Oktober 2015: Nah-Ost zeigt sich im arabischen Gewand... Ganz Nah-Ost? Nein! Ein von unbeugsamen Willen durchsetztes Land hört nicht auf, dem stetig wiederkehrenden Druck von außen und den andauernden Unruhen im Inneren Widerstand zu leisten… Diese Sätze beschwören literarische Erinnerungen an Goscinnys und Uderzos Asterix herauf und dies aus gutem Grund: Semantisch steht Asterix für „Sternchen“. Als eben dieses durften wir, 24 reiselustige und wissensdurstige Sachsen aus dem Bildungsbereich, das zwar kleine doch unbestreitbar starke Israel kennenlernen.
Zehn Tage Konfrontation mit Vergangenem und Gegenwärtigem sowie variierender Zukunftsvisionen lagen vor uns. Ein politischer, kultureller und religiöser Diskurs mit Referenten auf israelischer und palästinensischer Seite inmitten landschaftlich atemberaubender Kulisse standen uns bevor. Der israelische Referent Gad Shimron sagte in Tel Aviv zu Beginn unserer Reise: “Die Armee ist das Rückgrat der Gesellschaft.“ Zu dem Zeitpunkt war vielen von uns die Einbettung seiner Aussage ins Alltagsleben nur vage bewusst. Im Nachhinein betrachtet, zeigt sich das Bild klarer. SICHERHEIT. Sicherheit schaffen und halten durch die Präsenz der Polizei und des Militärs. Diese sind nicht nur an den Grenzen zu finden sondern mitten im pulsierenden Leben der Städte sowie den historischen und religiösen Stätten des Landes. Eine Sicherheitspolitik, die geschuldet der historisch gewachsenen Diskontinuität Israels unausweichlich scheint.
Unsere Reise begann am 11. Oktober 2015 auf dem Flughafen Berlin Schönefeld. Bevor wir das Flugzeug bestiegen, wurden wir mit eingehenden Kontrollen der israelischen Airline konfrontiert, die zunächst Beklommenheit und Verunsicherung hervorriefen, einem aber letztlich, durch das Auftreten des Personals, ein gutes Gefühl vermittelten. Mit einsetzender Dämmerung erreichten wir am frühen Abend Tel Aviv. Mir wurde von Freunden aufgetragen die Stadt in nur drei Stichworten zu beschreiben. Das Ergebnis lautet: lebendig, laut und global; kurzum eine junge Stadt im Strudel der Zeit. Bildungstechnisch wandelten wir auf den Pfaden des antiken Jaffas und des, 1909 ursprünglich als Gartenstadt gegründeten, Tel Avivs durch die Geschichte der Stadt bis zur heutigen Erscheinung als Weltmetropole, die sich unermüdlich im Ausbau befindet. AltNeuLand wurde uns dabei nicht nur historisch, sondern auch architektonisch und kulturell vor Augen geführt. Der Besuch im Diasporamuseum verschaffte uns nicht nur einen illustrierten Überblick über die Geschichte des jüdischen Volkes und die Verbreitung des Judentums weltweit, sondern ließ uns ebenso Einblicke in die kulturellen und religiösen Facetten der jüdischen Lebensweise gewinnen. Abgerundet und vertieft wurden diese Eindrücke in Gesprächen mit Anita Haviv sowie Eveline und Orielle Levy. Ein Highlight dieser Tage war das Gespräch mit Hindeja Farah (Pressesprecherin) in der Deutschen Botschaft über nunmehr „50 Jahre Deutsch-Israelische Beziehungen“.
Angereichert mit vielen Informationen und neuen Eindrücken führte uns die Reise über die Industrie-und Hafenstadt Haifa nach Akko. Akko, einstige Kreuzfahrerstadt, lädt förmlich zum Erkunden der prächtigen Festungsanlage ein. Die Kreuzritter gehören heute längst der Vergangenheit an, ebenso Akkos Bedeutung als Hafenstadt. Das Stadtbild offenbart vielmehr ein anderes Gesicht Israels: Es zeigt, das einfache Leben der israelisch-arabischen Bevölkerung in einer Stadt ohne florierender Wirtschaft, im Kontrast zum hinter uns gelassenen Tel Aviv ein Kulturschock. Die Reise fortsetzend, erreichten wir gegen Abend den See Genezareth – im Licht der bereits hinter den Hügeln versunkenen Sonne, ein atemberaubender Anblick. Das unermüdliche und stakkatoartige Klicken von 24 Kameraauslösern untermalte die Geschichtsträchtigkeit dieses Ortes.
Den folgenden Tag wandelten wir entlang des heiligen Gewässers auf den Spuren Jesu. Spontan hielten wir an der Taufstelle Yardenit am Jordan. Diese zieht jährlich über eine halbe Million taufwütige Besucher an. Zu unserem Erstaunen wurden wir Zeugen von gleich mehreren Taufen vor Ort. Auf unserer Fahrt entlang der Wirkungsstätten Jesu besuchten wir die Brotvermehrungskirche in Tabgha. Weiter führte uns der Weg zum Berg der Seligpreisung. Der christlichen Überlieferung nach ist dies der Ort, an dem Jesus von Nazareth die Bergpredigt (Mt 5ff.) gehalten und die Apostel unter seinen Jüngern ausgewählt hat. (Lk 6,12- 16). Heute befindet sich auf der Anhöhe ein Kloster der Franziskanerinnen. Der Berg bietet, die Gesänge zahlreicher Bibelkreise im Ohr, eine spektakuläre Aussicht über all jene Orte, die Jesus während seines öffentlichen Wirkens aufgesucht hat.
Nach Norden fahrend ließen wir den See Genezareth zunächst hinter uns und bahnten uns den Weg hinauf an die libanesische Grenze. Die heiligen und friedlich anmutenden Stätten noch vor dem geistigen Auge, wurden wir im „nördlichsten Kibbuz der Welt“, Misgav-Am, an die weniger schönen Ereignisse der jüngeren israelischen Geschichte erinnert. Gelegen auf der Grenze zum Libanon wurde das Örtchen zwischen 1973 und 2006 vermehrt Schauplatz terroristischer Übergriffe oder versehentliches Ziel fehlgeleiteter Raketen der Hisbollah. Die Schilderungen der Ereignisse durch Joseph Isaäc Abbas dürften jedem von uns nahegegangen sein. Ein Besuch in Misgav-Am lohnt jedoch nicht nur zur politischen Bildung, sondern ist auch auf Grund des wohl skurrilsten Museums der Welt einen Abstecher wert. Wo sonst findet man eine öffentlich zugängliche Sammlung von 4200 Flaschenöffnern aus 112 Ländern der Erde? Ernst und Freude liegen an diesem Ort sehr nah beieinander.
Von Misgav-Am aus führte uns der Weg weiter hinein in den Golan. Die Golanhöhen: ein Bergmassiv, welches Israel vom Libanon, Syrien und Jordanien trennt. Offiziell gehört dieser kaum besiedelte Landstrich zu Syrien, befindet sich aber seit dem Sechstagekrieg 1967 größtenteils unter israelischer Kontrolle. Auf Grund der anhaltend angespannten politischen Lage in Nah-Ost dienen die Golanhöhen für Israel als strategische Pufferzone. Viele Militäreinheiten sind hier stationiert und auch die UN zeigt Observationspräsenz. Eingezäunte Mienenfelder säumen die Straßenränder und auf Bergkämmen sind Satellitenüberwachungszentren auszumachen. In einiger Entfernung ertönen dumpf Bombeneinschläge aus Richtung Damaskus. Dieses Gebiet, so interessant es landschaftlich auch ist, lädt nicht zum entspannten Verweilen ein.
Jerusalem, das Highlight für viele von uns sollte das nächste Ziel sein. Auf dem Weg passierten wir jene Stelle am Jordan, an der Jesus der Überlieferung nach seine Taufe durch Johannes den Täufer erhielt. Wir streiften Jericho und das Gasthaus des Barmherzigen Samariters. Am gleichen Tag führte uns der Weg nach Bethlehem, zur Geburtskirche Jesu und der Wirkungsstätte des Kirchenvaters Eusebius Hieronymus. Spätestens mit dem Passieren des Checkpoints und der neun Meter hohen Sperrmauer verflog die mystische Aura der Gegend fürs Erste. Aus Sicherheitsgründen tauschten wir unseren israelischen Reisebus gegen palästinensische Bustaxen. Auf der nur kurzen Fahrt ins Zentrum zeigte sich uns der israelisch-palästinensische Konflikt von Angesicht zu Angesicht in Form einer Gruppe gewaltbereiter Jugendlicher am Straßenrand.
Und dann endlich war es soweit: Jerusalem – eine Stadt in der…
- über 3000 Jahre Geschichte beheimatet sind.
- die drei abrahamitischen Weltreligionen in all ihren Gruppierungen auf engstem Raum aufeinandertreffen.
- mit der Grabeskirche das höchste Heiligtum der Christen steht, welche von 6 Konfessionen zum Teil heiß umkämpft, beansprucht wird. (Die Folge: der Schlüssel für die einzige Eingangstür wird seit Generationen von einer muslimischen Familie verwaltet.)
- der viel umkämpfte Tempelberg den Juden als heiligster Ort und den Muslimen als Haram und drittwichtigster Ort gilt.
- Juden nur unter Polizeischutz auf den Tempelberg steigen und mit „Allahu Akbar“ den gefühlten Status Quo vor Augen geführt bekommen.
- Chagall-Fenster in einer Synagoge (die sich in einem Krankenhaus befindet, welches nahtlos in ein Einkaufszentrum übergeht) zu bewundern sind.
- der es gefühlt mehr Sicherheitspersonal als Bevölkerung gibt.
- man sich die Gassen der Altstadt dieser Tage nach Sonnenuntergang einzig mit dem israelischen Militär teilt.
- die politischen und religiösen Spannungen so deutlich hervortreten, wie an keinem anderen Ort. in der die Integration jüdischer Neueinwanderer groß geschrieben wird.
- wir einen Ort des Gesprächs mit Israelis, Palästinensern und einer jüdischen Siedlerin zu Fragen des Konfliktes und der Zukunft Israels fanden.
- die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft die Menschen trotz kontradiktorischer Sichtweisen und Forderungen „eint“.
Von Jerusalem aus südöstlich haltend fuhren wir durch die karge Landschaft der judäischen Wüste, vorbei der En-Gedi Oase bis sich vor uns ein 440m hoher Tafelberg erhob. Auf diesem ließ Herodes zwischen 36 und 30 v. Chr. die riesige Festungsanlage Massada (heute UNESCO – Welterbe) errichten. Nach der Eroberung Jerusalems im Jahr 70 durch die Römer war Massada das einzige noch verbliebene jüdische Widerstandsnest und den Römern ein Schandfleck auf der Landkarte. Nach drei Jahren vergeblicher Belagerung musste die Festung schließlich militärisch bezwungen werden. Der heute stark angezweifelten Überlieferung nach sollten nahezu alle 960 Menschen in der Festung einen kollektiven Selbstmord der Versklavung durch die Römer vorgezogen haben. Heute ist Massada ein Sinnbild für die Herausforderungen der „Sternchenstellung“ Israels in der arabischen Welt. Der beherzte Widerstand der Rebellen von damals, dient den Israelis von heute als Vorbild dafür, sich niemals zu ergeben und stets für ihre Freiheit einzustehen. So nimmt es nicht Wunder, dass israelische Rekruten zwischen 1965 und 1991 unter dem Schwur „Massada darf nie wieder fallen“ auf dem Tafelberg vereidigt wurden.
Auf dem Rückweg nach Jerusalem durfte ein ausgiebiges Bad im Toten Meer nicht gemisst werden. Es war befremdlich und schön zugleich gestandene Erwachsene, wie Korken im gefüllten Wasserglas, kichernd an der Oberfläche treiben zu sehen und selbst ein Teil davon zu sein. Das Bad im Meerschlamm versetzte uns zeitweise in wild und abenteuerlich anmutende Kindertage zurück. Dieses Erlebnis mit emotionalem Verjüngungseffekt erzielte wohltuende Entspannung, die wir nach all dem Wissenszuwachs und Eindrücken der letzten Woche dankend annahmen.
Das für mich eindrücklichste an der Reise war zweifelsohne der Besuch der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem ( „Denkmal und Name“) in Jerusalem. Ein Ort, der den unzähligen Opfern der Shoa mindestens ein Stück ihrer Identität zurückgeben möchte (Halle der Namen, Gedenkstätte für die Kinder), mahnend an das schier Unfassbare erinnert (Halle der Erinnerung mit der ewigen Flamme, Denkmal zur Erinnerung an die Deportierten) und den Gerechten unter den Völkern ein Denkmal setzt (Allee und Garten der Gerechten).
Den Abschluss des Besuchs bildeten die Gedenkminute sowie die Blumenniederlegung im Tal der Gemeinden, einem Ort an dem auf 107 Steinwänden der über 5000 jüdischen Gemeinden, die während der Shoa ganz oder teilweise vernichtet wurden, gedacht wird.
Anita Haviv sagte im Gespräch: „Das Einzige, was man dir nicht nehmen kann, ist dein Wissen.“ Wie treffend ihre Worte sind, zeigt sich mir seit meiner Rückkehr am 20. Oktober deutlicher als je zuvor. Viel hört und liest man ständig über den "Verbrecherstaat", das
"Unrechtssystem" sowie den „Aggressor“ Israel. Ausdrucksweisen, die sich nur mit Wissen und Einsicht kritisch reflektieren lassen. Denn genauso, wie sich „ein Tango nur zu zweit tanzen lässt“ (David Witzthum), ist auch die politische Lage Israels nicht allein auf Kosten eines Konfliktpartners zu beurteilen. Ich bin dankbar für das nun weitsichtigere Wissen, welches uns durch die Vielschichtigkeit der ausgewählten Referenten, Gesprächspartner und Streifzüge durch das Land zu generieren ermöglicht wurde. Ein Unterfangen, welches ohne die sehr gute Vorbereitung, Planung und Durchführung der Reise durch Frau Kluge von der SLPB sowie unserem israelischen Reiseleiter Itzik – ein wandelndes Lexikon mit dunkelschwarzem Humor – nicht zu denken gewesen wäre.