gewerkschafter bei Verbandsvertretern und vor Ort engagierten Kolleginnen und Kollegen nur Zustimmung. Hier zumindest sollten DGB und der Beamtenbund an einem Strang ziehen, wurde gefordert. Auch der Artikel 71 im Sozialgesetzbuch 12 sollte dahingehend geändert werden, dass statt Hilfe eigene Mitwirkung postuliert werde. „Teilhabe endet mit der Berufstätigkeit“, konstatierte ein ver.di-Vertreter. Hierzu waren allerdings auch Stimmen zu vernehmen, die weniger auf Gesetze als auf eigene Aktivitäten setzen, ja drängen. Also Selbstorganisation, Selbstvertretung.

Denn von Regierungen und politischen Parteien erwartet man kein „Erbarmen“. „Die wollen nicht“, schimpfte eine Leipzigerin insbesondere auf die CDU. „Rentner sind für die uninteressant“. Im lebhaften Gespräch dieser sehr vitalen Runde dominierte aber die Einigkeit, dass man keine „Schmalspur-Seniorenpolitik“, sondern einen integrativen Ansatz für alle brauche.

Feedback: Bitte regelmäßiger solche Veranstaltungen!

Nach dem Vortrag der Arbeitskreise im Abschlussplenum wurde nach einem Feedback gefragt. Ein Teilnehmer kritisierte die mangelnde Barrierefreiheit für Menschen mit unsichtbaren Behinderungen im Rathaus, also Autisten und Neurodiverse allgemein. Alle aber sprachen von einer Bereicherung und wünschten sich regelmäßig solche Veranstaltungen. Den Schlusspunkt setzte der blinde Dr. Peter Müller vom Dresdner Sigus e. V.: „Wir hätten alle solidarisch auf der Straße gegen den Haushaltentwurf mitdemonstrieren müssen!“