Ich bin Deutscher, zumindest auf dem Papier, denn geboren wurde ich in der ehemaligen Sowjetunion und meine Geburtsurkunde weist mich als Russen aus. Was bin ich also – ein Russe oder ein Deutscher mit Migrationshintergrund, wie es heutzutage so schön heißt?
Das ist eine spannende Frage, die so manchen verwirrt. Als ich vor mehr als 20 Jahren in Dresden meine Einbürgerungsurkunde überreicht bekam, tat das der Beamte mit den Worten: „Herzlichen Glückwunsch, jetzt sind Sie Deutscher!“ Meine Reaktion darauf (Äh, nein, eher nicht, ich bin nun zwar deutscher Staatsbürger, aber immer noch Russe...) hat ihn arg verwirrt. Auch meinen Versuch einer Erklärung, dass in Russland seit ewigen Zeiten Dutzende von Nationalitäten zusammenleben und dass viele dieser Menschen es einem schwer übel nehmen würden, wenn man sie als Russen bezeichnete, fand er zwar aufschlussreich, wollte sich jedoch nicht auf eine weiterführende Diskussion einlassen. Dabei ist das Verständnis dieses feinen Unterschieds zwischen Herkunft und Staatszugehörigkeit oftmals ausschlaggebend für die Beurteilung vieler politischer Ereignisse in der Welt.
Nähe und Betroffenheit
Auch ein zweiter Aspekt spielt eine nicht unwesentliche Rolle: Wie nah oder wie fern ist das betreffende Land uns gefühlsmäßig? Hand aufs Herz, können Sie guten Gewissens von sich behaupten, dass Sie ein Konflikt, sagen wir, in Usbekistan genauso berührt wie einer in Frankreich, Österreich oder Polen? Das ist auch nicht verwerflich, denn es ist ganz natürlich, dass uns die Dinge stärker berühren, zu denen wir eine wie auch immer geartete emotionale Bindung haben. Hätten Sie z.B. lange in Usbekistan gelebt, würde Ihr Interesse für die Ereignisse dort ein ganz anderes sein.
Mir geht es genauso. Schließlich habe ich meine Kindheit und Jugend in der Sowjetunion verbracht, habe nicht nur in Russland, sondern auch in der Ukraine, in Weißrussland und einer Reihe anderer Nachfolgestaaten der UdSSR Verwandte und bis heute gute Freunde. Deshalb habe ich auch die Ereignisse der letzten Jahre in der Ukraine mit etwas anderen Augen wahrgenommen als die hier geborenen Deutschen.
Alle wünschten sich Veränderung
Vor den Ereignissen des Maidan 2014 war ich stets mehrmals im Jahr in der Ukraine gewesen, habe dort ganz verschiedene Menschen getroffen – Politiker, Kulturschaffende, Beamte und natürlich ganz normale Bürger. So konnte ich aus unterschiedlichen Perspektiven erleben, wie die Menschen dort denken und fühlen. Eines kam dabei klar zum Ausdruck: Die Unzufriedenheit mit dem Regime von Janukowitsch, mit der allgegenwärtigen Korruption, die das Leben in allen Bereichen dominierte, war mehr als offensichtlich. Alle wünschten sich Veränderungen...
Aber an einen bewaffneten Konflikt, einen Bruderkrieg, hat meines Erachtens nach niemand gedacht, nicht einmal in den schlimmsten Träumen.
Dennoch ist es gerade so gekommen und wir fragen uns heute: Warum? Wie konnte das geschehen? Worin liegen die Ursachen? Die Antwort darauf zu finden, fällt schwer, sehr schwer, denn irgendwie hat jeder seine eigene Wahrheit... Verfolgt man die Medienberichte über den Ukrainekonflikt, so wird schnell klar, dass hier in Deutschland ganz anders darüber berichtet wird als in der Ukraine und in Russland wieder anders. Hinzu kommt, dass es in jüngster Zeit in den Medien recht still um die Ukraine geworden ist, die interessierte Öffentlichkeit erfährt nur hier und da einzelne Meinungen, eine wirkliche Analyse dessen, was auf dem Maidan, in Odessa, Mariupol und im Donbass geschehen ist und geschieht, steht noch aus.
Das hat seine Auswirkungen auf die Positionen der Menschen. Fragt man heute jemanden auf der Arbeit, im Zug oder Restaurant nach seiner Meinung zur Ukraine, warum dort ein Teil des Landes mit dem anderen im Krieg steht und wie der Konflikt wohl zu lösen sei, erntet man zumeist nur ein Schulterzucken.
Augenzeugen berichten
Um der Frage nach dem WARUM nachzugehen, habe ich mich an Augenzeugen der Ereignisse von vor zwei Jahren in der Ukraine gewandt, die aus verschiedenen Motiven heraus heute in Deutschland Zuflucht gesucht haben.
Meine Gesprächspartner sind Denis L., ehemals Abgeordneter der Kreisrada aus Shmerinka, Gebiet Winniza, Denis A., Journalist von der Krim, Grigori R., ehemals Mitarbeiter des Instituts für strategische Initiativen, und Inga B., Redakteurin der Zeitschrift „Berlinskij Telegraf“, deren Angehörige in Sewastopol (Krim) leben.
Frage: Wie haben Sie den Beginn des bewaffneten Konflikts in der Ukraine erlebt und worin sehen Sie die Ursachen?
Denis L.: Der bewaffnete Konflikt war das Ergebnis einer Entwicklung, die unmittelbar nach dem Maidan ihren Lauf nahm. Schon ein bis zwei Wochen nach dem Maidan traten in verschiedensten Regionen der Ukraine gut organisierte und bemerkenswert gut bewaffnete militärische Einheiten auf den Plan, die Rathäuser und andere wichtige öffentliche Gebäude besetzten. Ihr Ziel war klar: Sie wollten die unter Janukowitsch gewählten Machtorgane und Abgeordneten absetzen und an deren Stelle ihre eigenen Leute installieren. Auch in unseren Stadtrat drangen damals solche bewaffneten Formationen ein und forderten uns auf, alle Ämter niederzulegen und vor laufender Kamera unsere „Verbrechen“ gegen das Volk unter der Regierung von Janukowitsch zu „bereuen“. Um es klar zu sagen, das waren keine Soldaten der regulären ukrainischen Armee, auch keine Miliz.
Frage: Wie war das möglich? Wo waren denn die Sicherheitsorgane, die Miliz und letztlich auch die reguläre Armee?
Denis L.: Eine Armee hatten wir zu dem damaligen Zeitpunkt de facto gar nicht mehr. Selbst in den Wehrkreiskommandos gab es nur noch ein paar Leute, die auf die dort befindlichen Unterlagen aufpassten. Aber im eigentlichen Sinne tätig und einsatzbereit war die Armee schon lange nicht mehr. Die Milizbehörden hatten noch unter Janukowitsch die Anweisung erhalten, gegen Protestaktionen nichts zu unternehmen. Und nach dem Maidan war die Miliz überhaupt demoralisiert und mischte sich eigentlich nicht mehr in das Geschehen im Lande ein.
Denis A., Grigori P.: Ergänzend muss man hier hinzufügen, dass es insbesondere im Donbass anders war. Dort stellte sich die örtliche Miliz den aus der Westukraine eintreffenden militärischen Formationen entgegen und hinderte sie daran, die Gebäude der gewählten Machtorgane zu besetzen. Dort wurde also die gewählte Verwaltung nicht abgesetzt, auch nicht die Organe der Staatssicherheit, des Innenministeriums usw. Bald schlossen sich auch örtliche Selbstverteidigungseinheiten oder Bürgerwehren dem Widerstand gegen die aus dem Zentrum entsandten Truppen an. Sie erhielten starke Unterstützung von breiten Kreisen der Bevölkerung, besonders nach dem übereilten Beschluss der Rada über die Abschaffung des Gesetzes über die Sprachpolitik, drohten dadurch doch starke Einschränkungen der russischen Sprache bis hin zum Verlust des Arbeitsplatzes für viele, die Ukrainisch nicht in ausreichendem Maße beherrschten.
In großer Sorge
Inga B.: Auch in Sewastopol und überhaupt auf der Krim war die ukrainische Sprache nicht sonderlich verbreitet. Im Gegenteil: Aushänge in den Städten, Zeitungen, ja die gesamte Kommunikation lief auf Russisch. Sehr viele Einwohner unserer Halbinsel betrachteten und betrachten sich als Russen. Die Bilder von ekstatisch springenden Jugendlichen aus der Westukraine mit ihren Rufen „Wer nicht springt, ist ein Moskal (abwertende Bezeichnung für Russen)“, die dauernd im Fernsehen gezeigt wurden, und die sich mehrenden Nachrichten über Verfolgungen von Russen in verschiedenen Gebieten der Ukraine, versetzten die Krimbewohner in große Sorge.
Miliz und Sondereinheiten auf der Krim, die mehrheitlich aus Russen bzw. russischsprechenden Personen bestanden, stellten sich auf die Seite der rechtmäßig gewählten Machtorgane. Die Krim bereitete sich darauf vor, ihre eigenen Interessen zu verteidigen.
Frage: Möchten Sie damit sagen, das die Ostukraine und die Krim das Janukowitsch-Regime verteidigt haben?
Denis L.: Nein, ganz und gar nicht. Das Janukowitsch-Regime wurde von der überwiegenden Mehrheit der Bevölkerung abgelehnt. Aber als dann von Seiten der bewaffneten Formationen der neuen Macht offenkundiger Terror ausging, als man den Menschen eine ganz bestimmte Sichtweise auf die Ereignisse in der Ukraine und die Entwicklung der Gesellschaft insgesamt aufzwingen wollte, sahen der Osten der Ukraine und die Krim für sich einfach keinen Platz in dieser Entwicklung.
Keinerlei Unterstützung
Denis A.: Es ist ja allgemein bekannt, dass Janukowitsch selbst aus dem Donbass stammte und dass er seine Leute überall in der Ukraine, auch auf der Krim, eingesetzt hatte. Aber selbst bei uns hatte er keinerlei Unterstützung.
Alle: Das Land wollte ein Referendum über die künftige Entwicklung des Landes. Man hatte Millionen von Unterschriften dafür gesammelt, aber alles war umsonst... In alle Regionen des Landes schickte man Leute der Neuen Macht. Das erste Blut floss nicht etwa für den Erhalt des Regimes Janukowitsch, sondern für den Erhalt unserer gewählten Vertreter. Später kam es dann zu einer Art Kettenreaktion: Je mehr Druck ausgeübt wurde, umso intensiver wurde der Widerstand.
Frage: Und wie könnte man nun diesen Konflikt beilegen? Gibt es irgendein Szenario, das den Krieg beenden könnte?
Übereinstimmende Meinung aller:
Heute gibt es zur Föderalisierung der Ukraine keine Alternative mehr. Wenn die bewaffneten Formationen und die ukrainische Armee heute Donezk, den Donbass einnehmen würden, käme es zu unvorstellbaren Säuberungsaktionen. All jene, die am Widerstand gegen die Zentralmacht beteiligt gewesen waren, würden extrem hart bestraft werden. In sämtlichen Führungspositionen würde ein Personalwechsel stattfinden. Mehr noch, die meisten Lehrer insbesondere für geisteswissenschaftliche Fächer würden entlassen werden. Die Chancen für Russen, sich ihre ethnische Identität zu bewahren, stünden sehr schlecht. All dies würde neuen Widerstand erzeugen, der – da die Büchse der Pandora ja nun einmal geöffnet war – noch härter und noch blutiger ausfallen würde.
Schon heute sind viele Bewohner der Westukraine der Ansicht, dass dieser Krieg nicht ihrer sei. Die männliche Bevölkerung, vor allem Vertreter der Minderheiten, sucht immer öfter Zuflucht in den Nachbarländern, auch in Deutschland.
Mehr als subjektive Meinungen
Was sagen uns nun die Antworten meiner Interviewpartner? Ganz bewusst habe ich diesen Beitrag mit den Worten eingeleitet ein Russe zu sein und auch nach vielen Jahren in Deutschland noch in vielerlei Hinsicht wie ein Russe zu fühlen. Würde es Ihnen anders gehen? Würden Sie aufhören, wie ein Deutscher zu fühlen, wenn Sie z.B. längere Zeit in China leben würden? Sie würden sich anpassen, klar, aber kann man die Werte, die man in der Kindheit und Jugend erfahren hat, jemals ganz vergessen? Ich glaube nicht. Und ebenso geht es vielen Russen in der Ukraine, geht es auch Ukrainern, die ihr eigenes Land plötzlich nicht mehr wiedererkennen. Deshalb sollten wir uns diese persönliche Dimension bei der Bewertung von Ereignissen in fremden Ländern stets vor Augen führen und uns vor einseitigem Schwarz-Weiß-Denken hüten.
Wer hier z.B. eine Analyse der Rolle verschiedener Staaten oder verschiedener Gruppierungen von Freiwilligen in diesem Konflikt vermisst, dem sei gesagt, dass das den Rahmen eines solchen Beitrags einfach sprengen würde. Deshalb wurde es hier bewusst außen vor gelassen. Das Interview gibt vielmehr die subjektiven Meinungen unterschiedlicher Menschen wieder, die dem Autor begegnet sind.