Eine Folge unseres medialen Zeitalters besteht darin, dass oft alltägliche Ereignisse mit Superlativen versehen werden, die diese häufig nicht verdienen. Wirtschaftliche Einbrüche stellen sofort eine schwere Krise da und eine diplomatische Unstimmigkeit ruft augenblicklich Assoziationen zum Kalten Krieg hervor. Katastrophe, GAU und Desaster sind nur weitere Beispiele wie in dieser schnelllebigen Zeit versucht wird, sich die Aufmerksamkeit der Massen zu sichern. Die inflationäre Verwendung derartiger Begriffe birgt jedoch die Gefahr, die wirklich einschneidenden Ereignisse unserer Zeit, vor dem Hintergrund einer allzu hysterisch agierenden Medienlandschaft, aus den Augen zu verlieren.
Das erfolgreiche Referendum über den Austritt Großbritanniens aus der Europäischen Union stellt ohne Zweifel einen Moment der jüngeren europäischen Geschichte dar, der es verdient, mit Superlativen verknüpft zu werden. Das Großbritannien vor dem Referendum ist nicht mehr dasselbe wie danach. Dabei hätte alles so einfach sein können.
War es eine wirtschaftlich gute Entscheidung?
Befürworter wie Gegner eines EU-Austritts haben sich in ihren jeweiligen Kampagnen sehr stark auf die ökonomischen Auswirkungen eines Brexits konzentriert. „Keine Beitragszahlungen an die EU, stattdessen mehr Geld für das staatliche Gesundheitssystem!“ „Weniger Bürokratie und Regulierung, um das Wirtschaftswachstum zu steigern!“ „Eine Begrenzung der Einwanderung aus EU-Staaten, um den Arbeitsmarkt zu entlasten!“ Dies sind die zentralen Versprechen der „Leave“-Kampagne. Das „Remain“-Lager hat in diesem Zusammenhang leichtes Spiel.
Im Economic Freedom Index 2016 belegt das Vereinigte Königreich den zehnten Platz, noch vor den USA und gehört somit zu einer der liberalsten Volkswirtschaften der Welt. Das Bruttoinlandsprodukt ist seit dem Beitritt zum europäischen Projekt kontinuierlich gewachsen. Die Arbeitslosigkeit gehört zu einer der niedrigsten in Europa. Die Mitgliedsstaaten der Europäischen Union sind sowohl der größte Handelspartner als auch wichtigste Quelle für ausländische Direktinvestitionen. Und obwohl Großbritannien Nettozahler der EU ist, sind zum einen die Beiträge der Bundesrepublik und Frankreichs am europäischen Haushalt größer, zum anderen genießt kein Mitgliedstaat so umfangreiche Sonderrechte. Dazu kommen die schwierigen Langzeitprognosen, die je nach Art der zukünftigen ökonomischen Zusammenarbeit der beiden Partner unterschiedliche Ergebnisse erzielen. Im günstigsten Szenario, als Mitglied des EWR, prognostiziert das britische Finanzministerium einen langfristigen Rückgang des Bruttoinlandsproduktes von 3,8 Prozent im Jahr. Die erhofften Einsparungen werden durch den Wegfall europäischer Zuwendungen sowie sinkende Steuereinnahmen mehr als aufgebraucht.
Auf europäischer Seite werden die ökonomischen Folgen laut einer Studie des Global Counsel insbesondere für die Niederlande, Irland und Zypern schwerwiegende Auswirkungen haben, da diese Volkswirtschaften besonders stark mit der britischen vernetzt sind. Für die Europäische Union insgesamt, so die Prognosen, werden sich die wirtschaftlichen Kosten in Grenzen halten, da das Königreich nur ein Sechstel der Wirtschaftskraft ausmacht. Dennoch werden die Konsequenzen spürbar sein.
Innenpolitisches Chaos
Als besonders dramatisch könnten sich hingegen die politischen Folgen auf beiden Seiten des Ärmelkanals herausstellen. Sowohl der Rücktritt David Camerons als auch die innerparteilichen Spannungen in der Labour-Partei werden die beiden großen britischen Parteien auf absehbare Zeit beschäftigen. Unterdessen zeigt das Referendum die tiefe Spaltung des Vereinigten Königreichs jenseits der Parteienlandschaft auf. Die schottische Nationalpartei lässt ihren Versprechen Taten folgen und prüft die Möglichkeit eines weiteren Unabhängigkeitsreferendums. In Nordirland wächst die Sorge, dass der Austritt aus der Europäischen Union den religiösen Konflikt wieder anheizen wird. Weiterhin scheint das Referendum eine Kluft zwischen einer europaskeptischen Land- und der europafreundlichen Stadtbevölkerung aufzuzeigen. Darüber hinaus offenbart sich auch ein Generationenkonflikt. Unterstützen Wähler über 60 besonders stark das Lager der Austrittsbefürworter, so sind junge Wähler besonders proeuropäisch eingestellt, haben von ihrem Stimmrecht aber kaum Gebrauch gemacht.
Macht und Verhandlungen im zukünftigen Europa
Auch auf dem Kontinent zeichnen sich die ersten politischen Folgen ab. Ohne Großbritannien wird das Machtzentrum weiter nach Zentraleuropa wandern. Inwiefern die Bundesrepublik bereit ist, weitere Führungsfunktionen zu übernehmen und welche Reaktionen dieser Machtgewinn in anderen Mitgliedsstaaten auslösen wird, lässt sich noch nicht abschließend klären. Auch im Bezug auf die anstehenden Austrittmodalitäten existieren noch viele offene Fragen. Einigkeit scheint lediglich darin zu bestehen, den Austritt zu respektieren und möglichst schnell zu vollziehen. Wie hart die Verhandlungen schlussendlich geführt werden, um beispielsweise eine weitere mediale Ausschlachtung des Brexits durch europakritische Skeptiker zu unterbinden, wird sich in den nächsten Monaten zeigen. Im Moment scheinen die Zeichen eher auf Sturm zu stehen.
Eine Chance für Europa?
Allen aktuellen Entwicklungen zum Trotz zeigt der Brexit ein generelles Dilemma der Europäischen Union auf. Fragen jenseits rein rational-ökonomischer Aspekte spielten in den Kampagnen beider Lager keine Rolle. Umso stärker überraschte das Endergebnis, denn ein Blick auf die nackten Zahlen lässt ein Votum für den Brexit alles andere als attraktiv erscheinen. Folglich haben insbesondere die europakritischen Einstellungen weiter Teile der britischen Bevölkerung Einfluss auf die Abstimmung genommen. Derartige Meinungen lassen sich, etwa im Eurobarometer, auch in anderen Mitgliedsstaaten der EU wiederfinden, insbesondere in Westeuropa. Hier einen Gegenakzent zu setzen, der über ökonomische Angstszenarien hinaus geht, bleibt eine zentrale Aufgabe in den kommenden Jahren. Beschreibungen der EU als Friedensbündnis, Wertegemeinschaft und Wirtschaftsgemeinschaft scheinen sich in Teilen der europäischen Gesellschaft überlebt zu haben oder geben den interessierten Bürgerinnen und Bürgern nur wenig Anhaltspunkte über deren Ziele. Sofern europäische Integration mehr umfassen soll als eine ökonomische Dimension ist es zwingend erforderlich, deutlicher die politischen und sozialen Aspekte zu betonen. In der Tat ist eine solche Aufgabe wesentlich leichter zu benennen als zu lösen.
Vielleicht stellt der Brexit am Ende eine Chance für die Europäische Union dar. Seit ihrem Bestehen wird regelmäßig das Scheitern des europäischen Einigungsprozesses prognostiziert. Bisher ist es den Akteuren jedoch immer wieder gelungen, den Herausforderungen ihrer Zeit zu begegnen und neuen Gestaltungswillen zu entfalten. In den nächsten Wochen werden eine ganze Reihe spannender Entscheidungen zu erwarten sein, die nicht nur den Status Großbritanniens gegenüber der EU, sondern schlussendlich auch das Selbstverständnis der Organisation als solche berühren. Es liegt dabei nicht zuletzt an uns selbst, eine Antwort auf die Frage zu suchen, für was die Europäische Union in den kommenden Jahrzehnten stehen soll.